22
Wieder zu Hause träumte Patrick von einem Wecker, den er nicht abstellen konnte. Als sich Amys Ellenbogen, begleitet von einem durchs Kopfkissen gedämpften genervten Ausruf, der nach »Geh ran!« klang, zum zweiten Mal in seine Rippen bohrte, verließ Patrick schlagartig seine Traumwelt und stellte fest, dass der hartnäckige Traumwecker einen Komplizen in der Realität besaß: das Telefon. Er tastete blind auf seinem Nachttisch danach.
»Hallo.« Seine Stimme klang schwach und brüchig.
»Hi, Patrick. Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe.«
Wer war das? Amys Mutter?
»Audrey?«, sagte er.
Amy wälzte sich herum.
»Ja, entschuldigt den späten Anruf«, wiederholte sie, »aber Bob ist noch immer nicht zu Hause, und allmählich mache ich mir Sorgen.«
Patrick stützte sich auf einen Ellenbogen und schaute auf den Wecker. Die grünleuchtenden Ziffern waren verschwommen. Er blinzelte angestrengt, riss die Augen auf und sah erneut hin. Halb drei. Mitten in der Nacht.
»Vielleicht ging das Spiel in die Verlängerung«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen. »Die Besitzer lassen ihn für gewöhnlich bis weit über die Sperrstunde hinaus bleiben. Hast du im Gilley’s angerufen?«
»Ja, natürlich. Sie haben gesagt, er sei vor Stunden losgezogen.«
Patrick setzte sich auf und drückte den Lichtschalter. Er und Amy kniffen die Augen zusammen. Ein einziger Gedanke erfüllte jetzt seinen Kopf, und er fragte sich, ob Audrey ihn teilte. Wahrscheinlich war Untreue kein Thema für sie – in Audrey Corcorans wohlgeordneter Welt würde auch ein unmittelbar vor ihren Augen vollzogener Ehebetrug ebenso stillschweigend wie konsequent verdrängt, bis die Affäre sich auf wundersame Weise in Fiktion verwandelte –, und welche Alternative blieb dann noch übrig? Ja, Patrick war überzeugt davon, dass ihre Befürchtungen in dieselbe Richtung gingen. Was es ihm keinesfalls leichter machte, diese explizit anzusprechen, weshalb er das Telefon an Amy weiterreichte.
»Deine Mutter. Bob ist noch nicht zurück.«
Amy nahm das Telefon entgegen und richtete sich auf. »Mom?«
Amy hörte zu, sprach, hörte zu und sprach mit ruhiger und fester Stimme. Patrick beobachtete sie und dachte daran, wie der Kreislauf des Lebens sich schlussendlich vollendete. Nun hatte Amy die Mutterrolle übernommen; die Rolle der Versorgerin, den Posten derjenigen, die den Laden zusammenhielt. Andererseits hatte er schon seit jeher vermutet, dass Amy diese Rolle wohlbekannt war.
»Ruf die Polizei an, Mom«, sagte sie. »Es ist überhaupt nichts passiert, aber im Augenblick haben wir keine andere Wahl. Wahrscheinlich ist Daddy bloß in eine andere Kneipe gezogen, um nach dem Spiel weiter zu feiern.«
Patrick hätte gern gewusst, ob Amy selbst glaubte, was sie da sagte.
»Ruf einfach die Polizei an und erzähl ihnen, was du mir erzählt hast. Die kennen Daddy; ich bin sicher, dass sie ihn aufspüren werden.«
Das Telefonat ging eine Weile so weiter, und ab und an nickte Amy nachdrücklich, als könnte ihre Mutter sie sehen. »Es wird alles gut, Mom. Melde dich, sobald du was hörst. Daddy geht’s garantiert prima.«
Sie legte auf und richtete den Blick auf Patrick, dem seine dunklen Vorahnungen deutlich anzusehen waren.
»Was denkst du?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Ich habe Angst, es auszusprechen.«
»Was auszusprechen?«
»Ich bitte dich, Amy. Ich hab dir gesagt, dass er neulich abends nach Hause fahren wollte.«
»Mein Vater fährt besoffen von dieser Bar nach Hause, solange ich denken kann.«
Patrick entfuhr ein kritisches Schnaufen. »Und?«
Ihre Augen und ihre Miene verrieten, dass ihr dämmerte, wie schwach ihr Argument war. »Ich will damit nur sagen, dass mir diese Möglichkeit ziemlich unwahrscheinlich vorkommt.«
»Das hoffe ich ja ebenfalls, Schatz. Ich hoffe, er ist in einer anderen Bar. Nur … mir fällt sonst nichts anderes ein.«
Amy wandte den Blick ab. Sie fummelte nervös am Telefon herum und zuckte heftig zusammen, als es in ihrer Hand klingelte. »Mom?«
Patrick studierte das Gesicht seiner Frau eingehend – und betete, es möge weder erbleichen noch sich vor Trauer verzerren oder in Tränen ausbrechen. Was er wollte, war ein Lächeln, ein Seufzer der Erleichterung, ein: »Ich hab dir doch gesagt, dass alles in Ordnung ist, Mom.«
Stattdessen vernahm er nur ein weiteres: »Okay, dann ruf zurück, sobald du was hörst …«
Und plötzlich fiel es ihm ein, wie ein vergessener Songtitel. »Woodmere!«, platzte es aus Patrick heraus.
Amy Kopf fuhr zu ihm herum. »Wie bitte?«
»Sag ihr, sie soll die Polizei die Woodmere Road überprüfen lassen.«
»Mom, warte mal eine Sekunde.« Sie bedeckte den Hörer mit der Handfläche. »Wovon redest du?«
»Neulich abends, als wir zusammen unterwegs waren, meinte dein Vater zu mir, er würde uns über die Woodmere nach Hause fahren. Zumindest meine ich mich zu erinnern, dass sie so hieß. Kennst du eine Woodmere Road?«
»Ja – wobei die allerdings ziemlich weit ab vom Schuss liegt. Mit nichts als Wald drum herum und …«
»Genau das war der Punkt. Ich hab ihm gesagt, er solle nicht mehr fahren, weil man ihn anhalten könnte, und er winkte ab und meinte, es würde nichts passieren, wenn wir die Woodmere nähmen.«
Amy hob das Telefon wieder ans Ohr. »Mom? Ruf noch mal bei der Polizei an und lass sie die Woodmere Road kontrollieren.« Sie lauschte und sagte dann: »Weiß ich, aber würdest du es bitte einfach tun?« Sie hörte erneut zu. »Okay. Ich liebe dich. Ruf zurück.«
Patrick war gerade im Bad beim Pinkeln, als eine Stunde später das Telefon klingelte. Er verfluchte seine Blase und erhöhte den Druck seines Strahles, so weit es ging. Das Plätschern war so laut, dass er Amy im Schlafzimmer nur bruchstückhaft verstehen konnte.
Als er endlich fertig war, zog er seine Boxershorts hoch und eilte ins Schlafzimmer. Amy telefonierte noch. Sie sagte immer wieder in gepresstem Tonfall »okay« und beachtete Patrick, der mit erwartungsvoller Miene im Türrahmen stand, nicht weiter.
Endlich beendete sie das Gespräch mit einem Danke, sah Patrick an und sagte: »Mein Dad ist tot.«