54
Zuvor
Montagmorgen, sechs Uhr. Arthur Fannelli lag eng in eine Decke gewickelt auf seiner Pritsche. Ein schweres metallisches Dröhnen hallte durch den Gefängniskorridor. Er rollte sich zur Wand. Die Tritte von Uniformstiefeln kamen näher, bis sie vor seiner Zelle zum Stillstand kamen. Zweimaliges Klopfen mit dem Schlagstock gegen die Gitterstäbe.
»Raus aus den Federn, Fannelli. Heute ist ein großer Tag.«
Arty blieb in seine Decke eingepackt und warf einen Blick über die Schulter. »Haben Sie endlich den Hauptschulabschluss geschafft?«
Der Wachmann drehte den Schlüssel im Zellenschloss und stieß die Tür krachend auf. »Fannelli, ich habe wirklich kein großes Verlangen danach, schon wieder erklären zu müssen, wie du ausgerutscht und gestürzt bist. Ausgerechnet vor deinem ersten Auftritt vor Gericht.«
Arty rührte sich nicht und gab keinen Mucks von sich.
Der Beamte betrat die Zelle und fing an, das Metallwaschbecken mit seinem Schlagstock zu traktieren. »Letzte Warnung, Fannelli. Stehst du jetzt auf?«
Arty wälzte sich herum, schüttelte die Decke ab, setzte sich auf und gähnte. Er hatte sich bereits angezogen – den orangefarbenen Overall, den man ihm am Abend zuvor ausgehändigt hatte.
»So ist’s brav, Fannelli. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass du es kaum erwarten kannst, in diesen Gerichtssaal zu kommen, und dir von links und rechts in den Hintern treten …«
Arty sprang auf die Beine. Der Officer wich zurück und hob seinen Gummiknüppel. Arty feixte, drehte sich um und legte die Hände in Erwartung der Handschellen auf den Rücken.
Der Officer drückte Artys Gesicht gegen die Wand, als er ihm die Handschellen anlegte. »Ja – grins du nur, Arschgesicht.«
Der graue gepanzerte Bus, mit dem Arthur Fannelli zum Gericht transportiert wurde, fuhr über eine Bodenwelle und geriet leicht ins Schleudern.
»Hoppla! Vorsichtig, Jungs – ich hab’s nicht eilig«, rief Arty aus dem Käfig im Heck. Sowohl seine Hände als auch seine Füße waren gefesselt. Um den Maschendrahtkäfig herum saßen drei Polizisten – einer direkt davor, ein anderer weiter vorne im Bus, und der dritte war der Fahrer. Bis auf den Fahrer hielten alle eine Schrotflinte auf dem Schoß.
Der Officer vor dem Käfig starrte Arty an. »Wie kannst du dasitzen und lächeln?«
Arty zuckte mit den Schultern. Seine Fesseln schlugen klirrend zwischen den Knien gegeneinander. »Es ist einfach ein schöner Tag.«
Der Officer griente. »Ihr Missgeburten macht alle einen auf hart … bis sie euch wegsperren. Dann fangt ihr an zu flennen wie die Waschlappen, die ihr in Wahrheit seid.«
»Gesetzt den Fall, dass ich schuldig gesprochen werde«, sagte Arty.
Der Officer schnaubte. »Außerdem glaubt ihr alle, dass ihr ungestraft davonkommt. Geisteskranke Deppen.«
Arty bewahrte sein Lächeln.
Der Fahrer sah prüfend in den Außenspiegel. »Was zum Geier ist das?«, murmelte er.
Der Beamte, der in seiner Nähe saß, schaute aus dem Seitenfenster. »Was treibt sie da bloß?«
Arty reckte sich so weit vor, dass die Handschellen in seine Handgelenke und Knöchel schnitten. Er spähte durch die Frontscheibe und das Fenster zu seiner Linken und erhaschte einen Blick auf einen roten Sportwagen, der neben dem Bus auf der zweispurigen Landstraße beschleunigte. Er streckte sich einen Zentimeter weiter, sah nach unten und dort in der Straßenmitte keine gestrichelte Linie, sondern zwei durchgehende parallele gelbe Streifen. Überholverbot. Schließlich zog der rote Sportwagen an dem Bus vorbei, setzte sich davor und entschwand im Handumdrehen aus Artys Blickfeld.
Der Busfahrer trat auf die Bremse und drückte die Hupe. »Dämliche reiche Schlampen«, sagte er. »Haben es immer eilig, nirgendwohin zu kommen.«
»Solltest Gas geben«, sagte der Officer hinter ihm. »Ihrem blöden Arsch einen kleinen Stoß verpassen …«
Der Fahrer trat das Bremspedal durch und schrie: »MISTSTÜCK!«
Der Bus quietschte und schlingerte und wäre bei der Vollbremsung beinahe zur Seite gekippt. Der Officer vor dem Käfig wurde in den Sitz vor ihm geschleudert. Arty schaukelte heftig hin und her, und die Fesseln gruben sich tiefer in sein Fleisch.
Der Bus war jetzt endgültig zum Stillstand gekommen. Der Motor tuckerte im Leerlauf. Alle vier Männer – Arty eingeschlossen – atmeten schwer.
Der Officer im Heck sprach als Erster. »Scheiße noch mal, was war das denn?«
Der Beamte im vorderen Teil erhob sich und wandte sich zu seinem Kollegen um, die Flinte an die Brust gedrückt. »Irgendeine dumme Schlampe hat uns gerade böse geschnitten und ist voll auf die Bremse …«
Die Stirn des Officers explodierte.
Arty hörte drei weitere Knallgeräusche, jedes von einer kleinen aufwirbelnden Wolke aus Glas und Blut begleitet. Der Fahrer bekam eine Kugel in den Kopf. Der Officer am Käfig wurde in Kopf und Hals getroffen. Alle drei Männer waren auf der Stelle tot. Kein Zweifel.
Artys Atmen war ein unregelmäßiges Keuchen. Das war es. Es ging los. Auch kein Zweifel.
Eine nicht allzu heftige Detonation an der Schnauze des Busses ließ Arty zusammenzucken. Die Tür stand jetzt offen. Eine gertenschlanke Frau tauchte aus einer grauen Rauchwolke auf. Sie richtete eine Pistole auf den toten Fahrer und schoss erst ihm, dann dem Officer dahinter jeweils zwei weitere Kugeln in den Kopf. Mit besonnener Eile näherte sie sich Artys Käfig. Die Frau trug eine Sonnenbrille. Sie setzte sie kurz ab und zwinkerte Arty zu. Er grinste zurück.
Seine Schwester Monica bückte sich, ergriff den Schlüsselbund des toten Officers zu ihren Füßen, schloss erst den Käfig und dann die Handschellen und Fußfesseln ihres Bruders auf. Sie pumpte noch zwei Kugeln in den Beamten und überreichte die Waffe danach Arty, der dem Toten eine dritte verpasste. Bei der vierten Kugel musste Arty lachen.
Monica lächelte, nahm ihren Bruder bei der Hand und führte ihn zügig und zielstrebig den Mittelgang des Busses entlang nach draußen zu einem zerbeulten Dodge Dakota. Monica kletterte auf den Beifahrersitz und Arty auf die Rückbank. Im Fußbereich lag etwas, das wie ein Scharfschützengewehr aussah.
»Dad«, sprach Monica den Fahrer an. »Ich möchte dir deinen Sohn Arthur vorstellen.«