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Das Image war einst ein stattliches eingeschossiges Wohnhaus gewesen und schon vor langer Zeit seiner neuen Funktion entsprechend renoviert und umgebaut worden. Monica betrat den Salon um kurz nach drei. Ihre Haare waren rot, ihre Augen blau.
»Was kann ich für Sie tun?«
Monica trat zur Rezeption, hinter der eine einsame, freundlich lächelnde Empfangsdame stand. Ein kurzer Blick genügte Monica, um ihr Gegenüber einzuschätzen: Ende dreißig, brünett, keine auffälligen Merkmale, viel zu braun, viel zu viel Eyeliner, Klatschmagazin neben dem Terminkalender, das neueste Droid-Smartphone neben dem Magazin, kein Ehering. Zwei oder drei weitere missglückte Dates von platinblonden Haaren und Silikontitten entfernt.
Monica setzte ein freundliches Lächeln auf. »Hi. Ich bin kürzlich in diese Gegend gezogen und würde mich gerne ein bisschen umsehen.«
»Sehr gern.« Die Empfangslady überreichte Monica eine Broschüre. »Hier drin finden Sie unser komplettes Angebot.«
Monica nahm die Broschüre entgegen und tat so, als würde sie diese interessiert überfliegen, bevor sie der Frau den Rücken zudrehte und davonzog.
»Sollten Sie Fragen haben«, rief die Rezeptionistin ihr nach, »ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
Monica winkte dankend über die Schulter, war geistig jedoch schon ganz woanders. Sie glich den Grundriss, den sie im Kopf hatte, mit den räumlichen Gegebenheiten ab. Der Massagebereich war, wie sie sich erinnerte, weiter hinten zu ihrer Rechten jenseits des Empfangsbereiches. Sie schlenderte weiter, öffnete eine Tür mit dem Schild: Psst … Ruhezone und betrat ein Wartezimmer, das nichts als Klar- und Gelassenheit ausstrahlte. Eine Frau, lediglich mit einem weißen Bademantel bekleidet, saß in einem bequemen Sessel und hatte das Gesicht in einer Zeitschrift vergraben. Sie hob den Kopf und lächelte Monica an.
Monica lächelte zurück und flüsterte: »Warten Sie auf eine Massage?«
Die Frau nickte.
»Lana, oder?«, fragte Monica.
»Genau.«
»Ist sie gut?«
»Die Beste. Ich gehe nie zu einer anderen.«
Monica zog eine beeindruckte Miene, während die architektonischen Pläne vor ihrem inneren Auge vorbeizogen wie bei einem alten Mikrofilmlesegerät:
Nur eine Tür führt zum einzigen Massageraum. Des Weiteren siehst du den Notausgang ganz am Ende des Wartezimmers. Hinter dem Notausgang befindet sich der weniger glamouröse Teil des Salons – ein Müllcontainer, eine Wertstofftonne … der neue Transporter.
Du siehst die zweite Tür – die Duschen. Wichtig. Äußerst wichtig. Darin müsste es eine Verbindungstür zum Massageraum geben, damit die Kundinnen nicht erst durchs Wartezimmer laufen müssen, um nach ihrer Massage eine Dusche zu nehmen. Nach einer Massage fühlen die Leute sich derangiert und unsauber; man hat fettiges zerzaustes Haar und eine zerknautschte Visage wie kurz nach dem Aufwachen. So mag man der Welt nicht entgegentreten. Nicht ohne die verjüngende Wirkung einer heißen Dusche. Und umgekehrt sind viele verlegen oder gehemmt, wenn es um den eigenen Körpergeruch geht, weshalb die Duschen oft vor einer Massage frequentiert werden. Die Chancen standen gut.
Trotzdem musste sie das mit der Verbindungstür noch mal überprüfen.
»Gibt es hier eine Dusche?«, fragte Monica.
Die Frau bejahte und zeigte auf die zweite Tür.
Monica setzte eine bekümmerte Miene auf und deutete auf ihre (Perücken-)Haare, so als würde sie lieber sterben, als sich unfrisiert zu präsentieren. »Sie meinen, man muss erst hier durch, bevor man die Dusche betreten kann?«
»Nein«, sagte die Frau, die Monicas Anliegen sofort erfasst zu haben schien. »In Lanas Massageraum gibt es eine Verbindungstür zum Duschbereich. Die Fliesen dort sind wunderschön.«
»Zweifellos. Gibt es auch Spinde oder Schließfächer?«
Die Frau nickte.
Monica lächelte, bedankte sich, verließ den Warteraum und näherte sich wieder dem Empfang.
»Irgendwelche Fragen?«, erkundigte sich die Rezeptionistin.
»Es ist traumhaft«, war alles, was Monica sagte, ohne innezuhalten, während in ihrem Kopf erneut der Mikrofilmprojektor ratterte:
Der Eingang zur kosmetischen Gesichts- und Körperbehandlung müsste dort links sein – direkt neben dem Haupteingang.
Sie steuerte nach links.
Fünf Minuten später stand Monica wieder vor dem Empfangstresen. Die Rezeptionistin war mit ihrem Smartphone beschäftigt.
Er hat noch immer nicht angerufen, stimmt’s? Hättest dich wohl besser nicht gleich bei eurer ersten Verabredung vögeln lassen sollen, du blöde Schlampe.
Und dann kam ihr einer dieser reizenden Spontaneinfälle, die ihr so häufig die Arbeit versüßten. Sie benötigte ein Ablenkungsmanöver, bevor sie aufbrach. Sie hatte sich eigentlich schon etwas zurechtgelegt, aber diese neue Gelegenheit war schlicht unwiderstehlich.
Die Empfangsdame legte ihr Smartphone schnell auf die Theke zurück, als wäre sie von ihrem Vorgesetzten erwischt worden. »Also, was meinen Sie?«, fragte sie mit strahlendem Lächeln.
»Es ist absolut traumhaft«, wiederholte Monica. »Ich werde auf jeden Fall wiederkommen und einen Termin ausmachen …« Sie unterbrach sich und fixierte in gespielter Aufregung das Smartphone neben der rechten Hand der Rezeptionistin. »Ist das das neue Droid?«
Die Rezeptionistin nahm es und präsentierte es stolz. »Ja – ich hab’s erst letzte Woche bekommen.«
»Danach habe ich mich auch schon umgeschaut. Darf ich mal?«
»Klar.« Die Empfangsdame gab es ihr.
Monica beäugte es scheinbar neugierig, stützte die Ellenbogen auf den Tresen und stieß einen Ständer mit Broschüren um. Nicht wenige flatterten zu Boden. »Oh! Das tut mir so leid!«
»Ist okay, ist okay«, sagte die andere Frau und bückte sich hinter dem Tresen, um die Broschüren aufzusammeln.
Monica fand die gespeicherten Kontakte und auch die Nummer des Telefons selbst, die sie sich gut einprägte. Dann schaltete sie zurück auf das Startdisplay.
Die Rezeptionistin tauchte mit den Broschüren in den Händen wieder auf.
Monica tat beschämt. »Tut mir furchtbar leid«, versicherte sie neuerlich.
Die Rezeptionistin packte die Broschüren mit einem Lächeln in den Ständer zurück. »Alles in Ordnung. Überhaupt kein Problem.«
Monica hielt das Smartphone in der rechten Hand, genau in Blickrichtung der Empfangsdame. Unter dem Tresen wählte sie mit der linken Hand blind eine Nummer auf ihrem eigenen Handy.
»Hier, Ihr Telefon«, sagte Monica, als die Rezeptionistin alle Broschüren verstaut hatte. »Gefällt mir. Wahrscheinlich werde ich mir auch so eines zulegen.«
Die Lady nahm ihr Handy entgegen. »Danke. Wollen Sie gleich einen Termin vereinbaren?«
»Noch nicht. Ich will erst noch mal nach Hause und meine anderen Termine checken. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass ich wiederkomme.«
Die Rezeptionistin lächelte. Monica verabschiedete sich und ging Richtung Ausgang. Als Ablenkungsmanöver hatte sie geplant, die Rezeption auf dem Weg zur Tür anzuwählen, um so ihr Ablenkungsmanöver einzuleiten. Wenn es nicht funktioniert hätte, wäre sie leicht in der Lage gewesen, sich irgendwie herauszureden. Stattdessen wählte sie das Smartphone der Rezeptionistin an. Die unterdrückte Nummer auf der Bildschirmanzeige ihres Droids würde (vielleicht war ER es, von irgendeinem Privatanschluss bei der Arbeit aus!) Hoffnung und Aufregung hervorrufen … und Monica einen unbeobachteten Augenblick verschaffen.
Genau das geschah. Die Rezeptionistin schnappte nach ihrem Smartphone und drehte Monica den Rücken zu, bevor sie ranging. Monica öffnete die Eingangstür, damit es klang, als würde sie gehen, und schlich sich dann nach links zum Gesichts- und Körperpflegebereich. Unverzüglich brachte sie ihr Handy ans Ohr und hörte die erwartungsvolle Rezeptionistin wie eine gesprungene Platte sagen: »Hallo? Hallo? Hallo?«
Monica grinste und legte auf.