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Western Pennsylvania Hospital, Pittsburgh, Pennsylvania

Zwei Tage später

»Hey, Fannelli, sind deine Hände sauber?«

Arty Fannelli schenkte dem Officer keine Beachtung. Die letzte Woche hatte ihn gelehrt, dass die ihm für die Nachtschicht zugeteilten Beamten mitunter ziemlich geschwätzig sein konnten – und das nicht gerade auf die Wie-haben-die-Steelers-gespielt?-Art. Die von der Tagschicht waren auch nicht gerade zartbesaitet, steckten ihre Nasen jedoch wenigstens die meiste Zeit über in irgendwelche Zeitschriften.

»Hey!« Der Officer schnippte mit den Fingern. »Erde an Schwachkopf! Sind deine Hände sauber?«

»Den Witz kenn ich schon, Arschloch; ich werd dir garantiert nicht beim Pissen den Schwanz halten. Und nenn mich nicht Fannelli …« Dann, mehr zu sich als dem Beamten: »Ich habe keinen Nachnamen.«

Der Polizist erhob sich und trat gegen Artys Bettgestell. »Pass besser auf, wen du Arschloch nennst, Fannelli. Wir wollen doch keinen weiteren ›Unfall‹, oder?«

Auf seinem Weg ins Badezimmer behielt der Beamte Arty ständig im Auge. Bei offen stehender Badezimmertür zog er seine Hose runter und gab sich extra für Arty einen Klaps auf die blanke Arschbacke, während er pinkelte.

Die Tür des Krankenzimmers öffnete sich, und eine Schwester trat ein, woraufhin sich der Officer hastig wieder die Hose hochriss. Arty grinste, als er einen vierteldollargroßen Fleck in dessen Schritt bemerkte. Der Beamte erwiderte das Grinsen mit einem stechenden Blick, der seine vorherige Drohung nachdrücklich unterstreichen sollte.

»Zeit für die Medikamente«, sagte die Krankenschwester.

Der Officer grunzte, nahm auf seinem Stuhl neben dem Krankenbett Platz und steckte seine Nase in eine Ausgabe von Sports Illustrated.

Die Schwester verabreichte Arty seine Medikation und kontrollierte rasch seine Verletzungen. Trotz der speziellen Natur ihres Patienten tat sie es ruhig, routiniert und weder besonders grob noch freundlich. Vor wenigen Tagen hätte Arty die attraktive Schwester noch mit einem anzüglichen Kompliment bedacht. Seit er jedoch herausgefunden hatte, wer er und sein Bruder wirklich waren, hatte die Lust an solchen Spielchen und die Anzahl entsprechender geschmackloser Bemerkungen erheblich nachgelassen. Artys wurde nun in erster Linie von Wut beherrscht.

»Haben Sie noch Schmerzen?«, fragte sie.

Arty nickte nur, und die Schwester zog ab.

Der Officer legte seine Zeitschrift weg. »Ich hätte da eine Frage, Fannelli. Stimmt es, dass eine Frau deinem Bruder den Arsch versohlt hat?« Sein Grinsen war außerordentlich breit. »Wie man hört, hat sie ihm eine Nagelfeile in die Eier gerammt.« Er griff nach seinen eigenen und winselte. »Was für ein Schlappschwanz muss man sein, um zuzulassen, dass eine Frau einem das antut?«

Arty schwieg und wandte den Blick ab, was den Beamten noch mehr anstachelte.

»Warum hast du auf deine Mutter geschossen, Fannelli? Hat sie dir ebenfalls den Arsch versohlt?«

»Sie ist nicht meine richtige Mutter«, teilte Arty der Wand mit.

»Ja, aber das hast du zu dem Zeitpunkt nicht gewusst, stimmt’s?« Der Officer kicherte, bevor er weitersprach. »Du hast sie sehr wohl für deine echte Mom gehalten. Von nichts anderem hast du gelallt, als sie dich hergebracht haben, weißt du noch? Du und dein bescheuerter Bruder die leiblichen Sprösslinge netter Menschen? Liebevoll von ihnen großgezogen? Und weil ihr beide dennoch durchgeknallte Irre geworden seid, habt ihr euch für etwas Besonderes gehalten? Anlage versus Umwelt und all der Scheiß?«

»Halt die Klappe.«

Das Kichern des Beamten steigerte sich zu leisem Lachen; er brachte kaum mehr vollständige Sätze heraus. »Als … als was hast du euch doch gleich bezeichnet? Ausnahmen … Ausnahmefälle?«

»Schnauze.«

»Du hast gedacht … du hast wirklich gedacht, sie stecken dich in ein gemütliches Krankenhaus, damit die Seelenklempner deine dämonische Einzigartigkeit studieren können? Als wärst du der verdammter Hannibal Lecter oder so?« Der Officer bedeckte seinen Mund mit der Hand, um weiteres Lachen einzudämmen. »Also, jetzt mal im Ernst … Warum wolltest du deine Mutter erschießen, Fannelli?«

»Sie ist nicht meine richtige Mutter.«

»Weiß ich, weiß ich …« Der Polizist schüttelte amüsiert, aber auch leicht enttäuscht den Kopf, als hätte man ihm soeben mitgeteilt, dass er eine tolle Party verpassen würde. »Lieber Herr Jesus, was hätte ich dafür gegeben, dabei gewesen zu sein, als du es herausgefunden hast. Der Ausdruck auf deiner Fresse war bestimmt zum Schießen.« Er grinste. »Dennoch – als du auf sie geschossen hast, war sie für dich deine richtige Mutter. Was also war los, Fannelli? Oh, Augenblick … du hast sie ›erlöst‹, nicht wahr? Das jedenfalls hast du jedem erzählt, oder? Das arme Mütterlein leidet an Demenz, und du hältst es für das Beste, sie mit einer Kugel in die Brust zu ›erlösen‹?«

Arty erwiderte nichts und hielt die Augen starr auf die Wand gerichtet.

»Was war wirklich los, Fannelli? Hat deine Mutter rausgefunden, was du und dein ungezogener Bruder abgezogen habt, und den Rohrstock gezückt? Bist du feiger Sack so tief gesunken, dass du dich nur mit einer Knarre gegen eine alte Dame wehren konntest? Komm schon, Fannelli, spuck’s aus.«

»Ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht Fannelli nennen.«

»Okay, okay«, sagte der Beamte spöttisch. »Ist offenbar ein Reizthema. Wie soll ich dich denn dann nennen, Fannelli?«

Jetzt sah Arty dem Officer endlich unverwandt in die Augen. »Keine Ahnung. Wie heißt der Kerl, mit dem deine Frau gerade vögelt?«

Der Officer sprang auf und schlug Arty die Faust ins Gesicht.

Monica Kemp setzte sich eine schlichte Hornbrille mit Fensterglas auf, spazierte ins Western Pennsylvania Hospital und schlug den Weg Richtung Ostflügel ein.

Ihre Aufmachung als amtliche Krankenschwester war bis ins kleinste Detail akkurat: marineblauer Kittel, Namensschild, Turnschuhe, streng zum Dutt gebundene Haare, kurz geschnittene Fingernägel, Stethoskop um den Hals. Doch diese Requisiten, so entscheidend sie sein mochten, waren nicht der eigentliche Grund, weshalb sie zwischen den echten Angestellten nicht auffiel. Der lag an ihrem perfekten Schauspiel. Sie wusste, wann man zu lächeln und wann man den Blick zu senken hatte. Wen man ansprechen konnte und wem man besser aus dem Weg ging. Und wie man im Notfall spurlos wie ein Phantom verschwand. Die meisten Menschen sind darauf aus, Beachtung zu finden. Monica Kemp war eine Meisterin darin, sich unsichtbar zu machen.

Ihre Kontaktleute hatten ihr alles gesagt, was sie wissen musste. Auf welcher Station er untergebracht war, wann der Schichtwechsel stattfand, die Medikamente ausgegeben wurden und natürlich die Station, auf der seine Adoptivmutter behandelt wurde.

Maria Fannelli hatte in jener Nacht lebensgefährliche Verletzungen davongetragen. Den hiesigen Notfallmedizinern war es egal gewesen, dass sie sie in dasselbe Krankenhaus brachten, in dem der Sohn lag, der sie zu töten versucht hatte – dem Western Pennsylvania Hospital, der dem Haus der Fanellis am nächsten gelegenen Einrichtung, war aufgrund ihres lebensbedrohlichen Zustands keine andere Wahl geblieben, als sowohl Arthur wie auch Maria Fannelli zu beherbergen.

Monica war das mehr als recht. Zwei Fliegen, eine Klappe.

Arty hatte eine Hand über sein schmerzvoll pochendes Auge gelegt.

»Damit bist du noch gut weggekommen … verfickter Klugscheißer.« Der Officer zog seinen Hosenbund zurecht und warf sich in die Brust.

Die Tür ging erneut auf, und der Officer nahm auf seinem Stuhl Platz und griff sich die Sports Illustrated.

»Zeit für die Medizin«, sagte die Schwester auf ihrem Weg zu Artys Bett.

Der Beamte ließ das Magazin sinken. »Hä?«

Die Schwester hielt ihm ihren Rücken zugewandt. »Zeit für die Medizin«, wiederholte sie.

»Er hat seine Medikamente erst vor einer halben Stunde bekommen.«

Die Schwester warf einen Blick über die Schulter, wobei sie nur einen Bruchteil ihres Profils entblößte. »Anweisung des Arztes – dringende Behandlung wegen einer HTI

»Einer was

»HTI – Harntraktinfektion.«

Der Officer zuckte die Achseln und widmete sich wieder seiner Zeitschrift.

Die Krankenschwester reichte Arty ein dünnes Papiertaschentuch. »Nehmen Sie das.«

Arty sah die Schwester nicht an. Er runzelte lediglich die Stirn und nahm den Fetzen entgegen, auf dem eine kleine, aber deutlich lesbare Schrift zu erkennen war. Die Schwester setzte ihre Hornbrille ab, während Arty las:

Lies das hier schnell, und sei versichert, dass das, was ich schreibe, die Wahrheit ist. Sie werden für dein Unglück büßen. Das schwöre ich beim selben Blut, das durch unsere Adern fließt. Ich bin deine Schwester. Schon sehr bald werden wir unvorstellbar grausam Rache an denen nehmen, die es wagten, sich unserer Familie in den Weg zu stellen.

Hab Geduld, großer Bruder; unsere Zeit wird kommen.

Hochachtungsvoll,

Monica

Artys finstere Miene nahm einen hämischen Ausdruck an. Der Zettel war zweifelsfrei ein lahmer Scherz des Pflegepersonals. Endlich sah er zu der Schwester hoch, drauf und dran, das Taschentuch zusammenzuknüllen, es ihr ins Gesicht zu schmeißen und ihr zu sagen, sie solle sich verpissen. Doch was er erblickte, ließ sämtliche Luft aus seinen Lungen entweichen, sodass nicht mal genug für ein Röcheln blieb.

Was Arty da sah, war sein eigen Fleisch und Blut. Diese Gewissheit spürte er viel deutlicher als den Pulsschlag, der heftig in seiner Brust hämmerte. Die Frau hätte die Zwillingsschwester seines toten Bruders sein können.

Allmählich kam er wieder zu Atem und wollte etwas sagen, doch Monica legte eine Hand auf seinen Mund, zog ihm die Notiz aus den Fingern und schob das dünne Papier sanft zwischen seine Lippen.

»Los, nehmen Sie schon«, sagte sie und reichte ihm ein Glas Wasser. »Es ist nur zu Ihrem Besten.«

Arty zerkaute das Taschentuch hastig und spülte es mit einem Schluck Wasser hinunter.

Monica lächelte und beugte sich vor, als wollte sie sein Kissen aufschütteln. »Ich werde zur Telemetriestation rübergehen, wo anscheinend Maria Fannelli behandelt wird. Was soll ich deiner Ansicht nach tun?«, flüsterte sie, richtete sich wieder auf und starrte ihn an.

Zum ersten Mal seit Tagen zeigte Arty ein aufrichtiges Lächeln. Monica erwiderte es, nickte und verließ dann das Zimmer.

Arty pfiff eine Melodie.

»Sei verdammt noch mal still«, sagte der Officer.

Erneut lächelte Arty entspannt. »Jawohl, Sir.«

Als Monica hinausging, zwinkerte sie dem jungen Polizeibeamten zu, der vor dem Zimmer ihres Bruders postiert war. Er errötete, lächelte schüchtern und wandte schnell den Blick ab.

Das reinste Kinderspiel, dachte sie, setzte die Hornbrille wieder auf und machte sich Richtung Telemetrie auf.

Monica stand neben Maria Fannellis Bett. Im Raum war es dunkel und still, abgesehen von den Marias Herzschlag signalisierenden Piepstönen. Ihr Puls zeichnete sich als weiße Wellenlinien auf dem schwarzen Bildschirm ab.

Die Augen der Frau waren geschlossen. Ihr Mund stand leicht offen, und ihrem Rachen entfuhren vereinzelte Schnarchlaute. Ein Infusionsschlauch schlängelte sich von ihrem Arm bis zu dem entsprechenden Beutel, der an einer neben ihrem Bett stehenden Pumpe hing.

Monica hätte sie wahnsinnig gern geweckt. Sie wollte, dass die Frau mitbekam, was mit ihr geschah, wollte das Ganze auskosten, dieser Frau tief in die Augen schauen, während das Leben aus ihnen entwich. Schließlich war das hier etwas aufregend Neues – der erste Schritt auf dem Weg zur Vergeltung. Und welche Wonnen mochte dieser noch bereithalten?

Leider war dies nicht der richtige Zeitpunkt. Jahrelang geübte Disziplin und Beherrschung löschten solche lustvollen Gedankenspiele mit einem Schlag aus, und ihr Selbsterhaltungstrieb übernahm das Ruder. Sie war schließlich nicht in irgendeinem Privathaus, wo sie sich Zeit nehmen konnte.

Monica streifte sich Latexhandschuhe über, drückte den Stoppschalter der Infusionspumpe, zog eine Spritze aus ihrer Kitteltasche und injizierte durch den intravenösen Zugang eine tödliche und nicht nachweisbare Dosis Kalium in Maria Fannellis Armvene.

Monica hatte den halben Flur hinter sich gelassen, als sie über die Schulter zurückblickte und sah, wie eine junge Frau aus der Schwesternstation in Maria Fannellis Krankenzimmer eilte – garantiert in der Hoffnung, einer der vielen Monitore, die sie zu überwachen hatte, würde falsche Daten liefern, statt den Herzstillstand von Mrs. Fannelli anzuzeigen. Das Letzte, was Monica hörte, bevor sie das Krankenhaus verließ, war der Tumult, der den soeben ausgelösten Notfallalarm begleitete.

Als Monica ihren Wagen erreichte, hielt sie inne, zündete sich eine Zigarette an und blies befriedigt eine lange Rauchfahne in den dunklen Herbsthimmel. »Wiederbelebungsversuche zwecklos«, feixte sie. »Das war’s für die Schlampe.«

Sie stieg in ihr Auto ein und fuhr davon, als könnte sie kein Wässerchen trüben.

Arty schlief, als der Arzt das Zimmer betrat. Der diensthabende Beamte musste seinerseits gegen die Müdigkeit ankämpfen. Wiederholt fiel ihm der Kopf auf die Brust und fuhr daraufhin abrupt in die Höhe, als hätte jemand ihn erschreckt. Als der Doktor reinkam, sprang er übereilt auf die Beine und versuchte unauffällig, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben.

»Mr. Fannelli«, sagte der Arzt.

Arty rührte sich nicht.

»Mr. Fannelli«, wiederholte der Arzt.

»Nennen Sie mich nicht Fannelli«, antwortete Arty, ohne die Augen zu öffnen.

Arzt und Wachmann tauschten einen Blick aus. Letzterer zuckte die Schultern.

»Ich denke, Sie sollten wissen«, fuhr der Doktor fort, der offenkundig kein Interesse daran hatte, sich eine angemessenen Anrede für seinen Patienten auszudenken, »dass Ihre Mutter ihren Verletzungen erlegen ist. Wir konnten nichts mehr für sie tun.«

Der Arzt verließ den Raum.

»Bra-vo, Fannelli«, sagte der Officer und klatschte träge Beifall. »Deine Mutter ist tot … und du hast sie umgebracht. Das ist dann wohl dein finaler Sargnagel, meinst du nicht auch?«

Arty drehte sich trotz der Schmerzen, die durch die Bewegung in seinen Wunden verursacht wurden, vom Officer weg und auf die Seite.

Der Beamte grinste und setzte sich wieder. »Was ist los, Fannelli? Werden gleich die Tränen kullern?«

In Wahrheit musste Arty sich mit allergrößter Mühe ein Lachen verkneifen.