27

Die bescheidene Kirche in Harrisburg war bis an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit gefüllt. Bob Corcoran war in der Tat ein beliebter Mann gewesen. Der Trauergottesdienst war vorbei, und Amy verspürte leichte Schuldgefühle, als sie dachte, das Kondolieren nehme niemals ein Ende. Sie würde sich eine Million Beileidsbekundungen von einer Million Fremder anhören müssen, bevor sie heimkehren und ein wenig schlafen konnte. Unter den Trauergästen waren nicht wenige Bier-und-Whiskey-durchspülte Männer, auf deren grobporigen roten Kartoffelnasen-Gesichtern kein einziges Mal auch nur die Spur einer Ahnung zu erkennen war, dass es ohne Weiteres ihre eigene Asche in der Urne hätte sein können.

Patrick und Amy standen Seite an Seite, Eric und sein Freund, mit dem er seit inzwischen zehn Jahren zusammen war, neben ihnen. Carrie und Caleb wanderten mit den anderen Kindern in der Kirche herum, ohne jedoch mit diesen zu spielen. Ihre jungen Gemüter mochten Ernst, Schwere und Tragweite der Situation nicht wirklich erfassen, sie wussten aber offenbar instinktiv, dass dies kein Zeitpunkt zum Spielen war.

»Wie fühlst du dich, Liebling?«, fragte Patrick leise in Amys Ohr.

Sie hielten sich an den Händen, und sie drückte seine. »Müde«, flüsterte sie zurück.

Patrick sah sich die verbliebene Schlange an; sie war immer noch sehr lang. »Dein Dad war ein beliebter Kerl.«

Amy nickte nur.

Ein kahl werdender, großer, schwerer Mann kam auf sie zu. Patrick neigte seinen Kopf erneut zu Amys Ohr hinüber. »Das ist der Barkeeper vom Gilley’s«, sagte er.

Amy drehte dem Mann den Rücken zu. »Vielleicht sollte ich ihm danken, meinen Dad so abgefüllt zu haben, dass er sich umbrachte«, sagte sie zu Patrick.

»Schatz«, sagte Patrick erschrocken und ließ seinen Blick rasch durch die Kirche schweifen, um zu sehen, ob es irgendwer gehört hatte.

Amy reagierte darauf mit einem Mir-scheißegal-Schulterzucken, wandte sich wieder dem Barmann zu und ignorierte dessen Beileidsbekundung.

Die Schlange wurde und wurde nicht kürzer, da sich immer noch weitere Menschen am Ende anstellten. Amy schaute zu ihrer Mutter hinüber. Sie weinte nicht. Verweigerung? Verdrängung? Schockstarre? Endgültiger psychischer Knacks? Amy trat einen Schritt hinter Patrick und zupfte ihre Mutter am Ärmel. »Wie geht’s, Mom?«

Audrey Corcoran lächelte. »Eine wunderschöne Feier, nicht wahr? So viele Leute sind gekommen. Jeder hat deinen Vater geliebt.«

»Du darfst ruhig weinen, Mom«, sagte Amy.

Audrey schien fast entsetzt über Amys Anregung. »Ach, Amy, hör auf damit.«

Amy wusste, dass Patrick es mit angehört hatte. »Was zum Teufel soll das?«, flüsterte sie, als sie wieder neben ihm stand.

»Sie hat geweint, Schatz. Tagelang«, sagte er.

»Aber das hier ist seine Beerdigung

Patrick rieb ihr besänftigend den Rücken. »Jeder trauert anders.«

Amy ließ Patricks Worte auf sich wirken und betrachtete erneut ihre Mutter. Sie wirkte stolz und schien beinahe zu strahlen. Und auf gewisse Weise ergab das Sinn. Ihre Mutter lebte in einer Blase, in die kaum je etwas Negatives eindrang; das ließ sie einfach nicht zu. Wenn schlechte Nachrichten sie erreichten, fiel die Reaktion völlig automatisch ausnahmslos optimistisch sowie unangenehm nichtssagend aus.

»Alles wird gut, du wirst schon sehen, Liebling.«

»Ich bete jeden Abend für dich, Liebling, das wird schon wieder.«

»Oh je … was soll man machen? … es wird schon alles gut werden …«

Nachdem Amy und ihre Familie dem Martyrium von Crescent Lake entkommen waren, war es ihr Vater gewesen, der seinen Gefühlen freien Lauf gelassen hatte.

»Verfluchte Scheißkerle, hoffe, sie verrotten in der Hölle. Wollten mir meine Kinder nehmen …«

Audrey war überwiegend still geblieben, abgesehen von ihren hier und da geäußerten Floskeln. Den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit hatte sie ihren Enkelkindern gewidmet – vermutlich, weil diese nicht dazu imstande waren, ihre Blase zum Platzen zu bringen. Aufgrund ihres geringen Alters drohten von ihrer Seite keine Fragen oder Bemerkungen, die nach aufrichtigen Rückmeldungen verlangten. Sie ließen sich bereitwillig mit Zucker und Fernsehen ablenken. Genau wie Audrey.

Amy begriff, dass sich ihre Mutter keineswegs in einem Zustand des Verdrängens oder Schocks oder der geistigen Verwirrung befand. Sie war schlicht ganz sie selbst, in ihrer eigenen, realitätsfremden Welt lebend. Also griff Amy hinter Patricks Rücken erneut nach dem Ellenbogen ihrer Mutter. »Tut mir leid, Mom«, sagte sie. »Es ist eine wunderschöne Trauerfeier.«

Audrey schenkte ihrer Tochter ein Lächeln, als hätte sie soeben ein Kompliment für ihr Kleid erhalten, und wandte sich dann der nächsten Person in der Schlange zu.

Amy atmete tief ein, blies die Wangen auf und ließ die Luft langsam wieder entweichen. Ihr Blick fiel auf den großen Eichentisch am Ausgang, um den mehrere Leute mit entspannt-glücklichen Mienen standen und auf Fotografien ihres Vaters zeigten. Manche hatten sich vornübergebeugt, um etwas in das pompöse Kondolenzbuch zu schreiben, das Patrick gekauft hatte.

»Die Leute tragen sich ins Kondolenzbuch ein«, sagte sie zu ihrem Mann.

Patrick lächelte auf seine Frau herab und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Ein hünenhafter Mann baute sich vor Amy und Patrick auf. Er war ein bis zwei Zentimeter kleiner als der einen knappen Meter neunzig messende Patrick, übertraf sein Gegenüber jedoch hinsichtlich Schulterbreite und Brustumfang deutlich. In Amys Augen wirkte der große Mann, als fühle er sich in Anzug und Krawatte eher unwohl, doch das traf auf viele der anwesenden Männer zu. Im Gegensatz zu diesen, bei denen sich Knöpfe und Nähte über Bierwänste und Doppelkinns spannten, schien dieser Mann jedoch in der Lage zu sein, durch ein kurzes Spiel seiner Muskeln seine Kleidung sauber von seinem Oberkörper platzen zu lassen.

Der große Mann ergriff zunächst Patricks Hand. »Ihr Verlust tut mir sehr leid«, sagte er. Patrick dankte ihm, woraufhin der Hüne Patrick zu einer mächtigen Umarmung an sich zog und ihm kräftig auf den Rücken klopfte.

Patrick lachte und entwand sich auf höfliche Art den Armen des Mannes. »Woher kannten Sie Bob?«, fragte Patrick.

»Gilley’s«, lautete die Antwort.

Der Mann trat einen Schritt nach links und stand nun vor Amy. Er streckte seine Hand aus, und Amy nahm sie. Sie war fleischig und rau. »Es tut mir schrecklich leid«, teilte er ihr mit. Und dann fing der Mann plötzlich damit an, auf einem Fingernagel seiner freien Hand herumzukauen, wobei er eine angestrengte Grimasse schnitt. »Verzeihung«, sagte er, als er fertig war. »Eingerissener Nagel.«

Amy musste sich beherrschen, um ihn nicht irritiert anzuglotzen. Sie tauschte einen flüchtigen Blick mit Patrick, der genauso verblüfft dreinschaute. Der Hüne passierte die Warteschlange und entfernte sich.

»Eingerissener Nagel?«, flüsterte Patrick Amy zu.

»Daddys Freunde«, flüsterte sie zurück. »Er sah aus, als würde er sich in diesem Anzug ungefähr so wohlfühlen wie in einer Zwangsjacke.«

Patrick grinste. Und dann weiteten sich seine Augen, und er errötete. Amy sah sofort, was der Grund dafür war. Unter normalen Umständen hätte sie einen Anflug stechender Eifersucht verspürt, doch dieses Mal ließ Amy gegenüber ihrem Ehemann Milde walten. Die Frau, die vor Patrick stand, war atemberaubend. Amy stand selbst kurz davor, rot zu werden.

Die Frau streckte die Hand aus, und Patrick schüttelte sie. Dann legte sie auch ihre andere Hand auf Patricks. Sie blickte ihm tief in die Augen, und Patrick errötete erneut. Jetzt war Amy tatsächlich ein bisschen eifersüchtig.

»Ich bedauere Ihren Verlust zutiefst«, sagte die Frau. »Wirklich.« Sie hielt Patricks Hand umschlossen und starrte ihn ohne zu blinzeln eindringlich an.

Amy legte Patrick unverzüglich den Arm um die Hüfte und zog ihn zu sich heran. Meiner! »Woher kannten Sie meinen Dad?«, fragte Amy.

Die überirdisch schöne Frau gab Patricks Hand frei und wandte sich Amy zu. »Ich habe ihn ein paarmal bei Gilley’s getroffen«, sagte sie und bedachte Amy mit einem schlaffen Händedruck, der die Antithese von dem bildete, den sie Patrick gewährt hatte. »Mein aufrichtiges Beileid.«

»Danke«, sagte Amy mit einem aufgesetzten, flüchtig-schmalen Lächeln, das genauso auf das Wort »Schlampe« hätte folgen können.

Die Schönheit lächelte zurück, breit und aufrichtig und strahlend, bevor sie aus der Schlange trat und Richtung Ausgang schritt. Beim Kondolenzbuch hielt sie an, trug sich ein und ging davon.

»Du kannst deine Zunge jetzt wieder einrollen«, sagte Amy.

»Oh, hör bloß auf«, erwiderte Patrick.

»Du bist knallrot geworden.«

Eric beugte sich vor. »Wenn ich du wäre …«

Amy warf ihrem Bruder einen giftigen Blick zu.

Patrick griente Eric an und kraulte dann Amy im Nacken.

Sie schüttelte seine Hand ab. »Wie auch immer. Eines kann ich dir sagen: Eine Frau wie die verirrt sich nicht ins Gilley’s. Sie würde auffallen wie ein Victoria’s-Secret-Model auf einer Karnickelzüchtervereinstagung.«

Patrick lachte. »Vielleicht hatte dein Dad was mit ihr laufen.«

Amys Kopf wirbelte zu Patrick herum, und ihr finsterer Blick traf ihn wie ein scharfes Messer. Patricks Gesichtsausdruck belegte unmissverständlich, dass er seinen Ausspruch bedauerte; sein innerer Zensor hatte einmal mehr versagt. Sie liebte seinen trockenen Humor (und würde ihn immer lieben), aber sie war noch immer eifersüchtig auf die atemberaubend schöne Frau, und das hier war immerhin die Beerdigung ihres Vaters, Herrgott noch mal. Wäre es ein paar Monate später gewesen, hätte sie möglicherweise über seinen Witz gelacht oder zumindest gekichert. Aber in diesem Augenblick? Patrick hatte eindeutig eine Grenze überschritten, und so, wie er aussah – wie ein geprügelter Hund –, wusste er das auch. Und sie wusste, dass er es wusste. Und auch wenn sie nicht wirklich so sauer auf ihn war, würde sie ihn eine Weile schwitzen lassen.

»Entschuldige«, sagte er.

Sie schenkte ihm keinerlei Beachtung und sah ein weiteres Mal zu ihrer Mutter hinüber.

John Brooks und seine Tochter Monica Kemp (heute keine Verkleidung – makellose dunkle Augen, makelloses dunkles Haar und ein nicht zu auffälliges, aber dennoch verführerisches Kleid, das ihren makellosen Körper so eng umhüllte, als wäre er in schwarze Farbe getaucht) näherten sich einem zerbeulten Dodge Dakota, der auf dem Parkplatz der Kirche stand.

»Du hältst dich für ziemlich lustig, stimmt’s?«, fragte sie.

»Wieso?«

»Eingerissener Nagel?«

John nestelte an seiner Krawatte herum und lockerte sie. »Ich wollte sie eigentlich noch fragen, ob sie mir eine Nagelfeile leiht.«

Monica feixte. »Ist mir klar. Ich bin froh, dass du dich zurückhalten konntest. Das wäre sonst ein bisschen zu deutlich gewesen.«

Sie stiegen in den Dakota. Monica zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. »Das hat Spaß gemacht«, sagte sie.