11
Amy sah ihrem Sohn über die Schulter. Er hockte still da und starrte auf den kärglichen Rest Frühstücksflocken in seiner Schale. Sie küsste ihn auf den Scheitel. »Fertig?«, fragte sie.
Caleb nickte, woraufhin Amy die Schüssel zur Spüle trug. Normalerweise wäre dies für Caleb das Zeichen gewesen, sich vom Tisch zu erheben und für die Vorschule fertigzumachen. Stattdessen blieb er sitzen und glotzte stur auf die Tischplatte.
Amy bemerkte es und ließ die Schüssel ungewaschen in der Spüle stehen. Sie ging zu ihrem Sohn zurück und strich ihm über das kurze braune Haar. »Geht’s dir gut, Schätzchen?«
Caleb hatte inzwischen die Ellenbogen auf den Tisch gestellt und das Kinn in die Hände gelegt. Er nickte und senkte den Kopf noch tiefer, bis seine Handflächen seinen Mund bedeckten. Amy ergriff eine seiner Hände.
»So siehst du aber nicht aus«, sagte sie. »Was hat mein Kleiner denn für Sorgen?«
Sie ließ seine Hand los, die sich unverzüglich wieder auf sein Gesicht legte.
»Caleb?«
Er zuckte die Schultern.
»Bist du traurig wegen gestern Abend?«
Ein weiteres Achselzucken.
»Du weißt doch, dass Mommy und Daddy nicht böse auf dich sind, oder? Das haben wir dir gesagt.«
Caleb öffnete seine Hände einen Spaltbreit und hielt den Blick auf den Tisch gerichtet, während er sprach. Seine Stimme zitterte, als versuchte er krampfhaft, nicht zu weinen. »Carrie ist wütend auf mich. Sie sagt, dass ich ihr Albträume mache.«
Amy setzte sich und rieb ihrem Sohn beschwichtigend über den Rücken. Calebs Augen füllten sich mit Tränen, doch er vermied es nach wie vor standhaft, sie kullern zu lassen. Amy staunte über die Stärke ihres Sohnes. Sie war froh darüber, dass er seinen Kopf gesenkt hielt und deswegen nicht in der Lage war, die Andeutung des stolzen Lächelns um ihre Mundwinkel zu sehen und dieses womöglich falsch zu verstehen.
»Nein, Schatz, so hat sie das nicht gesagt.«
»Ich höre sie nachts schreien. Davon werde ich wach.«
Jetzt massierte Amy sanft seine Schultern. »Ja, Carrie träumt schlecht. Aber die Albträume haben nichts mit dem zu tun, was du mit Mommy angestellt hast.«
»Aber sie hat es doch gesagt.«
»Nein, Schatz, das hast du falsch verstanden. Carrie ist im Moment sehr durcheinander. Sie versteht nicht, warum du Mommy diesen Streich gespielt hast.«
»Es war ein dummer Streich …«
Amy zog Caleb an sich, und schließlich fing er zu weinen an. »Ist schon gut, Schätzchen«, sagte sie, während seine Tränen ihre Brust benetzten. »Mommy weiß, dass du ihr nicht wehtun wolltest. Und Daddy weiß das auch. Carrie ist einfach verwirrt … aber Daddy und ich werden heute Abend mit ihr reden und ihr helfen, die Sache zu verstehen.«
Seine feucht glitzernden braunen Augen sahen so vertrauensvoll und unschuldig zu Amy auf, dass es ihr fast das Herz brach. »Das macht ihr?«
Sie wischte ihm mit den Daumen die Tränen ab. »Auf jeden Fall. Alles wird gut, Liebling – das verspreche ich dir.«
Er brachte ein kleines Lächeln zustande, und Amys Herz schlug noch heftiger in ihrer Brust. »Wen hast du lieb?«, fragte sie.
Caleb wandte sich ab.
»Wen hast du lieb?«
Caleb drehte den Kopf noch weiter, aber sie konnte spüren, wie sein Lächeln breiter wurde. Sie schob sich langsam näher an ihn heran und ließ ihre Finger wie Spinnenbeine seinen Rücken hinaufkrabbeln. »Wen hast du lieb?«, flötete sie. Er begann zu kichern, und sie zog ihn an sich und kitzelte ihn. »Wen?«, fragte sie erneut. Das Lachen ihres Sohnes war pure Medizin.
Irgendwann quietschte Caleb ein »Dich« hervor, und Amy hörte mit dem Kitzeln auf, nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände, rieb ihre Nase in Eskimo-Kuss-Manier gegen seine und gab ihm schließlich einen Schmatz auf die Stirn. »Ich hab dich auch lieb, Schatz.« Sie zerzauste seine Haare. »Jetzt aber ab in die Vorschule.«
Amy war gerade mit dem Aufräumen der Küche fertig geworden, als sie das Geräusch hörte, mit dem sie schon viel früher gerechnet hatte. Sie lief zur Haustür und öffnete sie.
»Schau an, wer mich endlich wieder mit seiner Anwesenheit beehrt«, sagte sie.
Oscar, der üblicherweise mit seinem Stumpf wedelte und eine kurze Streicheleinheit über sich ergehen ließ, bevor er sich wichtigeren Dingen (hieß: Futter) widmete, schlich in gemächlichem Tempo herein, trottete durch die Küche an seinem Fressnapf vorbei und rollte sich im Wohnzimmer in seinem eiförmigen Hundebett zusammen, wo er kurz darauf wegdämmerte.
»Willst du mich auf den Arm nehmen?«, sagte Amy. Sie betrachtete seine Schüssel: eine vor nur wenigen Minuten frisch angerichtete, aus Trocken- und Nassfutter gemischte Portion – Oscars Leibspeise. Amy klatschte in die Hände. »Oscar! Komm her und friss.« Der Hund hob flüchtig den Kopf und sah sie an, bevor er wieder die Augen schloss.
Amy schob die Unterlippe vor. »Tja, das ist eine Premiere.« Sie zuckte die Achseln. »Ganz wie du willst. Es wird auf dich warten, bis du aufwachst.«
Amy hatte soeben Caleb an der Vorschule abgesetzt und war gute drei Kilometer von ihrem Haus entfernt, als ihr Handy klingelte.
»Hi, Baby«, sagte sie, als sie das Gespräch annahm.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte Patrick.
»Was?«
»Ich bin an einer Tankstelle im Stadtzentrum. Ich war fünf Minuten vom Büro weg, als die Kühlflüssigkeitsanzeige auf dem Armaturenbrett aufleuchtete.«
Amy konnte den Lärm der Tankstelle im Hintergrund hören. Ein Mann schrie einen anderen an. Ein Presslufthammer sirrte stoßweise. Sie drückte die Schulter gegen ihr freies Ohr. »Nun, das ist kein großes Ding, oder? Vielleicht ist der Pegelstand einfach zu niedrig.«
»Ich hab’s schon kontrolliert. Es ist nicht zu wenig Kühlmittel vorhanden, sondern gar nichts mehr. Der Typ von der Tankstelle meint, da ist ein Riss in meinem Schlauch.«
»Gestern Abend schien er mir noch in Ordnung zu sein.«
»Wann hast du …?« Er unterbrach sich mitten im Satz und seufzte.
Amy grinste. Eigentlich war ihr Ehemann der Experte, wenn es um anzügliche Zweideutigkeiten ging, aber ihre Laune war bestens, und sie hatte schlicht nicht widerstehen können. »Tut mir leid, ich konnte nicht anders«, sagte sie, während sie sich auf die Zunge biss und nach wie vor lächelte.
»Schon gut, ich hätte es genauso gemacht«, gestand er. »Aber ich muss das jetzt reparieren lassen.«
»Okay, das heißt …?«
»Es wird spät werden.«
»Liebling, ich bin sicher, dass sie Verständnis dafür haben werden. Ruf einfach im Büro an und oohh …« Amy verstummte, als sie das Ende der Einfahrt ansteuerte. Da war sie: eine Frostschutzmittellache vom Durchmesser eines Basketballs genau an der Stelle, an der der Highlander in der vorherigen Nacht geparkt hatte.
»Was?«
»Ich sehe die Pfütze. Die Gefrierschutzflüssigkeit. Am Ende der Einfahrt.«
Sie hörte ihn erneut seufzen. Dann wieder den schrill knatternden Presslufthammer. Dann eine Hupe.
»Der Schlauch muss auf dem Rückweg von Dr. Bogan gerissen sein. Und während wir schliefen, ist alles ausgelaufen«, sagte er.
»Die Pfütze ist dir nicht aufgefallen, als du heute Morgen losgefahren bist?«, fragte sie.
»Dir etwa?«
»Touché.«
Amy lenkte den Wagen in die Garage und schaltete den Motor ab. »Ist nicht schlimm, Baby. Ruf in der Arbeit an, sag ihnen, was passiert ist und dass du ein bisschen später kommst. Keine Staatsaffäre.«
»Hab ich schon.«
»Wie lange wird es dauern?«
»Nicht lange – es ist nur der obere Teil des Schlauches.«
»Prima – ruf mich an, wenn du im Büro bist. Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.«
Amy beendete das Gespräch und ging hinein. Das Erste, was ihr auffiel, war die Tatsache, dass Oscars Napf noch immer voll war. Sie trat ins Wohnzimmer. Er schlief noch immer in seinem Bettchen. Sie hockte sich hin und begann ihn zu kraulen. Seine Brauen hoben sich, aber er öffnete die Augen nicht. Sein Schwanzstumpf blieb unbewegt.
»Was ist los, Kumpel?« Sie kratzte ihn hinter den Ohren. »Letzte Nacht nicht genug Schlaf gekriegt?« Seine Augen öffneten sich endlich zu einem schwachen Schielen. Amy kraulte ihn weiterhin am Kopf. Er erhob sich, schwankte leicht, legte sich wieder hin und machte die Augen zu. »Zu viel wildes Nachtleben, Mister«, sagte sie. »Sie sollten die Sauferei ein wenig einschränken.«
Nach einem letzten zärtlichen Tätscheln ging sie rüber in ihr Arbeitszimmer. Sie sollte sich an die grausame Ironie dieses Witzes in jenem schmerzlichen Moment erinnern, in dem der Tierarzt Amy und Patrick mitteilte, woran Oscar gestorben war.