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Pittsburgh, Pennsylvania

Arty lag auf seiner Pritsche und las Fanpost. Er las diese Briefe nicht wegen seines Egos, sondern aus purem Vergnügen. Diese unbedeutenden charakterlosen Lemminge versuchten eine Verbindung zu ihm herzustellen, sich ihm auf Augenhöhe zu nähern, sich mit ihm zu identifizieren, als wären sie ihm ebenbürtige Spielkameraden. Lachhaft.

Arty hörte, wie sich ein Wärter näherte. Er legte den Brief auf seiner Brust ab und sah zur Uhr hoch. Zeit fürs Mittagessen.

Der Beamte erschien mit einem Tablett, auf dem ein Sandwich, eine Tüte Chips und eine kleine Packung Saft standen, vor Artys Zelle.

»Mittagsmahl, Fannelli.«

Arty knirschte mit den Zähnen. Zu seiner Schande traf es ihn immer noch tief, diesen Namen zu hören – und die Beamten wussten das genau. »Hören Sie«, hob Arty in ruhigem, geradezu höflichem Tonfall an, »es ist kein Geheimnis, dass ich es nicht schätze, bei diesem Namen genannt zu werden. Und ich kann mir vorstellen, dass es bei eurer Wenn-du-deinen-Namen-buchstabieren-kannst-hast-du-den-Job-Alltagsroutine selten zu intellektuellen Höhenflügen kommt. Aber wenn ihr Jungs in eurer nächsten Pause eure weitgehend hohlen Köpfe zusammensteckt, anstatt dem Kautabak und eurer latenten Homophobie zu frönen, fällt euch vielleicht was Originelleres ein.«

Der Officer erwiderte nichts. Seine Miene zeigte nicht den geringsten Anflug von Verärgerung. In aller Seelenruhe balancierte er das Tablett auf einer Hand, zog mit der anderen seine Unterlippe vor, um Arty den Tabakklumpen zu präsentieren, den er sich vor die Zahnleiste geschoben hatte, klappte Artys Schinken-Käse-Sandwich auf und platzierte eine saftige Portion braunen Tabakspeichel direkt in dessen Mitte, bevor er die obere Brotscheibe kräftig auf Schinken und Käse zurückdrückte.

»Guten Appetit«, sagte der Officer und ließ das Serviertablett auf dem Boden stehen, statt die Essensdurchreiche aufzuschließen und es in die Zelle zu schieben. »Ich würde mich beeilen, bevor es sich die Ratten holen.«

Arty fühlte sich nach seiner Schmährede sehr gut, und natürlich war er nicht so naiv anzunehmen, der Wachmann würde sie ihm nicht in irgendeiner Form vergelten. Doch er hatte Hunger, und bevor er sich beherrschen konnte, rutschte ihm ein »Schwanzlutscher« heraus.

Das nach und nach verklingende Klacken von Dienstschuhabsätzen auf Beton stoppte abrupt. Dann ertönte es erneut, wurde diesmal allerdings lauter und lauter, bis der Beamte wieder vor der Zelle stand. »Wie war das, Fannelli?«, sagte er.

In Arty brodelten Wut und Scham. Wütend war er aus naheliegenden Gründen auf den Officer, und die Scham rührte daher, dass er sich von dem Beamten auf dessen niedriges Niveau hatte herabziehen und zu einer derart primitiven Beleidigung wie Schwanzlutscher hinreißen hatte lassen. Das deutete auf Kontrollverlust, auf einen Mangel an Beherrschung hin – zwei seiner einzigartigen Fähigkeiten, die ihm so lebenswichtig waren wie Sauerstoff und Trinkwasser. Und dennoch waren merkwürdigerweise plötzlich die Gäule mit ihm durchgegangen. Was daran lag, dass er einen Volltreffer gelandet hatte. Ein einziges Wort hatte den Officer innehalten lassen. War das unter seinem Niveau? Ja. Primitiv? Ja. Aber letztlich lief es doch darauf hinaus, dass ein primitiver Angriff nach einem primitiven Konter verlangte. Also blieb er hartnäckig.

»Ich hab Sie Schwanzlutscher genannt«, sagte er mit freundlicher Stimme.

Als der Wachbeamte die Zelle aufzuschließen begann, wurde Arty mit einem Schlag bewusst, dass seiner grundlegenden Erkenntnis ein wichtiger Punkt fehlte: Ein primitiver Angriff mochte nach einem primitiven Konter schreien, aber ein primitiver Konter konnte schnurgerade wieder zu einem primitiven Angriff zurückführen. Anders ausgedrückt: Arty musste sich darauf gefasst machen, dass ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt wurde.

Als der Officer aus Artys Zelle trat, bückte er sich nach der Trinktüte auf dem Essenstablett, riss sie auf und verteilte ihren Inhalt auf dem Zellenboden.

»Siehst du, was passiert, wenn du deinen Saft verschüttest, Fannelli?«, fragte er. »Du rutschst aus und fällst hin und verletzt dich.« Er warf das leere Päckchen nach dem geschundenen Arty, der zusammengerollt wie ein Fötus auf dem Boden lag. Dann sperrte der Beamte die Zelle ab und schlenderte den Korridor hinab, wobei er eine fröhliche Melodie pfiff, die offenkundig eher für Artys als für seine eigenen Ohren gedacht war – eine perfide akustische Erinnerung daran, wie skrupellos er sein konnte, wenn es darum ging, jemanden zusammenzuschlagen.

Arty verharrte einen Augenblick lang in seiner fötalen Stellung, bis er sicher sein konnte, dass der Wachmann wirklich verschwunden war. Seine Haltung war keine der Feigheit oder Schwäche, sondern eine des Schutzes. Die ersten zwei Schlagstockhiebe hatten ihn ziemlich benommen zurückgelassen. Arty fürchtete Kopfverletzungen. Viele Serienmörder waren in ihren frühen Entwicklungsjahren am Kopf verletzt worden, was entscheidend zu ihrem Mangel an Triebkontrolle beigetragen hatte. Arty und sein verstorbener Bruder Jim waren von gänzlich anderem Kaliber. Sie hatten die völlige Kontrolle über sich. Serienkiller waren erbärmliche und schwache Kreaturen. Darum wurden sie auch früher oder später gefasst. Keine Triebkontrolle.

Dementsprechend hatte sich Arty, als er nach den ersten beiden Schädeltreffern Sterne gesehen hatte, unverzüglich zu Boden geschmissen, seinen Kopf bedeckt und den Restkörper ungeschützt gelassen, ein Angebot, das der Officer nur allzu gern angenommen hatte, ohne sich allerdings völlig gehen zu lassen. Der Mann war nicht dämlich genug, um einen simplen Ausrutscher und Sturz als hinreichende Ursache für den Zustand eines Insassen vorzubringen, wenn dieser aussah, als hätte er mindestens eine volle Woche Aufenthalt auf der Krankenstation nötig. Nach ein paar gezielten Schlägen war die Sache erledigt.

Langsam entrollte sich Arty und streckte sich dann auf seinem Feldbett aus. Sein Kopf pochte, seine Rippen stachen, und er wusste, dass es morgen noch schlimmer sein würde. Doch es waren bloß körperliche Schmerzen, die irgendwann nachließen und verschwanden. Das Gefühl von Hilflosigkeit schmerzte viel schlimmer – die Ohnmacht. Wäre Arty frei gewesen, hätten er und Jim den Officer mitten in der Nacht aus seinem Haus geholt, ihm sämtliche Gliedmaßen amputiert und schön langsam die Stümpfe kauterisiert.

Arty verfiel in eine leichte tagträumerische Trance, als er sich an einen ähnlichen Vorfall vor etlichen Jahren erinnerte. Ein Unglücklicher war als lebender Torso geendet, nachdem die Brüder fertig mit ihm gewesen waren. Als er wie ein Fisch auf dem Trockenen auf dem Boden herumgezappelt hatte, waren seinem Mund endlose Schreie um Gnade entfahren. Die Gnade war ausgeblieben.

Dann hatten sie die vollgedröhnte Nutte reingeholt.

Irgendwie hatte sie es hinbekommen, dem Gemarterten einen Ständer zu verschaffen.

Und danach hatten alle drei über den heulenden Torso mit der Erektion Tränen gelacht.

Jim hatte die Angelegenheit schließlich mit zwei Kugeln beendet; eine für den Torso, eine für die Nutte – weil die so gemein gewesen war.

»Sie war ein verdammt fieses Miststück«, hatte Jim grinsend zu einem entzückten Arty gesagt. »Der arme Kerl hat eine Latte und weder Arme noch Beine, und sie lacht sich kaputt, statt es zu Ende zu bringen.«

Ein Winkel von Artys Mund hatte sich zu einem leisen, nostalgischen Lächeln verzogen, als er sich das Vergangene ins Gedächtnis rief. Jetzt war es wieder verschwunden, woran zornerfüllte Trauer um seinen verblichenen Bruder die Hauptschuld trug. Doch was war mit seiner Schwester? Ihr plötzliches Erscheinen auf der Bildfläche war ein Geschenk des Himmels, doch er wusste noch immer nicht, was genau sie im Schilde führte. Diskretion und Umsicht waren fraglos das Gebot der Stunde, und während er nicht daran zweifelte, dass sie sich da draußen um Dinge kümmerte – seine falsche Mutter, Amys Vater –, fragte er sich, ob sie Pläne hegte, ihn zu befreien.

Und ach, sollte sie das tatsächlich tun …

Die Lamberts. Was er mit ihnen anstellen würde … Diesmal würde er die Kinder töten, keine Frage. Normalerweise hatten er und Jim Kinder verschont, oft als Mittel zum Zweck eingesetzt, um die Qualen der eigentlichen Opfer zu vergrößern, aber sie umzubringen hatte nicht in ihrer Absicht gelegen. Sie hatten eine Menge traumatisierter Waisen in ihrem Kielwasser zurückgelassen, und er nahm an, dass das im Zweifel ein schlimmeres Schicksal als der Tod war (dessen Endgültigkeit ihn völlig kaltließ), doch das gezielte Töten von Kindern war gegen ihre Regeln. Nicht aus Mitleidsgründen, sondern als Vorsichtsmaßname. Ermordete Erwachsene? Schrecklich. Furchtbar. Tragisch. Ermordete Kinder? Die Welt stand still. Kindsmörder wurden unweigerlich aufgespürt und gnadenlos bestraft. Auch der härteste und brutalste Häftling hielt sich an diesen Ehrenkodex.

Daher hatten sie keine Kinder getötet. Aber die Kinder der Lamberts?

Arty ballte seine Hand zur Faust, bis die Knöchel weiß hervortraten und die Fingernägel ins Fleisch seiner Handfläche schnitten. Jim war tot, und wenn seine Schwester tatsächlich vorhatte, ihn zu befreien (und in der Tiefe seines Herzens war er davon überzeugt), würde er einige neue Regeln aufstellen.

Er würde die Lambert-Kinder töten. Als Erste. Langsam. Und Amy und Patrick zwingen, zuzusehen – und wenn er ihnen dafür die Augenlider auf die Stirn nageln müsste.