10
Das morgendliche Gewitter hatte sich fast verzogen. Nur eine letzte dunkle Wolke dräute noch.
»Ich sehe den Bus! Abmarsch!« Amy stand an der geöffneten Eingangstür. Die blinkenden roten und gelben Lichter des Schulbusses waren über zwei Blocks hinweg zu erkennen.
Carrie hastete zur Tür. Ihr Rucksack, der größer als ihr Oberkörper war, brachte sie ins Schlingern. Die Pausenbrotdose klapperte gegen ihre Knie.
»Gib mir einen Kuss«, sagte Amy und beugte sich vor.
Carrie küsste ihre Mutter und eilte dann durch die Vordertür auf den Vorgartenrasen. Eine bellende pelzige Kugel schoss ihr hinterher und wuselte mit einer solchen Geschwindigkeit um ihre Beine herum, dass jeder einzelne ihrer Schritte von einer vollen Umrundung begleitet wurde.
Amy lächelte, als sie zusah, wie Oscar ihre Tochter in den Tag verabschiedete. Das war ihr Morgenritual.
Der Schulbus kam langsam herangekrochen und blieb schließlich stehen. Sein kleines Halteschild klappte an der Flanke auf wie eine Fischflosse, während das rote und gelbe Blinken wieder einsetzte. Die breiten, rechteckigen Türen falteten sich auseinander. Carrie tätschelte Oscar ein letztes Mal, winkte ihrer Mutter zum Abschied und kletterte an Bord.
Amy winkte ihrerseits dem Fahrer zu, der die Geste erwiderte. Sie beobachtete durch die Busfenster, wie ihre Tochter nach hinten ging und schließlich einen Platz fand. Die Lichter stellten ihr Blinken ein, die Stopptafel wurde eingefahren, und der Bus tuckerte mit arthritischem Rumpeln vorwärts und verschwand außer Sicht.
Amy pfiff. »Oscar! Willst du reinkommen oder draußen bleiben?«
Der Kopf des Hundes fuhr in Richtung seines Frauchens und drehte sich dann zurück zu einer sich nähernden Joggerin. Die blonde Frau trug eine graue Hose, Brille und Kopfhörer.
Unverzüglich flitzte Oscar auf die Frau zu und sprang an ihrem Bein hoch. Amy wies ihn von der Haustür aus lautstark zurecht, lächelte und gestikulierte der Frau entschuldigend zu. Die Frau lächelte zurück, signalisierte stumm, dass alles in Ordnung war, und bückte sich dann, um Oscar zu streicheln.
Amy rief Oscar erneut zu sich, diesmal nachdrücklicher, und endlich ließ der Hund die Frau in Ruhe, um sich auf seine gewohnte Inspektionstour um den vorderen Teil des Lambert-Grundstücks zu begeben.
Amy wartete einen Augenblick, bevor sie neuerlich seinen Namen rief (normalerweise hätte er längst sein Geschäft verrichtet und sich dann von selbst auf den Weg zum Frühstücksnapf gemacht). Als er nicht kam, zuckte Amy die Achseln und zog die Tür hinter sich zu – wohlwissend, dass Oscars penetrantes Jaulen in spätestens zwei Minuten unüberhörbar sein würde.
Oscar war schwer beschäftigt. Er hatte am oberen Ende der Einfahrt etwas höchst Sonderbares entdeckt. Etwas, das traumhaft duftete und himmlisch schmeckte. Er schlabberte die grüne Pfütze auf und pausierte nur, um die blonde Dauerläuferin in der grauen Jogginghose zur Kenntnis zu nehmen.
Die Joggerin hatte das Szenario aus einiger Entfernung beobachtet und gewartet, bis sich die Eingangstür der Lamberts schloss. Sie wusste, dass das Frostschutzmittel Oscar anlocken würde. Wusste, dass Amy an einem solch kühlen Morgen ins Haus gehen und die Tür zuziehen würde, falls der Hund nicht sofort zurückkäme. Sie wusste außerdem, dass sie sich nicht allein auf eine Pfütze Frostschutzmittel verlassen durfte. Ja, theoretisch genügten ein paar Esslöffel davon, um einen Hund umzubringen, aber sich auf das Glück zu verlassen, war nicht ihr Stil – in ihrer Branche setzte man auf Gewissheiten. Die Rolle der Pfütze bestand ohnehin nicht darin, den Hund zu töten. Die Pfütze war eher so etwas wie ein Ablenkungsmanöver. Ein Ablenkungsmanöver, das schließlich und endlich gewaltig nach Schuld stinken würde.
Und so ging die blonde Joggerin, während Oscar munter in der grünen Lache herumschleckte, auf der Einfahrt in die Hocke, begann den Hund zu streicheln, sah sich in alle Richtungen um, zog eine mit weiterem Frostschutzmittel gefüllte Spritze aus ihrer Tasche und injizierte sie Oscar ins Genick. Der Hund zuckte zusammen, schaute für den Bruchteil einer Sekunde leicht ungehalten auf und setzte dann sein Schlabbern fort. Die Dauerläuferin tätschelte Oscar den Kopf, steckte die Spritze wieder ein und ging ganz beiläufig davon.
Etliche Blocks und ein Stadtviertel weiter stieg die Joggerin in ihren Wagen, nahm die Brille, die blonde Perücke sowie die Kopfhörer ab und warf alles auf den Beifahrersitz. Bevor sie losfuhr, zündete sie sich eine Zigarette an.