35

John Brooks lag auf seinem Motelbett und schaute eine Naturdokumentation darüber, wie Krokodile ihre Beute belauerten und rissen. Unweigerlich stellte er Vergleiche zwischen diesen tödlichen Reptilien und sich und seiner Tochter an:

Das Krokodil gleitet, unbemerkt von seiner am Flussufer trinkenden Beute, unter der Oberfläche des trüben Wassers dahin. Das Krokodil kommt näher, immer noch unentdeckt. Es wartet so lange, bis der perfekte Augenblick gekommen ist. Der perfekte Angriff. Die perfekte Art zu töten.

Das war Monica.

Und dann schnappten die mächtigen Reptilienkiefer nach dem Beutetier, das sich so verzweifelt wie aussichtslos zu wehren versuchte – der Kampf, das Blutbad, das Massaker, der Rausch des Tötens, die Wonne des Zerreißens und Zerfetzens und Vernichtens des Opfers aus nächster Nähe …

Das war er. Das war John.

Natürlich waren er und seine Tochter keineswegs so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Was sie einte, war der bedeutsamste Wesenszug von allen: die Eigenschaft, sich ihrem Schaffen ganz und gar hingeben zu können, das, was sie waren, und das, was sie taten, aus vollstem Herzen zu leben. Auf bekloppte Küchenpsychologie, FBI-Persönlichkeitsprofile und den anderen Quark, der ihren Charakter und ihr Verhalten zu ergründen versuchte, konnten sie dankend verzichten. Sie waren hier, Ende der Geschichte. Dass sie auf Arthur und James gestoßen waren, hatte das noch eindeutiger belegt. Es lag ihnen im Blut. Johns Familie war auf dieser Welt, um Tod und Verderben über andere Menschen zu bringen – und dabei so viel Spaß wie möglich zu haben.

Ein Klopfen an der Moteltür riss John aus seinen Gedanken. Er hatte auf den Fernsehbildschirm gestarrt, aber seit Beginn seiner verschlungenen Selbsterkundungsreflexionen keines der Bilder wahrgenommen, die darüber hinwegflimmerten. Der Dokumentarfilm war inzwischen vorbei, und irgendein Kerl in hellblauem Anzug bat um Spenden.

John langte unter das Kissen, das neben ihm lag, und umschloss den Griff seiner maßgefertigten M1911-Pistole. »Wer ist da?«

Eine weibliche Stimme, tief und streng. »Polizei. Öffnen Sie.«

»Okay, nur eine Sekunde, bitte.« Mit der Waffe in der Hand glitt John behutsam vom Bett und schlich zur Tür hinüber. Er drehte behutsam den Schlüssel im Schloss herum und zog die Sicherungskette geräuschlos aus ihrer Schiene, bevor er sich flach an die Wand hinter der Tür drückte. Dann wandte er den Kopf zum Badezimmer und legte eine hohle Hand seitlich an den Mund, um den Hall seiner Stimme in eine andere Richtung zu lenken. »Kommen Sie rein.«

John beobachtete den sich langsam drehenden Knauf. Die sich Stück für Stück aufschiebende Tür. Er hielt die entsicherte M1911 fest umklammert und wartete.

Die Tür stand jetzt vollständig offen, John dahinter. Er wagte es nicht, durch den Spalt zwischen den Angeln zu spähen. So berechenbar war er nicht. Er rührte sich nicht vom Fleck, dicht an die Wand gepresst, angestrengt lauschend. Er hörte fernen Verkehr, den Wind, jemanden, der auf dem Parkplatz eine Autotür zuschlug.

Das Klicken einer Schusswaffe.

John wirbelte herum und sprang mit vorgehaltener Pistole in den Türrahmen.

Nichts.

Dann von unten das erneute Klicken einer leeren Patronenkammer. Er sah hinab und sagte: »Oh Scheiße

Monica lag mit dem Kopf zu seinen Füßen und einem unfassbar breiten Grinsen im Gesicht auf dem Rücken. Ihre Waffe zielte auf seinen Schritt.

»Ich würde sagen, damit steht es zwei zu null für mich«, sagte sie, nach wie vor in Rückenlage, nach wie vor die Pistole auf ihn richtend, nach wie vor kindlich grinsend.

John dachte an das unter der Wasseroberfläche lauernde Krokodil, unsichtbar, bereit, zuzuschlagen. Er konnte nicht anders, als das Grinsen zu erwidern.

»Alt, Dad … du wirst alt«, sagte Monica, als sie sich auf das Motelbett plumpsen ließ und beide Kissen unter ihren Kopf schob.

»Was soll dieser Zwei-zu-null-Käse?«, fragte John. »Wann hast du denn den ersten Punkt gemacht?«

»Bei deiner Hütte – ich hab schneller gezogen und den Penner erlegt. Dich hätte ich auch noch abknallen können.«

»Hör mal, ich wusste doch genau, dass du da bist.«

Sie verdrehte die Augen. »Klar.«

Er setzte sich aufs Fußende des Bettes. »Was ist letzten Abend passiert?«

Monica verschränkte beide Hände hinter dem Kopf, und langsam verzogen sich ihre Lippen zu einem Feixen. »Es hat sich eine günstige Gelegenheit ergeben.«

»Nämlich?«

»Ich bin ihr gefolgt. Sie ist von ihrer üblichen Alltagsroutine abgewichen und mit ihren Yuppie-Freundinnen in einer Bar hängen geblieben. Ich blieb in der Nähe, und nach ein paar Drinks hat ihre Körpersprache mir verraten, dass das Gespräch eine ernstere Richtung nahm und sie ihren Freundinnen gegenüber Dampf ablassen musste. Ich habe meinen Ohrstöpsel lauter gedreht und alles mitbekommen. Sie hat über Patrick und dessen Überreaktion am Abend davor gejammert, weil sie so viel getrunken hatte. Offenbar aus Trauer um ihren Vater.«

»Ein Jammer«, sagte John.

»Eine Tragödie«, sagte Monica. »Egal, jedenfalls hat sie an jenem Abend anscheinend alleine ein paar Martinis gekippt und sich ziemlich abgeschossen. Sie erzählte den anderen in der Bar, dass ihr nicht nach Gesellschaft war, dass sie einfach ihren Kummer ertränken wollte, Patrick aber ein Riesengeschiss darum gemacht hatte und die Sache wie immer dramatisieren musste …

Schlussendlich wollten ihre Begleiterinnen aufbrechen, aber mir war klar, dass sie noch bleiben wollte; es war nicht zu übersehen, dass sie sich ordentlich einen angezwitschert hatte. Also bin ich die Theke runtergerutscht, habe sie angequatscht, ihr ein paar Runden spendiert und ihren dämlichen Freundinnen weisgemacht, dass ich sie sicher nach Hause bringe.

Die Ladys haben sich vom Acker gemacht, ich hab den Alk-Nachschub gesichert und bin irgendwann in der Damentoilette verschwunden, um schnell einige Äußerlichkeiten zu verändern. Danach hab ich mich ans andere Ende des Tresens gesetzt, ihr direkt gegenüber. Sie hat mich einige Male direkt angeglotzt – nicht das geringste Anzeichen dafür, dass sie mich erkannt hat.«

»Wahrscheinlich, weil sie so besoffen war«, meinte er herausfordernd.

Sie nahm die Herausforderung an und gab sie prompt zurück. »Eifersucht ist was für Schwächlinge. Wobei ich bei einem, dessen Verwandlungskapazitäten nicht über Riesenochse mit Hut zu Riesenochse ohne Hut hinausreichen, durchaus Verständnis für Eifersucht habe.«

John verdrehte die Augen und vollführte eine Wichs-Pantomime. Monica schaute angewidert. »Und dann?«, fragte er lächelnd.

»Ich hab eine Zeit lang gewartet, zugesehen, wie sie immer ungeduldiger wurde, und dann …«

Johns Augen leuchteten auf. »Sie ist gefahren?«

Monica strahlte.

John klatschte in die Hände, warf den Kopf in den Nacken und stieß ein bellendes Lachen aus. »Einfach genial, verdammte Scheiße noch mal. Verflucht, du überraschst mich immer wieder, Mädchen.«

»Danke, danke.«

»Wie ist es ausgegangen?«

»Tja, ich vermute, Mr. Patrick Lambert wird nicht allzu erfreut gewesen sein, als seine Frau zu Hause aufschlug.«

»Du bist ihr nicht gefolgt?«

»Nein.«

»Und was, wenn sie es gar nicht bis nach Hause geschafft hat? Was, wenn sie in einen anderen Wagen oder in den Graben gerauscht ist?«

»Ernsthaft? Du stellst mir ernsthaft diese Frage?«

»Wieso?«

»Willst du mir etwa erzählen, dass dich das enttäuscht hätte?«

Er hielt eine Sekunde lang inne. »Da hast du auch wieder recht. Trotzdem wissen wir nicht, ob sie es bis nach Hause geschafft hat.«

»Hat sie. Ich bin heute Morgen vorbeigefahren, nachdem Patrick zur Arbeit aufgebrochen war. Ihr Auto stand in der Garage.«

John stand auf, schlenderte zum einzigen Fenster des Zimmers hinüber und sah hinaus auf den Parkplatz. »Also, was jetzt? Wollen wir einen weiteren Unfall arrangieren?«

Monica schüttelte den Kopf. »Nein. Der Schaden ist schon angerichtet – lassen wir die Sache schwären. Von jetzt an wird sie nie wieder auch nur einen Drink nehmen können, ohne dass Patrick eine Panikattacke erleidet.« Sie faltete die Hände hinter dem Kopf. »Zu schade, dass wir keine Praxis eröffnen können, in der Familien auseinandergebracht statt sie zusammengehalten werden. Die Leute würden Schlange stehen.«

»Wir wären die neuen Freuds«, sagte John.

»Freud war ein sexistisches Dreckschwein. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen um seinen Penis beneidet, recht herzlichen Dank auch.«

»Ihr verdammten Weiber solltet wissen, wo euer Platz ist«, schnaubte John.

Monica zog eines der Kissen hinter ihrem Kopf hervor und warf es nach ihm. Er fing es auf und lachte.

»Also – was ist deiner Ansicht nach der nächste Schritt?«, fragte er.

»Letzten Abend hat Amy irgendwas von einer großen Werbekampagne gelallt, an der Patrick arbeitet. Das würde ich mir gerne näher anschauen.«

»Der Prozess fängt bald an«, sagte er.

»Das weiß ich.«

»Meinst du nicht, wir sollten uns darauf konzentrieren?«

»Überfordert es dich, mehrere Dinge gleichzeitig anzugehen? Außerdem ist diese Familie robust und widerstandsfähig – denen können wir noch eine ganze Weile zusetzen.«

»Solange Arthur aus dem Knast kommt.«

»Was ist denn mit dir los?« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Du hast wohl vergessen, wer Arthur überhaupt erst aufgespürt hat.« Sie inhalierte tief und stieß eine lange Rauchfahne aus. »Erst lassen deine Fähigkeiten nach, und jetzt wirst du auch noch senil?« Sie schüttelte den Kopf und schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. »Schon scheiße, wenn man alt wird.«

Mit der Schnelligkeit einer Klapperschlange packte John seine Tochter am Knöchel und riss sie vom Bett, als wäre sie eine Puppe. In Sekunden fand sich Monica auf den Fußboden gedrückt, sein Knie in ihrem Rücken, ihr Kinn in eine seiner Hände geklemmt, ihr Haar von der anderen umklammert.

»Soll der senile alte Mann, der es nicht mehr draufhat, dir das Hälschen brechen?« Er deutete mit beiden Händen eine Drehung ihres Kopfes an. »Du bist vielleicht das Krokodil unter Wasser, aber hier sind wir an Land, und du steckst im Maul eines anderen Krokodils fest.«

Seine Hand presste noch gegen ihren Kiefer, weshalb Monica durch die Zähne zischen musste: »Was verdammt noch mal redest du da? Lass mich los!«

John bog ihren Kopf langsam bis zum Anschlag. Eine schnelle Drehung, und es wäre vorbei mit ihr gewesen.

»Wie steht es jetzt?«, fragte er.

Monica knurrte und fauchte. Das Knie in ihrem Rücken erschwerte ihre Atmung erheblich.

»Wie steht es jetzt?«, fragte er erneut.

»Du hast gewonnen, du hast gewonnen!«, brachte sie heraus.

John lächelte und sprang auf. »Das bei der Hütte zählt nicht«, sagte er. »Daher haben wir jetzt Gleichstand. Es steht eins zu eins.«

»Schön.« Monica erhob sich zögerlich und mühsam auf die Beine, klopfte sich den Staub ab und rieb sich den Nacken. Sie bemerkte die brennende Zigarette auf dem Bett, nahm sie und hielt sie ihrem Vater entgegen. »Siehst du? So passieren Unfälle.«

»Wenn du nicht rauchen würdest, hätte sie auch nicht …«

Sie schnippte ihm die Zigarette ins Gesicht. John wich instinktiv zurück, und sie verpasste ihm unverzüglich einen Tritt zwischen die Beine, der ihn auf alle viere schickte. Monica rannte aus dem Zimmer. Das Echo ihres Gelächters hallte über den Parkplatz, als sie den Motor aufheulen ließ und davonzischte.

Mit einer Hand auf seinen schmerzenden Eiern zog John sich langsam hoch, schob die Tür zu und drehte sich zum Bett um. »Raffiniertes Aas«, grummelte er mit stolzem Grinsen.