33
Um Viertel vor fünf gähnte Patrick noch immer, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte.
»Patrick Lambert.«
»Hi, Schatz, ich bin’s«, sagte Amy.
Sie klang fröhlich. Regelrecht glücklich. Eine wunderbare Welle der Erleichterung durchspülte ihn, und er fühlte, wie die Reste der Anspannung von letzter Nacht dahinschmolzen.
»Hi, Süße. Wie geht’s meinem Mädchen?«
»Gut. Ich stehe gerade vor dem Friday’s und will mit den Mädels ein paar Happy-Hour-Drinks nehmen. Würde es dir was ausmachen, auf dem Heimweg von der Arbeit Carrie und Caleb abzuholen?«
Die Erleichterung war von kurzer Dauer. Natürlich hatte er kein grundsätzliches Problem damit, wenn Amy mit ihren Freundinnen ausging, was sie ohnehin regelmäßig tat. Doch nach dem, was am gestrigen Abend passiert war, kam es ihm unangebracht vor. Und dann hallten Amys Worte in seinem Kopf wider, so deutlich, als hätte sie diese soeben am Telefon wiederholt:
(»Hör einfach auf … die Dinge überzuinterpretieren.«)
Also bemühte er sich, genau das zu tun. »Ach so, Happy Hour? Keine Nachwirkungen mehr von gestern Abend?« Er klang gezwungen fröhlich und bewegte sich auf dem außerordentlich schmalen Grat zwischen freundlich und passiv-aggressiv. Er wappnete sich für eine harsche Antwort.
Doch Amys Reaktion war alles andere als harsch, sondern fiel vielmehr so fröhlich aus wie ihre Begrüßung. Oder gar noch fröhlicher?
Weil sie was getrunken hat.
»Hör bloß auf«, sagte sie ausgelassen. »Kannst du die Kinder auflesen? Sie sind nebenan bei den Lehmans.« Beim letzten Satz lallte sie leicht. Die meisten hätten das überhört. Patrick bemerkte es sofort.
Noch nicht mal fünf Uhr, und sie hat einen sitzen.
(»Hör einfach auf … die Dinge zu überinterpretieren.«)
Patrick schloss die Augen und kniff sich in den Nasenrücken. »Ja, ich übernehme die Kinder. Was denkst du, wann du ungefähr wieder zu Hause bist?«, sagte er.
»Keine Ahnung – Augenblick.« Eine Pause, gefolgt von zunächst gedämpftem und dann laut plärrendem Kneipenlärm, als Amy zurück in die Bar ging. »Hey! HEY! WAS MEINT IHR, WIE LANGE WIR BLEIBEN?«, schrie sie über den Geräuschpegel hinweg. Eine Frau johlte etwas zurück, und Amy lachte. Sie lachte immer noch, als sie das Gespräch wiederaufnahm. »Wir haben nicht die leiseste Ahnung.«
»Und wie kommst du nach Hause?«
»WAS?«
Patrick kniff sich kräftiger in die Nasenwurzel. »WIE KOMMST DU NACH HAUSE?«, brüllte er zurück, wodurch er die Blicke einiger Kollegen außerhalb seines Büros auf sich zog.
»Ich hab ’ne Mitfahrgelegenheit. Sarah trinkt nichts.«
Patrick hätte vor Gericht keinen Eid darauf geschworen, war sich aber ziemlich sicher, eine Frau »GANZ BESTIMMT NICHT!« rufen zu hören.
»Amy, ich …« Er unterbrach sich. Musste er auf das Offenkundige hinweisen? Ihr Dad? Letzte Nacht? Sie konnte seine Besorgnis mitnichten übersehen haben. Andererseits war sie schließlich dabei, sich zu betrinken, und derartige Überlegungen und Rücksichtnahmen neigten auf unheimliche Weise dazu, sich mit jedem neuen den Rachen runterrutschenden Drink weiter in Wohlgefallen aufzulösen.
»Was?«, fragte sie. Daraufhin wandte sie sich anscheinend ihren Mitstreiterinnen zu. »MAUL HALTEN! ICH KANN NICHTS VERSTEHEN!« Mehr Gelächter. »Was hast du gesagt, Schatz?«
»Nichts«, erwiderte Patrick. »Ich wollte dir nur viel Spaß wünschen. Pass auf dich auf.« Seine Stimme war absichtsvoll tonlos – ein reichlich blamabler Versuch, sie dazu zu bringen, eine Sekunde lang ernst zu bleiben und seinen Bedürfnissen wenigstens ein Stückchen entgegenzukommen.
»Danke, Liebling. Bis heute Abend. Ich liebe dich.«
Patrick sprach »Ich liebe dich auch« in eine tote Leitung. Er legte auf und starrte lange auf seinen Tisch hinab, ohne ein einziges Mal zu blinzeln.
Patrick saß am Küchentisch und ging einige seiner Notizen durch. Es war nach zehn, die Kinder schliefen, und Amy hatte sich noch immer nicht blicken lassen. Er hatte die erste Seite seiner Aufzeichnungen mindestens zehnmal gelesen. Obwohl, das war eigentlich eine Lüge. Er war nie bis zum Ende der Seite gekommen. Manchmal hatte er die Hälfte, dann wieder ein Viertel geschafft, bevor seine Gedanken abschweiften und er von vorne beginnen musste. Er dachte an Amy, wie sie letzten Abend mit dem Buch auf der Brust so getan hatte, als würde sie lesen, um von dem eigentlichen Problem, das zwischen ihnen bestand, abzulenken. War das, was er hier mit seinen Notizen veranstaltete, so anders? Erledigt bekam er jedenfalls gar nichts. Die Notizen waren nichts als eine Requisite, genau wie Amys Buch. Ein Vorwand, um am Küchentisch und damit genau in Amys Blickfeld zu sitzen, wenn sie durch die Eingangstür schritt. Ihre Motive unterschieden sich möglicherweise leicht voneinander – sie nutzte ein Buch als Vorwand, um ihren Rausch zu verbergen und einer unangenehmen Unterredung aus dem Weg zu gehen. Er hingegen benutzte seine Aufzeichnungen, damit es so aussah, als arbeite er, statt wie ein unruhiger Vater auf seine minderjährige Tochter zu warten, die zu spät nach Hause kam. Aber wenn man sich dem Kern der Sache widmete, taten sie beide etwas, das sie verabscheuten: Spielchen spielen. Nach so vielen gemeinsamen Jahren, nach all der Vertrautheit und selbstlosen Liebe zwischen ihnen, waren sie in heiklen Situationen wirklich auf ein Buch oder Notizblätter angewiesen? Warum war der direkte Weg noch immer so schwierig zu beschreiten?, grübelte Patrick. Amy hätte letzten Abend warten können, bis er ins Schlafzimmer kam, und ihm dann ihr Herz ausschütten können, und Patrick könnte jetzt mit nichts als einer Tasse Tee am Küchentisch warten, in berechtigter Sorge um das Wohlbefinden seiner Ehefrau.
Patrick hörte das metallische Knarzen des automatischen Garagentores, was seine Befürchtungen auf der Stelle in Ärger verwandelte. Sie war mit dem Auto nach Hause gefahren.
Scheiß auf die Notizen – diese Situation erforderte keine falschen Requisiten. Er schob energisch seinen Stuhl zurück, stapfte Richtung Vorraum und wartete dort darauf, dass sie im Eingang zur Garage auftauchte. Amys einzige Rettung wäre eine ihrer Freundinnen, die sie nach Hause gefahren hatte.
Amy trat alleine in die Dreckschleuse.
»Hi«, sagte Patrick, ohne zu zögern.
Amys Kopf fuhr hoch, und sie legte eine Hand auf ihre Brust. Dann fing sie zu kichern an. »Oh Gott, Baby, du hast mir einen Heidenschreck eingejagt.« Sie war betrunken.
»Amy, was zum Teufel soll das?«
Sie schwankte, als sie ihren Mantel auszog und an einen der an der Wand aufgereihten Kleiderhaken hing. Sofort rutschte der Mantel wieder vom Haken und fiel zu Boden. Es entging ihr. »Was?«, fragte sie.
»Du bist betrunken und verdammt noch mal gefahren.«
»Ich bin nicht betrunken«, sagte sie. Sein Vorwurf schien an ihr abzuprallen – ihre Antwort klang unschuldig und nach reinstem Gewissen, so harmlos, als hätte sie beim Essen eine zweite Portion abgelehnt.
»Doch, bist du. Ich dachte, du hättest eine Mitfahrgelegenheit?«
»Hatte ich – wollte ich … aber sie sind vorher weg.« Sie sagte das mit bestimmter Miene, als wäre es von schlagender Logik.
»Deine Freundinnen haben dich allein dort sitzen lassen? Sie haben dich nach Hause fahren lassen?«
Amy schüttelte nachdrücklich den Kopf und wankte hin und her. »Nein – nein, nein. Sarah wollte mich nach Hause bringen, aber ich bin mit diesem anderen Mädchen ins Gespräch gekommen, und wir haben uns angefreundet.« Sie hielt inne, augenscheinlich erneut felsenfest davon überzeugt, dass alles vollkommen logisch war und Patrick die verbliebenen Lücken problemlos füllen konnte.
»Wovon zur Hölle redest du? Welches Mädchen?«
Amy ging an ihm vorbei in die Küche. Sie roch stark nach Alkohol. »Bloß irgendeine Frau, mit der ich mich unterhalten habe. Sie war echt cool. Die anderen wollten früh los, also meinte diese Frau, sie würde mich heimfahren. Die Mädels haben sie kennengelernt. Sie fanden sie auch cool«, sagte sie über ihre Schulter hinweg, während sie ein Glas aus dem Schrank nahm und mit Leitungswasser füllte. Sie leerte das Glas in einem Zug.
In Patricks Kopf drehte sich alles. Es klang einleuchtend und doch nicht einleuchtend. »Aber du bist heimgefahren. Du.«
»Weiß ich – die Schlampe hat mich nicht mitgenommen.«
»Hat sie nicht? Eine Wildfremde?« Er legte in gespielter Verwunderung die Hand vor die Brust. »Ich fasse es nicht!«
»Wie auch immer, Patrick.« Sie verdrehte die Augen, drehte sich um und stellte das Glas in die Spüle.
»Warum hast du mich nicht angerufen?«, fragte er. »Ich hätte dich abgeholt.«
»Und die Kinder? Wer hätte auf die Kinder aufpassen sollen?«, gab sie zurück.
»Ich hätte mindestens ein halbes Dutzend Nachbarn mobilisieren können. Die hätten auf sie aufgepasst. Das weißt du.«
Amy zog eine alberne Grimasse. »Das wäre peinlich gewesen.«
»Und wenn du in einem Streifenwagen nach Hause gekommen wärst? Wie hätte das ausgesehen?«
Sie schaltete in den Verteidigungsmodus. »Hör mal, ich hatte eine Mitfahrgelegenheit, okay? Sarah wollte mich nach Hause bringen. Aber sie sind abgezogen, weil diese andere Frau meinte, sie würde das tun. Und dann ist sie abgehauen. Was hätte ich sonst machen sollen?«
»Mich anrufen«, sagte er. »Oder Sarah. Warum hast du Sarah nicht angerufen, damit sie zurückkommt und dich mitnimmt?«
»Die waren alle schon weg.«
Noch mehr bizarrer Unfug. Patrick war zornig. Ja, Amy hatte den Trauerbonus, aber die furchtbare Ironie der gegebenen Umstände hätte selbst das allerverkommenste Individuum davor abgeschreckt, diesen Trumpf auszuspielen. Amy tat genau das – gewissermaßen.
»Sieh mal, ich weiß, dass ich Mist gebaut habe«, bekannte sie freimütig. »Besonders nach dem, was Dad zugestoßen ist, aber …« Ein Achselzucken. »Ich hab Mist gebaut. Tut mir leid. Wird nicht wieder passieren, okay?«
Patrick starrte sie an. Sie starrte trotzig zurück, als wäre die Erwähnung ihre Vaters eine hinreichende Rechtfertigung für ihren Leichtsinn – eine andere (und nach Patricks Meinung: üblere) Variante, den Trauerbonus auszunutzen.
»Okay?«, wiederholte sie mit herausforderndem Blick.
»Ich gehe schlafen«, sagte Patrick frustriert. Er verließ die Küche und ging nach oben.
Amy kam zwanzig Minuten später ins Bett. Patrick lag von ihr abgewandt auf seiner Seite. Die Lichter waren gelöscht bis auf die Lampe auf Amys Nachttisch, die er gnädigerweise angelassen hatte. So stinkwütend er auch war, er wollte keinesfalls, dass sie im Dunkeln herumstolperte und sich irgendwo den Kopf stieß.
Amy zog sich bis aufs Höschen aus, ließ das Zähneputzen ausfallen und kroch wortlos und umständlich ins Bett. Nach weniger als einer Minute vernahm Patrick ein versoffenes Schnarchen. Er lag bis weit nach zwei Uhr wach.
Im Friday’s trat Monica Kemp an die Bar und bestellte einen Wodka Martini. Sie war nicht abgehauen, wie ihre neue Freundin Amy gedacht hatte, sondern hatte sich in die Damentoilette begeben, die blonde Perücke gegen eine rote und die blauen Kontaktlinsen gegen grüne eingetauscht sowie ihre Kleidung gewechselt. Als sie wieder aus der Damentoilette trat, hätte sie genauso gut ein neuer Restaurant-Gast sein können. Sie setzte sich sogar Amy gegenüber ans andere Ende der Bar, und als ihre Blicke sich trafen, lag darin nicht einmal die Andeutung eines Wiedererkennens.
Dann, als Amy schließlich aufgab, ihre Rechnung beglich und aus der Tür stolperte, folgte Monica ihr. Als Amy sich hinters Steuer zwängte, grinste Monica. Sie bedauerte nur, dass sie Patricks Reaktion auf die Heimkehr seiner betrunkenen Gattin – nur wenige Wochen nachdem ihr Vater durch Trunkenheit am Steuer gestorben war – weder hören noch sehen würde.
Nichtsdestotrotz war der Abend zu ihrer vollen Zufriedenheit verlaufen. Monica hatte ständig Drinks für Amy bestellt, wohlwissend, dass es nicht lange dauern würde, bevor das unverbindliche Geplauder über Arbeit und Männer tiefer gehenden Themen wich – der Moment, in dem das unter dem Namen Alkohol bekannte Wahrheitsserum Fremde in beste Freunde verwandelte und die Zungen der Beichtbedürftigen löste. Monica hatte der gefühlsduseligen Amy mit einer gut einstudierten Betroffenheitsmiene gelauscht. Sie hatte sich angehört, wie Amy den Hund Oscar und den Tod ihres Vaters beklagte. Amy hatte sogar Crescent Lake erwähnt, allerdings nichts Weltbewegendes preisgegeben. Monica ahnte, dass nicht einmal eine ganze Flasche Tequila die Schlösser dieser Schatztruhe an Erfahrungen würde aufbrechen können. Amy war lediglich zu einer kurzen Zusammenfassung bereit gewesen (wobei Monica Überraschung geheuchelt und gesagt hatte, der Fall sei ihr aus der Zeitung und den Fernsehnachrichten bekannt. »Das warst du?«, hatte sie gefragt und sich ein Grinsen verkneifen müssen).
Doch obwohl Monica in der Bar eine großzügige Portion von Amys Schmerzen und Kummer hatte genießen können, begehrte sie inständig, die sich anbahnende Konfrontation zwischen Amy und Patrick mitverfolgen zu können. Der ganze Akt war eine unerwartete, aber umso willkommenere meisterliche Inszenierung ihrerseits gewesen, und sie wollte ihn bis zum Ende sehen, verdammt noch mal.
Na ja – sie würde ohne diesen Luxus auskommen müssen. Sie schob sich mit dem Zahnstocher eine Olive in den Mund und füllte die ihr verbleibende Zeit an der Bar damit, in Erinnerungen an ihre liebsten Morde zu schwelgen.