»Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich wohnen kann in meiner Scheiße.«

Heiner Müller, Die Hamletmaschine

VI.  FLEISCH UND BLUT

Wie die Agrarindustrie den Indigenen in Brasilien Land und Leben raubt

Rot glüht die Erde, über die unser Geländewagen rumpelt, unter der brasilianischen Sonne. Jenseits der Piste wogt das grüne Meer der Wiesen und Felder; üppige Blätterdächer von Baumgruppen und Wäldchen erheben sich darin zu Inseln. Braune, schwarze und weiße Rinder weiden im hüfthohen Gras. Die ländliche Idylle, durch die wir fahren, befindet sich im Bundesstaat São Paulo in Brasilien. Hier, im größten Land Lateinamerikas, leben mehr Rinder als Menschen – wenn auch wesentlich kürzer: auf 207 Millionen Einwohner kommen 220 Millionen Tiere. Brasilien ist der größte Fleischexporteur der Welt. Allein zwei Millionen Tonnen Rindfleisch werden von hier aus jedes Jahr exportiert. Die zu erzeugen braucht es eine Menge Platz: Fast drei Viertel des brasilianischen Agrarlandes werden zur Viehzucht genutzt. Fünfmal so groß wie die Bundesrepublik ist die Fläche, auf der Rinder grasen. Hinzu kommen 230 000 Quadratkilometer Acker, auf denen Futtersoja angebaut wird. Wald und Menschen mussten von dieser riesigen Fläche weichen.

Was die Fleisch- und Futterproduktion für Brasilien, für Menschen und Natur bedeutet, das wollen Werner Boote und ich in unserem Film zeigen. Seit Wochen schon ersuchen wir die brasilianische Fleischindustrie um eine Genehmigung, auf ihren Weiden und Mastanlagen drehen zu dürfen. Jetzt hat sie uns hierher geschickt, nach Nhandeara, gute fünfhundert Kilometer nordwestlich der Metropole São Paulo.

Auf einer Anhöhe passieren wir ein hölzernes Gatter. »Beef Passion« steht auf dem Schild daneben. Vor seinem Bürohäuschen im Schatten alter Bäume empfängt uns Antônio Ricardo Sechis. Der Mann mit dem grauen Schnauzbart und den funkelnden Augen begrüßt uns überschwänglich und führt uns den Hügel hinunter zu seinen Tieren. Schon von Weitem glauben wir Fahrstuhlmusik zu hören. Tatsächlich: Unter dem Dach des großen Geheges, in dem sich ein paar Hundert schwarze Kühe tummeln, hängen Lautsprecher. Eine Sprenkleranlage sprüht alle paar Minuten feinen Wassernebel auf die Tiere.

»Spa Bovino« steht auf einem großen Schild. Ein Spa. Für Rinder. Die brasilianische Fleischindustrie hat uns in ein Wellnessressort für Kühe gelotst.

»Meine Kühe sind sehr glücklich. Wir tun alles, damit sie sich wohlfühlen. Die Musik entspannt sie. Das Wasser sorgt für das richtige Klima, das sie für ihren Stoffwechsel brauchen. Damit sie richtig atmen und das Futter gut verarbeiten können«, sagt Sechis.

»Und was bekommen sie zu trinken, Champagner?«, frage ich.

»Nein, den Champagner trinken wir!«, sagt Sechis und lacht. Grund hat er, schließlich verkauft er das teuerste Fleisch der Welt an brasilianische Luxusrestaurants und Gourmetboutiquen. Denn die Tiere, die schnaubend ihre Köpfe in den künstlichen Nieselregen halten, sind Wagyus, japanische Rinder, zu deren Rasse auch das bekannte Kobe-Rind zählt.

Antônio Ricardo Sechis’ Familie besitzt vier Farmen und 8 500 Tiere auf 60 Quadratkilometern. Seine Angus-, Nelore- und Wagyu-Rinder weiden im Nachbarstaat Mato Grosso do Sul, sie kommen nur zur Endmast hierher. 3 500 Tiere lässt er jedes Jahr schlachten, wenn sie drei Jahre alt sind. Ein homöopathischer Anteil der 40 Millionen Rinder, die in Brasilien jährlich zu Steaks und Wurst werden.

»Alles, was du dem Tier gibst, das bekommst du zurück«, sagt Ricardo, »sie sterben glücklich und in Würde, weil sie sich freuen, dass du sie genießt. Ich esse sie jeden Tag, am liebsten roh, das freut sie am meisten.«

Um dem lieben Gott für das viele schöne Fleisch zu danken, hat Ricardo eine Kapelle auf das Grundstück bauen lassen. Er klingt wie der Fleischpapst, der aus seiner Steak-Enzyklika rezitiert: »Die Tiere machen uns unglaubliche Freude. Diese Freude, wohlschmeckendes tierisches Protein zu essen, ist einfach fantastisch. Deshalb muss ich an den Tieren arbeiten, mich gut um sie kümmern. Nur so bekomme ich das Fleisch, das ich möchte. Ich bin verliebt in meine Rinder, ja, ich liebe sie wie eine Ehefrau!«

»Würdest du deine Ehefrau ebenfalls schlachten und essen?«, frage ich.

»Du musst wissen, Ricardo, sie ist Vegetarierin«, sagt Werner.

Ricardo schaut mich aus großen braunen Augen an und legt mir tröstend die Hand auf die Schulter: »Ah! Heute nicht. Heute wirst du deine Meinung ändern.«

»Nein.« Ich nähere mich den Tieren. »Ich mag sie lebend.«

»Geh nicht zu nah an sie heran«, ruft Sechis, »denn sie sind sauer auf dich!«

»Warum denn das?«

»Weil sie spüren, dass du sie nicht essen willst.«

Ricardo Sechis’ Firma Beef Passion ist eine der ersten, die von der US-Umweltorganisation Rainforest Alliance das Siegel für nachhaltiges Rindfleisch bekommen hat. Dieses verbietet etwa den Einsatz von Hormonen und Anabolika; auch Antibiotika dürfen nicht zum Mästen verwendet werden. Außerdem gibt es Vorgaben für Umwelt-, Wald- und Wasserschutz.144 Ökologische Landwirtschaft ist das dennoch nicht. Ricardo Sechis verfüttert hier unter anderem Soja, das er vom Agrarmulti Cargill bezieht. Der wiederum kontrolliert zusammen mit den Konzernen ADM, Bunge, Louis Dreyfus und Avipal zwei Drittel des Sojamarktes in Brasilien. 96 Prozent dieses Getreides werden dort gentechnisch verändert angebaut. Während Ricardos Rinder sogar Fußball spielen dürfen, stirbt andernorts der Regenwald. Nach einer Studie der Organisation Mighty Earth wurde auf dem von Cargill in Brasilien genutzten Land für den Sojaanbau allein zwischen 2011 und 2015 Regenwaldfläche zweieinhalbmal so groß wie der Bodensee abgeholzt.145

Auf dem Hügel hinter der Mastanlage in Nhandeara reiten zwischen verstreuten Palmen und Rindern zwei Männer unter Cowboyhüten. Es sind romantische Bilder wie dieses, mit denen die brasilianische Fleischindustrie wirbt. Kein Wunder also, dass sie uns zum Beleg Ricardos Vorzeigebetrieb präsentiert. Aber selbstverständlich leben die anderen 219,9 Millionen Rinder in Brasilien nicht in Wellnessanlagen. »Ich glaube, unser Projekt ist ziemlich einzigartig«, sagt Ricardo, »aber ich glaube daran, dass wir den ganzen Fleischmarkt verändern werden, wenn wir die Tiere auf nachhaltige und natürliche Weise halten.«

Fleisch frisst Wald

In den vergangenen 50 Jahren hat sich die globale Fleischproduktion von 78 auf 308 Millionen Tonnen pro Jahr vervierfacht. Bis 2050 soll sie auf eine halbe Milliarde Tonnen wachsen. Der globale Fleischkonsum liegt laut der Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen FAO bei 41,3 Kilo pro Kopf und Jahr. Die Menschen in den reichen Ländern essen im Schnitt mehr als doppelt so viel, nämlich 95,7 Kilo jährlich. In sogenannten Entwicklungsländern sind es 31,6 und in Schwellenländern 53,8 Kilo.146 Die Folgen des stetig wachsenden Fleischhungers sind dramatisch: Ein Drittel der eisfreien Erdoberfläche und 70 Prozent des landwirtschaftlich genutzten Landes der Welt werden für die Viehzucht verwendet. Auf 33 Prozent der globalen Ackerflächen wird Tierfutter angebaut, vor allem Soja.

In Brasilien hat der globale Fleischwahn in den vergangenen vierzig Jahren fast ein Viertel der Wälder vernichtet: 90 Prozent des Amazonasregenwaldes, der seit 1970 gerodet wurde, fiel Rinderweiden zum Opfer. Auch große Teile des Cerrado wurden dafür zerstört. Einst erstreckte sich der artenreichste Savannenwald der Welt zwischen Amazonas und Küste, vom Südwesten in den Nordosten des Landes. Fast zwei Drittel davon wurden abgeholzt – vor allem für Monokulturen aus Futtersoja und für die Weiden von Rinderherden. Seit Ende der neunziger Jahre schrumpften Brasiliens Wälder jedes Jahr um die Größe Belgiens. Das hat Brasilien zur viertgrößten CO2-Schleuder der Welt gemacht.147

2012, kurz vor der UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro, verabschiedete die Regierung ein neues Waldschutzgesetz, den Código Florestal. Damit, so versprach die Regierung, sollten bis 2020 achtzig Prozent weniger Wald abgeholzt und vierzig Prozent weniger Treibhausgase ausgestoßen werden. Allerdings hatten die einflussreiche Agrarlobby und die Großgrundbesitzer, die Fazendeiros, den Código Florestal zuvor zu ihren Gunsten derart verwässern können, dass die Anforderungen hinter das alte, aber vergleichsweise fortschrittliche Waldschutzgesetz von 1965 zurückfallen. Dieses hatte die Rodung von Wald in der Amazonasregion auf maximal zwanzig Prozent pro Landbesitz beschränkt. Achtzig Prozent des Waldes sollten jeweils erhalten bleiben. In den Savannen mussten fünfunddreißig Prozent, in anderen Waldregionen im Süden von Brasilien zwanzig Prozent der Flächen erhalten werden. 2001 wurde das Gesetz erstmals erweitert: Mehr als drei Viertel des Regenwaldes wurden unter Schutz gestellt; niedergebrannter und illegal gerodeter Wald mussten von den Landbesitzern wieder aufgeforstet werden.148

Doch anstatt auf dieser Grundlage weiterhin gegen verbotene Rodungen vorzugehen, legalisierte die Regierung diese mit der Überarbeitung des Waldgesetzes von 2012 sogar nachträglich: Das neue Waldgesetz beinhaltet eine Amnestie für Gebiete, die vor 2008 illegal zerstört wurden. Darüber hinaus wurden Schutzgebiete verkleinert; außerdem konnten die Fazendeiros erreichen, dass abgeholzte Flächen von jeweils bis zu 4,4 Quadratkilometern nicht wiederhergestellt werden müssen. Zusammengenommen ergeben diese allerdings eine Fläche von dreihunderttausend Quadratkilometern.

Das Gesetz enthält eine Klausel, die illegale Rodung seit 2008 auch dann legalisiert, wenn die Flächen nicht, wie im Gesetz vorgeschrieben, wieder aufgeforstet werden. Ähnlich wie beim Emissionshandel dürfen Landbesitzer statt der Renaturierung illegal gerodeter Flächen sogenannte Renaturierungsgutschriften von Firmen oder Farmen kaufen, die irgendwo anders weniger als die gesetzlich erlaubten zwanzig Prozent Regenwald gerodet haben. Gehandelt werden die Gutschriften unter anderem an der Bolsa Verde do Rio de Janeiro (BVRio), der Grünen Börse. Die wurde etwa ein halbes Jahr nach der Verabschiedung des Waldschutzgesetzes eingerichtet. »Sie leitet eine Ära ein, in der in Demokratien auch auf dem Papier nicht mehr alle gleich sind vor dem Gesetz, denn die BVRio ermöglicht es Landbesitzern, sich von der gesetzlichen Verpflichtung, einen bestimmten Anteil ihres Landes in naturnahem Zustand zu erhalten, freizukaufen«, kritisiert die Biologin Jutta Kill, die als Beraterin für Organisationen und Netzwerke im globalen Süden arbeitet, zum Beispiel für das World Rainforest Movement. Schlimmer noch: Der Gutschriftenhandel treibt Landraub voran. In abgelegenen Amazonasgebieten sollen bereits spekulative Landkäufe getätigt worden sein, um mit Renaturierungsgutschriften Reibach zu machen. »Was bisher illegal war – die Rodung von mehr als zwanzig Prozent Wald auf dem eigenen Land  – wird durch den Erwerb von Kompensationsgutschriften legitimiert, selbst wenn diese aus Gegenden stammen, in denen gar keine Entwaldung geplant war«, so Kill.149 Konzerne und Fazendeiros können also ihr profitables Geschäft weiterführen – und das ist auch im Sinne der Regierung, die das Waldgesetz trotz heftiger Proteste lokaler und internationaler Umweltorganisationen verabschiedet hat. Schließlich machen landwirtschaftliche Produkte, allen voran Soja und Rindfleisch, mehr als ein Drittel der Exporte Brasiliens aus.

2012 wurde mit 4 500 Quadratkilometern (das ist immer noch eine Fläche fast doppelt so groß wie Mallorca) weniger Wald gerodet als je zuvor. Dieser Rückgang war dem strengeren alten Waldgesetz zu verdanken. Doch seit der Verabschiedung des neuen Gesetzes steigt die Waldvernichtung wieder deutlich an. Bereits im folgenden Jahr wurde wieder mehr zerstört, vor allem im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, den die Agrar- und Fleischindustrie fest in der Hand hat. Zwischen August 2015 und Juli 2016 wurde in Brasilien bereits fast die doppelte Menge Wald abgeholzt wie 2012.

Aber ausgerechnet die Fleischindustrie hat sich nun, samt ihren Abnehmern und Zulieferern, mit großem Bohei der sogenannten Nachhaltigkeit verschrieben.

Grüne Tierfabriken

Im Millionen-Moloch São Paolo, der nur aus Wolkenkratzern und verstopften Straßen zu bestehen scheint, treffen wir Fernando Sampaio. Sein Büro befindet sich in einem der gesichtslosen Hochhäuser im Zentrum der größten Stadt Brasiliens. Als wir ihn im März 2016 dort besuchen, ist er Direktor des Verbands der brasilianischen Rindfleischexporteure (ABIEC) und Präsident des Roundtable on Sustainable Lifestock (GTPS).150 Zu diesem Runden Tisch für nachhaltige Nutztiere gehört auch der für nachhaltiges Rindfleisch, der Global Roundtable for Sustainable Beef (GRSB).

Diese Initiative ähnelt in ihrer Zusammensetzung dem Runden Tisch für nachhaltiges Palmöl: Im Präsidium sitzen JBS, der größte Fleischkonzern der Welt, und der Fast-Food-Gigant McDonald’s. Zu ihnen gesellt sich – einmal mehr – der WWF. Dem erweiterten Vorstand gehören außerdem der Agrarkonzern Cargill und die Zertifizierungsorganisation Rainforest Alliance an, deren Siegel mit dem grünen Frosch auch Antônio Ricardo Sechis’ Steaks ziert. Und die Chemiekonzerne Bayer und Dow Agrosciences, die Pharmafirma Merck Animal Health und die Rabobank sind mit von der Partie.

Ich stelle Sampaio eine simple Frage: »Was ist nachhaltiges Rindfleisch?«

Sampaio sagt: »Der Runde Tisch will die Leute nicht erziehen und sagen, dies ist nachhaltig und das nicht. Wir entwickeln Standards für die ganze Wertschöpfungskette. Die Frage ist, was sind die Indikatoren, die die Farm jeweils besser machen.«

Herrje! »Ich verstehe nicht, wie massenhaft produziertes Rindfleisch nachhaltig sein könnte.«

»Wir versuchen, die Nutztiere effizienter zu machen. Wir müssen mit weniger mehr produzieren.«

»Wie soll das funktionieren?«

»Erstens kann man mehr Tiere pro Hektar halten, das braucht weniger Land, und man muss weniger Wald abholzen. Zweitens müssen wir mehr Fleisch pro Tier erzeugen. Das geschieht durch Züchtung, besseres Futter und mehr Gesundheit. Je effizienter wir produzieren, je weniger Platz und Futter wir brauchen, desto weniger Treibhausgase produzieren wir. Früher wurden Rinder fünf Jahre gehalten. Heute achtzehn Monate.«

Achtzehn Monate. Eine perverse Effizienz, wenn man bedenkt, dass Rinder bis zu dreißig Jahre alt werden können, wenn man sie nicht zu Schnitzeln und Gulasch verarbeitet.

»Sprechen wir also von Feedlots?«

»Feedlots sind nicht das einzige Instrument. Aber es wird mehr von ihnen geben.«

Feedlots, das sind riesige Mastanlagen unter freiem Himmel. Dort verbringen die Rinder, nachdem sie die meiste Zeit ihres kurzen Lebens auf der Weide verbracht haben, ihre letzten hundert Tage vor der Schlachtung. Zu Zehntausenden werden die Tiere eingepfercht und mit Hormonen, Antibiotika, Mais- und Soja-Kraftfutter vollgestopft. Das ist seit vielen Jahren das gängige Modell in den USA. Concentrated Animal Feeding Operation (CAFO) nennt man die Freiluft-Massentierhaltungen, in denen mehr als zehn Millionen Rinder in den Vereinigten Staaten vegetieren. Aber nicht nur die eingesperrten Tiere leiden: Die Hormone sind für Menschen gesundheitsschädlich. Die Unmengen Antibiotika, die den Tieren verabreicht werden, sorgen für multiresistente Keime. Und die riesigen Massen Urin und Mist, die in gigantische, meist offene Güllelagunen geleitet werden, verseuchen Böden, Wasser und Luft mit Bakterien, Viren, Schwefelgasen und Ammoniak.

Alleine die Firma Five Rivers Cattle besitzt in Arizona, Colorado, Idaho, Kansas, Oklahoma sowie in Kanada Feedlots für insgesamt mehr als eine Million Rinder. Massenställe für eine weitere Million hat die Firma in Australien, Mexiko und Puerto Rico. Five Rivers Cattle ist eine Tochterfirma des brasilianischen Konzerns JBS. Das brasilianische Unternehmen, das José Batista Sobrinho in den fünfziger Jahren in São Paolo gegründet hat, ist heute mit 43 Milliarden Euro Umsatz der größte Fleischproduzent der Welt: Ein Viertel des weltweit gehandelten Rindfleischs stammt von JBS. Die Hälfte seines Geschäfts wickelt das einstige Familienunternehmen, das auch im Leder- und Biosprit-Business aktiv ist, in den USA ab.

An dieser zweifelhaften Erfolgsgeschichte hatte auch die brasilianische Regierung ihren Anteil: Die Brazilian National Development Bank, die zum brasilianischen Ministerium für Entwicklung, Industrie und Außenhandel gehört, päppelte JBS mit großzügigen Krediten zu einem international wettbewerbsfähigen Imperium hoch. Dickes Geld half auch an anderer Stelle: Joesley Batista, CEO von JBS und Sohn des Gründers, ist, wie sein Bruder Wesley, in einen riesigen Korruptionsskandal verwickelt: Seit 2010 hat die Fleischfirma 172 Millionen Euro an illegalen Wahlspenden und Bestechungsgeld an insgesamt 1 829 Politiker aus 28 unterschiedlichen Parteien gezahlt. Damit erkaufte sich der Steak-Clan Parlamentsstimmen gegen unliebsame Gesetze, den Erlass von Steuerschulden und den Zugang zu Insiderwissen. Im Wahlkampf 2014 ließ JBS umgerechnet 100 Millionen Euro illegal in die Taschen von Politikern fließen. Etwa ein Drittel des aktuellen brasilianischen Kongresses wurde von JBS geschmiert. Die Batista-Brüder haben zwar mit der brasilianischen Staatsanwaltschaft einen Kronzeugen-Deal ausgehandelt: Sie würden vor Gericht alles zugeben und mit der Justiz zusammenarbeiten; zusätzlich würden sie ihr einen »dicken Fisch« ans Messer liefern. Namentlich Präsident Michel Temer, der ebenfalls tief im Korruptionssumpf steckt. Ihn hatten sogar die Batista-Brüder selbst mit vier Millionen Euro geschmiert. Weil sie jedoch der Staatsanwaltschaft wichtige Informationen vorenthielten, kamen sie aber in Untersuchungshaft.151

Obendrein ist JBS auch noch in einen Gammelfleischskandal verwickelt: Neben dem Hühnerfleischgiganten BRF wird auch JBS verdächtigt, über Jahre hinweg verdorbenes Fleisch weltweit verkauft und mit krebserregenden Mitteln präpariert zu haben, um Gestank und Verfall zu kaschieren. Außerdem sollen Fleischprodukte mit Kartoffeln, Wasser und Pappe gestreckt worden sein.152 Der Fleischkonzern soll dazu systematisch Inspektoren in Schlachthäusern bestochen haben – mit bis zu 6 000 Dollar pro Monat.

Und ausgerechnet diese kriminelle Firma will jetzt also am Runden Tisch für nachhaltiges Rindfleisch die Welt mit Massenmastanlagen retten. Gemeinsam mit den anderen Industriemitgliedern, für die solche Feedlots ein riesiges Geschäft bedeuten: für den Agrarhändler Cargill, der in diesem System noch mehr von seinem Sojafutter verkaufen kann. Für die Pharmakonzerne, deren Medikamente dort verstärkt zum Einsatz kommen werden. Für den Fast-Food-Konzern McDonald’s, der zu den Kunden von JBS zählt und der für seine siebzig Millionen Gäste am Tag jede Menge Rindfleisch für Hamburger braucht. Und für die Rabobank, die umstrittene Agrarinvestitionen in den Ländern des Südens tätigt.

Zehn Prozent der Rinder, die in Brasilien jedes Jahr geschlachtet werden, durchlaufen die sogenannte Endmast in Feedlots. Dieser Anteil soll sich bis 2023 von vier auf neun Millionen Tiere mehr als verdoppeln, schreibt 2014 die Rabobank. In ihrem Report Beefing up in Brazil: Feedlots to Drive Industry Growth schwärmt die niederländische Genossenschaftsbank geradezu über die »strahlenden Möglichkeiten« der exportierenden brasilianischen Fleisch- und Futterindustrie. Für diese Produktionssteigerung müssten Feedlots für zusätzliche 2,5 Millionen Rinder gebaut werden. Das würde zwischen 250 und 500 Millionen US-Dollar kosten.153 Klingt wie ein Kreditangebot.

Einige von den brasilianischen Feedlots in Mato Grosso, Mato Grosso do Sul und im Bundesstaat São Paolo gehören JBS. Sie fassen zwischen 140 000 und 160 000 Rinder. Darüber hinaus hat der Konzern 36 Fleischfabriken im ganzen Land. Klar, dass JBS an der Ausweitung der Intensivmast Interesse hat: In den kommenden zwanzig Jahren würden mehr Rinder in Brasilien weg von den Weiden in Feedlots gehen, verkündete JBS-Lobbyist Chandler Keys 2010 bei der Globale Conference on Sustainable Beef.154 Diese hatten Cargill, JBS, McDonald’s, Schering-Plough Animal Health, Walmart und der WWF in Denver einberufen.

»Niemand von uns würde heute in ein Krankenhaus gehen, wie es vor achtzig Jahren war. Das wäre verrückt, oder? Aber wenn es ums Essen geht, scheinen wir alle der Auffassung zu sein, dass Nahrung aus der guten alten Zeit so viel besser war als heute«, sagt Judith Capper. Es ist eines dieser klassischen Scheinargumente, mit denen Anhänger der industriellen Landwirtschaft ihre Gegner als ahnungslose und romantisch verblendete Ideologen abkanzeln. Capper, die sich »Bovidiva« nennt, ist wissenschaftliche Beraterin für die Fleisch- und Lebensmittelindustrie; sie war auch bei der Fleischkonferenz in Denver zu Gast. Der zitierte Satz stammt aus einem Interview, das Capper dem Breakthrough Institute gegeben hat.155 In diesem US-amerikanischen Think Tank versammeln sich sogenannte Ökomodernisten. Solche geben sich oft als Öko-Renegaden aus, die nun zur Vernunft gekommen sind, sich also gewissermaßen vom Paulus zum Saulus gewandelt haben. Sie propagieren einen »modernisierten Umweltschutz für das 21. Jahrhundert«. Innerhalb dessen sollen längst als zerstörerisch anerkannte Technologien wie Gentechnik, Atomkraft, Fracking und industrielle Intensivlandwirtschaft das Klima retten und den Welthunger beseitigen. Auch das ist eine Form des Greenwashing. Capper, die sich als geläuterte Exveganerin ausgibt, vertritt entsprechend die Meinung, dass es nachhaltiger und klimafreundlicher wäre, wenn Rinder in intensiver Mast gehalten würden.

»Wenn wir zum Beispiel in den USA komplett auf grasgefüttertes Rindfleisch umsteigen würden, würde das zusätzlich 64,6 Millionen Rinder erfordern, 530 000 Quadratkilometer mehr Land und 135 Millionen Tonnen mehr Treibhausgase. Wir hätten dann dieselbe Menge Fleisch, aber mit riesigen Umweltkosten«, sagt Capper im Interview. Kann schon sein. Allerdings essen die Amerikaner mit am meisten Fleisch auf der Welt – nämlich sagenhafte 112 Kilo pro Kopf und Jahr. Dass dieser grotesk hohe Fleischkonsum nicht nur tierethisch bedenklich ist,156 sondern ökologische und soziale Folgen zeitigt, ficht die »Bovidiva« nicht an. Im Gegenteil: Während sie als einzige Alternative die Intensivmast propagiert, kritisiert sie Veganer und Vegetarier: Deren »eindimensionale Patentrezepte« würden »keine Nachhaltigkeitsprobleme lösen«.157 Das unterfüttert Capper mit haarsträubenden Argumenten: Würde man dem (angeblichen) Willen der Veganer folgen und ließe sämtliche US-amerikanischen Kühe am Leben, würden binnen fünf Jahren mehr als 600 Millionen Kühe die USA bevölkern. Und würden weltweit alle Menschen Veganer und Vegetarier, bräuchte es Unmengen von Land, mineralischem Dünger und Pestiziden, um Getreide und Gemüse für sie herzustellen. Eine solche Minderheiten-Mehrheiten-Verdrehung macht automatisch die wenigen Vegetarier und Veganer zu Zerstörern und die Masse von Fleischessern zu Weltrettern. Eine äußerst bequeme und nur allzu gern gehörte »unbequeme Wahrheit«.

Faktisch ist es allerdings so, dass fast drei Viertel des landwirtschaftlichen Landes auf diesem Planeten für die Fleischproduktion genutzt werden – als Weideland und Anbauflächen für Tierfutter. Im sogenannten Sojagürtel, der sich von Argentinien über Bolivien, Brasilien und Paraguay bis Uruguay erstreckt, wachsen die Monokulturen auf einer Fläche größer als Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen. Der Großteil davon ist gentechnisch verändert und braucht in der Folge jede Menge Pestizide. Das Round-Up-Ready-Saatgut des Konzerns Monsanto, das dort zum Einsatz kommt, macht die Sojapflanze gegen Glyphosat immun und tötet alle anderen Wildkräuter. In Argentinien wächst auf der Hälfte der Ackerfläche des Landes Round-Up-Ready-Soja, in Brasilien in mindestens siebzig Prozent der Monokulturen. Alleine Argentinien versprüht über diesen Plantagen mindestens 200 Millionen Liter Glyphosat. Insgesamt kommen dort mehr als 300 Millionen Liter Pestizide auf die Felder, darunter auch hochgiftige Herbizide wie Endosulfat und D-2,4. Denn in Argentinien sind bereits sieben Unkrautarten gegen Glyphosat immun, in Brasilien fünf. Wenn immer mehr Gift gesprüht werden muss, klingeln die Kassen der Chemie- und Agrarkonzerne immer lauter. Für die Menschen in den Anbaugebieten aber bedeutet das Gift oft Leid und Tod: Die Krebsraten der Menschen, die in den Anbaugebieten im toxischen Nebel leben, sind um ein Vielfaches höher als in anderen Regionen. Fehl- und Totgeburten mehren sich. Kinder kommen mit Hirn- und Organschäden zur Welt. Atemwegs- und Hauterkrankungen sind weit verbreitet.

Hier wiederum sorgt der Runde Tisch für verantwortungsvolles Soja (RTRS) dafür, dass alles weitgehend bleiben kann, wie es ist. Zu diesem Horrorkabinett gehören Amaggi, Archer Daniel Midlands (ADM), Bunge, Cargill und Louis Dreyfuss, die zusammen den brasilianischen Sojamarkt unter sich ausmachen, Monsanto, Bayer Crop Science, BASF, Dow Agro Sciences, Syngenta, Glencore Grain, die Grüne Börse in Rio (BVRio), Rabobank, Shell, Danone, Nestlé, Mars, Lidl, Unilever und, natürlich, die Naturschutzmultis WWF, Conservation International und The Nature Conservancy.158 Vizepräsidentin ist ausgerechnet Juliana de Lavor Lopes, Managerin bei Amaggi. Dieser Konzern wird von Blairo Maggi, dem »Sojakönig«, geleitet. Er ist der größte Sojabauer- und -exporteur der Welt: Sein Getreide wächst im Bundesstaat Mato Grosso auf einer Fläche fast doppelt so groß wie die Kanarische Insel Teneriffa. Maggi war von 2003 bis 2011 Governeur von Mato Grosso. Als solcher setzte er sich bei der brasilianischen Regierung dafür ein, dass die Landrechte indigener Gruppen in seinem Bundesstaat nicht anerkannt wurden. Greenpeace verlieh dem Industriellen und Politiker die »Goldene Kettensäge«, weil in seiner Amtszeit mehr Wald denn je für Sojamonokulturen zerstört wurde. Ausgerechnet Blairo Maggi ist jetzt Landwirtschaftsminister von Brasilien.

Zwar ist in Brasilien seit 2006 das Soja-Moratorium in Kraft. Dieses verbietet den Verkauf von Soja, das auf illegal abgeholzten Flächen in der Amazonasregion angebaut wurde. Außerdem verpflichten die Farmer sich in diesem Moratorium, keine Urwaldflächen für den Anbau von Soja zu roden. Tatsächlich ging im Amazonas daraufhin die Entwaldungsrate zurück. Seit dem Moratorium entstanden bis 2014 nur noch etwa ein Prozent der neu geschaffenen Anbauflächen auf dafür abgeholztem Gebiet. Dafür ging an anderer Stelle fleißig die Motorsäge: Seit 2006 entstanden in Gebieten jenseits des Amazonas bis zu 23 Prozent der neuen Monokulturen auf eigens dafür gerodeten Flächen. Denn bis heute ist es nicht gelungen, das Soja-Moratorium auf andere Regionen als den Amazonas auszuweiten.

98 Prozent des Sojas aus Lateinamerika landen nicht in den Mägen von Menschen, sondern in Futtertrögen. Nur 67 Prozent aller angebauten Pflanzen der Welt dienen als Nahrungsmittel für Menschen. Der Rest wird zu Futter und Biosprit verarbeitet. Eine Studie der Universität Minnesota kommt zu dem Ergebnis, dass vier Milliarden Menschen mehr ernährt werden könnten, würde die Getreideernte zu Nahrungsmitteln verarbeitet.159 Und wenn in den OECD-Ländern nur ein Drittel weniger Fleisch konsumiert würde, wäre Ackerland von der Größe Deutschlands frei, um auf ihm Nahrung für Menschen anzubauen. Während nach wie vor fast eine Milliarde Menschen hungern, fressen die rund zwanzig Milliarden Tiere, die weltweit geschlachtet werden, die Hälfte des weltweit geernteten Getreides. Nutzpflanzen mit einem Brennwert von 100 Kalorien, die statt Menschen Tiere ernähren, dienen der Produktion von Fleisch, das nur ein Drittel dieser Energie bereitstellt. Ein einziges Kilo Rindfleisch schlägt in der Bilanz mit sieben bis sechzehn Kilo Futter und 600 000 Liter Wasser zu Buche. Darüber hinaus stammen knapp 70 Prozent der direkten Treibhausgasemissionen für Ernährung von tierischen Produkten.

In ihrer viel zitierten Untersuchung Der Umwelteinfluss der Rindfleischproduktion in den Vereinigten Staaten: 1977 und 2007 im Vergleich160 kommt Judith Capper trotzdem zu dem Ergebnis, dass die »moderne« Intensivhaltung von Rindern, die dort mit Getreidekraftfutter – auch Soja – gefüttert werden, weniger Land, Futter und Wasser bräuchte und somit klimafreundlicher sei als die Massentierhaltung in den siebziger Jahren, in der die Tiere vor allem Gras und Heu bekamen. Allerdings lässt Capper sowohl die Verwendung von Antibiotika, Beta-Blockern und Hormonen und deren Folgen außer Acht als auch den Einfluss der Sojamonokulturen und den hohen Pestizideinsatz auf Biodiversität und Gesundheit. Dass sich Landwirtschaft auch kleinteilig, regional und agrarökologisch denken ließe, ohne Monokulturen und ohne hohen Dünger- und Pestizideinsatz, dass deutlich weniger tierische Produkte konsumiert werden müssten: Das kommt ihr nicht in den Sinn. Dabei wird genau das keineswegs von angeblich verblendeten Ökoromantikern empfohlen, sondern von den Kleinbauernbewegungen in den Ländern des Südens und dem Weltagrarbericht, den mehr als 400 Experten und Wissenschaftler aus aller Welt 2008 erstellt haben.

»Essen Sie Rindfleisch? Welches Fleisch kaufen Sie?«, fragt das Breakthrough Institute Capper am Ende des Interviews. Ihre Antwort: »Ja, das tue ich! Als ich in den Staaten war, war es konventionelles, mit Getreide gefüttertes Rind. Jetzt, wo ich wieder in Großbritannien bin, ist das ein etwas anderes System – Hormonimplantate und Beta-Blocker sind von der Europäischen Union nicht zugelassen, sodass ich gewissermaßen mangels Alternative ›natürliches‹ Rindfleisch kaufe.«

Menschen in Europa wird umweltfreundliches Fleisch mit Beta-Blockern und Hormonen vorenthalten! Riesenskandal. So wird das dann natürlich nichts mit der Weltrettung.

Tatsachen verdrehen, isolierte Fakten überbetonen und entscheidende Details unterschlagen: So werden grüne Lügen hergestellt, die der Industrie als wissenschaftliche Belege dienen. Die Fabrikation dieser grünen Fake News, die schlicht besagen, dass der Status Quo alternativlos ist, hat mittlerweile die klassische Propaganda abgelöst, wie sie einst von Klimawandelleugnern verbreitet wurde. Jemand wie Cappers ist für eine Fleischindustrie, die sich als nachhaltig ausgibt, ein echter Glücksgriff. Und so überrascht es wenig, dass Capper zu den externen Beratern und Beobachtern des Globalen Runden Tisches für nachhaltiges Rindfleisch gehört.

2014 schrieben 23 Tierschutz- und Umweltorganisationen einen offenen Brief an den Vorstand des Global Roundtable for Sustainable Beef. Die Kriterien dieses Runden Tisches seien »im besten Fall nur etwas mehr als eine Ansammlung löblicher Hoffnungen, die ohnehin breit akzeptiert sind«. Die Vorgaben des Runden Tisches seien nur der Versuch, »Business as usual« als »nachhaltig auszugeben«.161 So sind am Globalen Runden Tisch für nachhaltiges Rindfleisch Antibiotika nicht verboten, nur der »verantwortungsvolle Umgang mit Tiermedizin« ist vorgeschrieben. Hormone und Beta-Blocker werden nicht einmal thematisiert, genauso wenig die schmerzhafte Entfernung der Hörner und Kastration. Die Tiere sollen in einem nicht näher definierten »Umfeld gehalten werden, das zu guter Gesundheit und normalem Verhalten führt sowie körperliches Unwohlsein minimiert.« Es soll »nachhaltig produziertes Futter« verwendet werden, wenn solches erhältlich ist.

Was »nachhaltiges Futter« sein soll?

Keine Angabe. Für die Expansion der Rinderzucht sollen weniger Bäume gefällt werden, die Entwaldung »eventuell ganz abgeschafft« werden. So wird an diesem Runden Tisch ein System, das seit Jahrzehnten ökologische und soziale Schäden hinterlässt, als Fortschritt gefeiert und dessen Ausweitung als nachhaltig. Unterschlagen wird dabei, dass die »Effizienz«, Tiere innerhalb kürzester Zeit zur Schlachtreife zu trimmen, eher dazu führen wird, dass sehr viel mehr von ihnen zu Steaks verarbeitet werden.

»Der Fleischkonsum wächst weltweit. In Brasilien werden jedes Jahr allein 38 Kilo Rindfleisch pro Kopf verzehrt. Glauben Sie wirklich, dass dieses hohe Niveau weltweit möglich ist?«, frage ich Fernando Sampaio.

»Es gibt Länder, die mehr Fleisch essen wollen, andere weniger. Man kann die Produktion verbessern, und das versuchen wir. Man darf nicht diktieren, was die Menschen zu essen haben sollen und was nicht.«

Blutige Steaks

Sônia Bone Guajajara sitzt auf dem Beifahrersitz und schaut unablässig auf das Display ihres Smartphones. Sie runzelt die Stirn, immer wieder tippt sie mit flinken Fingern Nachrichten.

»Du bist dauernd mit deinem Telefon beschäftigt, Sônia«, stichelt Werner.

Sônia schreckt hoch. »Hm? Ja, wirklich?« Sie lacht. »Ich muss doch lesen, ob es Neues bei den Ermittlungen gibt.«

»Welche Ermittlungen?«

»Es geht um die Terena, sie wollen ihr Land von einem Großgrundbesitzer zurück.«

Sônia ist das Oberhaupt der indigenen Bewegung in Brasilien und leitet die Vereinigung der brasilianischen Indigenen APIB. Sie selbst gehört zum indigenen Volk der Guajajara und stammt aus dem Bundesstaat Maranhão im Nordosten des Landes. Wir begleiten sie nach Nioaque ans westliche Ende des Bundesstaats Mato Grosso do Sul. Dort ist Sônia zur Assamblea der indigenen Stämme Terena und Guarani-Kaiowá eingeladen. Drei Tage lang werden sie besprechen, wo sie stehen und wie es weitergehen soll: Wie sie sich ihr Land zurückholen, das ihnen verfassungsmäßig zusteht – von den Fazendeiros, den Großgrundbesitzern.

»Mato Grosso do Sul ist das Land, in dem es am meisten Gewalt gegen Indigene gibt. Ständig werden Menschen misshandelt und umgebracht«, sagt Sônia.

»Warum ausgerechnet hier?«

»Weil es das Land mit den meisten Rinderfarmen ist. Und fast alle Farmen befinden sich auf traditionell indigenem Territorium. Die Regierung hat das Land der Indigenen einfach an die Farmer und Großgrundbesitzer gegeben. Aber wir erkämpfen es uns zurück.«

Nach der Amazonasregion ist Mato Grosso do Sul der Bundesstaat, in dem die meisten Indigenen Brasiliens leben. Die größte Gruppe der Indigenen ist die der Guarani-Kaiowá. »Die Wälder und Wiesen, die ihnen einst gehörten, nehmen eine Fläche von der Größe Deutschlands ein«, schrieb Die Zeit in einer Fotoreportage über den Kampf der Guarani-Kaiowá gegen die Großgrundbesitzer.162 Doch in den 500 Jahren seit der »Entdeckung« Lateinamerikas durch ihre kolonialen Unterdrücker wurde ihnen und auch dem Stamm der Terena fast das ganze Land in Mato Grosso do Sul geraubt. Laut dem National Institute for Colonisation and Agrarian Reform in Brasilien nehmen die 74 größten Farmen in Mato Grosso do Sul 24 000 Quadratkilometer ein, während gleichzeitig das Land, auf dem 77 000 Indigene leben, nur ein Drittel davon ausmacht. Beinahe die Hälfte des Landes befindet sich in der Hand von nur 700 Leuten.163

Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergab die brasilianische Regierung die Gebiete der Guarani- Kaiowá und Terena an weiße Siedler und zwang viele Indigene in Reservate. Die Expansion von Viehweiden, von Soja- und Zuckerrohrplantagen führte zu weiteren gewaltsamen Vertreibungen. 210 000 Quadratkilometer dienen hier Rindern als Weideland, die Anbaufläche für Soja hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren verdoppelt, die Fläche für Zuckerrohr, aus dem Bioethanol gemacht wird, versechsfacht, und die Maismonokulturen haben sich vervierfacht.

Die Landschaft, durch die wir die knapp zweihundert Kilometer von Campo Grande, der Hauptstadt des Bundesstaates, nach Nioaque fahren, ist ein einziges deprimierendes Industriegebiet. »Mato Grosso« heißt übersetzt »großer Wald«. Doch der ist hier fast komplett einem trostlosen Ödland gewichen. Hier und dort ragen die großen grauen Gebäude der Konzerne JBS, Cargill, ADM und Bunge empor. Nach der Sojaernte im Februar sprießen bereits neue Pflanzen auf den unüberschaubaren Äckern, sie wechseln sich ab mit Rinderweiden und Mais- wie Zuckerrohrmonokulturen. Würde nicht gerade ein Schwarm blauer Aras über uns hinwegfliegen, könnte das hier auch Niedersachsen sein.

Noch heute gehört Mato Grosso do Sul zu den brasilianischen Bundesstaaten, in denen am meisten Land geraubt wird. Wo nur Futter für Tiere und Tank wächst, bleibt für Menschen, die sich von ihrem Land ernähren wollen, kaum Platz: Am Straßenrand reihen sich rechts und links Bretterverschläge und armselige Zelte aus Plastikplanen, davor kämpfen handtuchgroße Gemüsegärten um ihr bisschen Leben. »Das sind die Hütten der Indigenen«, sagt Sônia. »Sie haben keinen Ort mehr, an den sie gehen könnten. Sie leben zwischen dem Asphalt und den riesigen Monokulturen.« Hier sind sie nicht nur Dreck, Abgasen und den giftigen Pestiziden ausgesetzt, die auf den Feldern ausgebracht werden, sondern werden auch immer wieder von Lastwagen angefahren, Kollisionen mit oftmals tödlichem Ausgang.

Nicht nur Großgrundbesitzer sind hier in Landraub verwickelt, sondern auch Konzerne. Ein Schlachthaus der Fleischfirma JBS zum Beispiel kaufte in Barra do Garças im Bundesstaat Mato Grosso noch 2011 von acht Rinderfarmen, die im Indigenengebiet Marãiwatsede lagen. Das Fleisch wurde in einer Fabrik in São Paulo zu Konserven verarbeitet, die nach Europa geliefert wurden – unter anderem an Tesco und die Metro Group.164 Coca-Cola kauft Zucker vom US-amerikanischen Lebensmittelgiganten Bunge in Brasilien, welcher wiederum Zuckerrohr von dem Land bezieht, das den Guarani-Kaiowá geraubt wurde. Fünf Farmen liegen im Indigenengebiet Jatayvary bei Dourados südlich der Hauptstadt von Mato Grosso do Sul, Campo Grande.165 Für sein angeblich nachhaltiges Coca Cola Life, das statt Zucker das süße Extrakt der Stevia-Pflanze enthält, will der Getränkemulti die Guarani-Kaiowá nun sogar direkt bestehlen. Coca-Cola will die Pflanze, die die Indigenen seit Jahrhunderten nutzen, patentieren und kommerzialisieren. Ein klarer Fall von Biopiraterie: Nach der Biodiversitätskonvention der Vereinten Nationen hätten die Guarani-Kaiowá ihr Einverständnis geben müssen. Selbstverständlich wurden sie nicht danach gefragt.166

»Wenn man der Industrie glaubt, ist das alles nachhaltig. Das Fleisch, das Soja, das Zuckerrohr. Was hältst du davon, Sônia?«, frage ich.

Sônia lacht. »Das Fleisch ist aus dem Blut der Indigenen gemacht. Und jede Monokultur ruiniert die Erde. Seit Tausenden von Jahren leben wir in Harmonie mit der Natur und vom Wald. Wir haben alles bewahrt. Dafür gibt es keinen Namen. Aber auf einmal reden alle von ›Nachhaltigkeit‹ und ›grün‹.«

Sônia mag es bunt. Zu roten Jeans trägt sie ein grünes T-Shirt. Darauf steht in weißen und gelben Buchstaben: »Guardias da Floresta«, übersetzt: »Hüterinnen des Waldes«. Sie zeigt auf einen großen dunklen, rechteckigen Block am Horizont. »Da seht ihr, kilometerlange Eukalyptusmonokulturen. Die sind grün. Aber es ist ein dreckiges Grün. Die großen Plantagen sind eine grüne Lüge.«

»Aber kann denn Essen für so viele Menschen wirklich natürlich hergestellt werden?«, fragt Werner.

»Ja, ich denke, das ist möglich. Einzelne kleine Bauern können die Menschen überall vor Ort versorgen. Die Plantagen hier füttern aber keine Menschen. Hier geht es nur um Profit, das meiste wird exportiert. Das Soja ist nicht für uns, das Fleisch auch nicht.«

Alle Guarani-Kaiowá, die in Mato Grosso do Sul leben, leiden an Hunger und Mangelernährung. 90 Prozent von ihnen sind von Lebensmittelhilfen abhängig. Das ergibt eine Studie der Menschenrechtsorganisation FIAN aus dem Jahr 2016.167 Sie haben keinen Wald mehr, der sie versorgen könnte, und kein Land, auf dem sie anbauen könnten. Viele von ihnen arbeiten wie Sklaven in den Plantagen. Die Hungerlöhne reichen nicht zum Leben. Die Kinder leiden am meisten: Sie sind mangelernährt und untergewichtig. Allein 2014 starben 55 indigene Kinder in Mato Grosso do Sul an Unterernährung.

Es ist nicht der einzige Terror, dem die Indigenen in Brasilien ausgesetzt sind. Statt sechs Millionen Indigener, die hier um das Jahr 1500 lebten, gibt es heute nur noch 800 000. Millionen von ihnen wurden umgebracht. Der Genozid an der brasilianischen Urbevölkerung gehört nicht nur der dunklen Zeit der Kolonialisierung durch europäische Mächte an. Damals starben große Teile der einheimischen Bevölkerung an den aus Europa eingeschleppten Krankheiten, an den Folgen der gnadenlosen Zwangsarbeit auf den Plantagen oder wurden schlicht umgebracht. Doch in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren wurden noch einmal mindestens 1 500 Indigene in blutigen Landkonflikten ermordet, die meisten davon in Mato Grosso do Sul.168

Die Welle der Gewalt ebbte nicht einmal ab, als die Vereinten Nationen die Sonderberichterstatterin für die Rechte indigener Völker schickte: Victoria Tauli-Corpuz hatte kurz vor unserer Ankunft Mato Grosso do Sul besucht, um sich die Situation der Indigenen anzusehen. Noch in derselben Nacht, in der Tauli-Corpuz abreiste, wurde ein Dorf, das sie besucht hatte, überfallen und eine Bewohnerin angeschossen.

In ihrem Bericht über den Besuch forderte die UN-Berichterstatterin die brasilianische Regierung auf, ihrer menschenrechtlichen Pflicht nachzukommen und das Leben der Indigenen zu schützen.169 Denn Brasilien hat die UN-Übereinkommen über indigene und in Stämmen lebende Völker unterzeichnet. Diese Übereinkunft beinhaltet auch den Anspruch der Indigenen auf ihre traditionellen Gebiete. Auch verpflichtete die brasilianische Verfassung 1988 den Staat dazu, binnen fünf Jahren alle indigenen Gebiete zu demarkieren und zurückzugeben. Doch bis heute hat die Regierung erst 1,6 Prozent der Fläche von Mato Grosso do Sul als indigenes Gebiet anerkannt. Das ist weniger als die Hälfte des Landes, das den Stämmen zusteht (etwa vier Prozent der Gesamtfläche von Mato Grosso do Sul).

Darüber hinaus hat die Regierung der Landwirtschaft und den Großgrundbesitzern komfortable Schlupflöcher in das brasilianische Demarkationsgesetz und selbst in die Verfassung gebohrt. Seit 2010 haben Indigene, die vor Oktober 1988 von ihrem Land vertrieben wurden, kein Anrecht mehr auf ihren angestammten Besitz. Erst in jenem Jahr erkannte Brasilien Indigene überhaupt als Rechtssubjekte an. Außerdem kann jeder Bürger Einspruch einlegen gegen die Demarkation, die eigentlich dafür sorgen soll, dass die Indigenen ihr Land erhalten. So enden Landkonflikte oft vor Gericht, wo meistens die Fazendeiros gewinnen. Nun versuchen viele Indigene, sich ihr Land gemeinsam zurückzuholen, indem sie Farmen besetzen. Seit den neunziger Jahren gibt es immer mehr von diesen Retomadas. Im Gegenzug hetzen ihnen die Fazendeiros, die sich an das Land klammern, das ihnen nicht gehört, Schlägertrupps und paramilitärische Gruppen auf den Hals.

Viele Stammesmitglieder leiden so sehr unter der ausweglosen und brutalen Situation, dass sie sich das Leben nehmen. Unter den Guarani-Kaiowá gibt es die höchste Selbstmordrate des Landes.

»Dieser Hass und diese Wut auf uns hat mit Geld und Gier zu tun. Der Kapitalismus bringt all diese Gewalt mit sich. Wir sind in unseren eigenen Dörfern nicht sicher, jeden Moment können wir von denen angegriffen werden, die unser Territorium ausbeuten wollen. Diese Leute wollen unsere Lebensweise nicht akzeptieren. Sie wollen uns erledigen, koste es, was es wolle«, sagt Sônia. »Wir können nicht in Frieden auf unserem Land unser gutes Leben führen.«

»Was ist ein gutes Leben, Sônia?»

Abermals erklingt ihr ansteckendes Lachen.

»Für uns bedeutet ein gutes Leben nicht, ein Auto zu besitzen oder ein gutes Haus aus Ziegeln. Es geht uns nicht immer um Besitz. Während wir für eine intakte Umwelt eintreten, denken andere Menschen anders. Sie wollen das Land ausbeuten. Wir pflanzen Bäume und lassen sie wachsen für bessere Luft, während die anderen einen Baum anschauen und sich nur fragen, wie viel Geld er wert ist. Für uns bedeutet ein gutes Leben, in Freiheit auf unserem Land zu leben und zu genießen, was die Erde uns bietet. Dafür brauchen wir die Garantie, dass dieses Land uns gehört.«

Diese Botschaft trägt die 43-jährige Sônia Bone Guajajara aus den kleinen Dörfern in die große Welt. Mehrfach hat sie vor den Vereinten Nationen gesprochen. Als wir sie in Campo Grande abholen, kommt sie gerade aus New York. Auch beim UN-Klimagipfel in Paris war sie zu Gast. Denn es sind nicht nur brasilianische Großgrundbesitzer, Regierung, korrupte Politiker und Agrarmultis, die in diesen Krieg gegen Indigene verwickelt sind. Sondern auch jene kapitalistischen Zentren, die Fleisch, Zuckerrohr und Soja importieren. Europa zum Beispiel.

Importierter Landraub

Kein anderer Kontinent konsumiert derart auf Kosten der Länder im globalen Süden wie Europa. Die EU beansprucht für ihre Grundnahrungsmittel und andere Konsumgüter aus landwirtschaftlicher Produktion anderswo in der Welt eine Fläche, die mit 6,4 Millionen Quadratkilometern eineinhalb mal größer ist als alle 28 Mitgliedstaaten zusammen.170 Zum Beispiel importiert sie Palmöl, Fleisch, Fisch und Meerestiere aus Aquakultur, Obst, Gemüse, Futtersoja, Zuckerrohr und Rohstoffe für Biosprit. Jeder EU-Bürger okkupiert im Schnitt sechsmal so viel Land wie ein Einwohner von Bangladesch.171

Diesen »Landfußabdruck« hat das Sustainable Europe Research Institute (SERI) in Wien berechnet. Wahrscheinlich ist er sogar noch sehr viel größer, denn der Landverbrauch importierter Produkte wie Baumwolle, Mineralien und Metalle wurde in der Kalkulation mangels Daten nicht berücksichtigt. Während also die Europäische Union ihre Außengrenzen immer höher zieht und sich gegen jene Menschen abschottet, die vor Armut, Hunger und Krieg hierherfliehen, verleibt sie sich wie selbstverständlich Land und Lebensgrundlagen anderer jenseits dieser Grenzen ein. Und zwar nicht selten dort, wo die Regierungen nicht einmal gewährleisten können, dass die eigene Bevölkerung mit ausreichend Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern versorgt wird. Das International Resources Panel des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) hat berechnet, wie viel Ackerland wir nutzen dürften, wenn dieses global fair verteilt würde: 0,2 Hektar pro Person und Jahr – das ist weniger als ein Sechstel dessen, was jeder Europäer derzeit verbraucht.172

Besonders großzügig am Land anderer Länder bedient sich, wie anders, die Bundesrepublik. Sie kauft jährlich Essen und Waren, die mehr als die doppelte Fläche Deutschlands andernorts beanspruchen. Nach den USA und China ist Deutschland der drittgrößte Importeur von Agrarprodukten der Welt. Und zwar vor allem aus den Ländern des Südens: Das Statistische Bundesamt (Destatis) hat bereits 2010 berechnet, dass in den sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern immer größere Agrarflächen von Deutschland belegt werden.173 Zwischen 2000 und 2010 sind die Flächen, die Deutschland für seine Lebensmittelproduktion im Ausland belegt, um 38 Prozent auf 180 000 Quadratkilometer gestiegen. Land, das dort für die eigene Produktion von Lebensmitteln verloren ist.

Dabei könnte sich das flächenmäßig fünftgrößte Land Europas fast komplett selbst mit Essen versorgen. Der Selbstversorgungsgrad mit Lebensmitteln, die in Deutschland angebaut und produziert werden können, liegt laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) bei 93 Prozent. Theoretisch. Praktisch ist Deutschland aber Nettoimporteur von Lebensmitteln. Denn die landwirtschaftlichen Flächen sind auch hier vor allem für die Fleischproduktion reserviert. Deutschland ist gleichzeitig auch der drittgrößte Agrarexporteur der Welt: Mehr als ein Viertel aller Erlöse erzielt die deutsche Landwirtschaft aus dem Export von Fleisch und Milch.174

Nirgends in Europa wird davon mehr erzeugt als in Deutschland. In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich alleine die Produktion von Fleisch in Deutschland verdoppelt. Sie erreichte 2015 einen Rekord von 8,25 Millionen Tonnen. Mehr als eineinhalb Millionen Tonnen davon werden exportiert, vor allem in EU-Länder und nach China.

Aber um die insgesamt 200 Millionen sogenannter »Nutztiere« in Deutschland zu füttern, werden auch hierzulande zwei Drittel der landwirtschaftlich genutzten Flächen für Tierhaltung genutzt: Als Weiden und zum Anbau von Futterpflanzen wie Mais und Weizen. Nur ein Fünftel des hier angebauten Getreides wird zu Nahrungsmitteln für Menschen verarbeitet, der Rest wandert in Futtertröge, Autotanks oder Biogasanlagen. Zwei Drittel des Gemüses muss Deutschland importieren, weil im Inland auf weniger als einem Prozent der landwirtschaftlichen Fläche noch Gemüse angebaut wird.

Bei 85 Prozent der Deutschen kommt jeden Tag Fleisch auf den Tisch. Kein Tierleid, kein BSE, kein Gammelfleischskandal, kein abgeholzter Regenwald und keine globale Ungerechtigkeit kann sie davon abhalten. 98 Prozent des Fleisches, das in Deutschland gegessen oder von dort exportiert wird, stammen aus Massentierhaltung. Immer weniger Betriebe bewirtschaften immer größere Flächen und Mega-Mastanlagen. Darin erzeugen sie immer mehr Fleisch, Milch und Eier in immer kürzerer Zeit.

Aber nicht einmal die irrsinnig großen landwirtschaftlichen Flächen, auf denen in Deutschland Tierfutter wächst, reichen aus, seine Schnitzel-, Eier- und Milch-Lieferanten zu ernähren. Sie fressen 80 Millionen Tonnen Futter pro Jahr. Für sie werden jedes Jahr 4,5 Millionen Tonnen Futtersoja vor allem aus Lateinamerika importiert. Das sind mehr als zehn Prozent der 35 Millionen Tonnen Sojabohnen, die jedes Jahr in die EU eingeführt werden. Alleine für den Fleischkonsum in der Europäischen Union werden in Lateinamerika Äcker der Größe Englands mit Soja bebaut.

Diese zerstörerische Form der Landwirtschaft und Ernährung ließe sich hierzulande nicht aufrechterhalten, wenn sich die Externalisierungsgesellschaften in Deutschland und Europa ihre Teller nicht in anderen Teilen der Welt bis zum Rand füllen würden.

Aber was, wenn sich die Menschen im globalen Süden das nicht bieten ließen? Wenn sie dagegen aufbegehrten, dass ihnen die Reichen in aller Welt das Land rauben? Was, wenn sie ihr Land nicht mehr hergeben?

Der Kampf hat begonnen

Sônia Bone Guajajara sitzt auf einer kleinen Holzbank unter schattigen Bäumen im Indigenendorf Nioaque. Sie hat die Jeans und das T-Shirt gegen ein hellblaues Trägerkleid getauscht, trägt Federohrringe und ein aus kleinen bunten Perlen geknüpftes Stirnband über ihren langen schwarzen Haaren. Viele Terena und Guarani-Kaiowá tragen zur Assamblea stolz ihre traditionelle Kleidung und Federschmuck. Wie eine Heldin ist Sônia von ihnen empfangen worden, als wir am Abend zuvor hier angekommen sind. Für viele Indigenen in Brasilien ist die mutige, unermüdliche und leidenschaftliche Landkämpferin genau das: eine Heldin. »Wir müssen zusammenhalten. Weil es nicht gegen Einzelne von uns geht, sondern gegen uns alle. Wir haben Verbündete – aber die Kraft und Stärke muss von uns kommen, aus unseren Wurzeln und von unseren Leuten«, sagt sie am Ende ihrer flammenden Begrüßungsrede. Helle Begeisterung schlägt ihr daraufhin von den versammelten Terena und Guarani-Kaiowá entgegen; wir spüren die Kraft, die Stärke und den Stolz der Assamblea, und die Jugendlichen der Stämme spüren sie offenbar auch, denn sie fotografieren mit ihren Smartphones Sônia wie einen Star. Ihren Star.

Auf der Bank neben Sônia sitzt Jucinei Terena. Auf der Assamblea repräsentiert er die indigenen Studenten von Mato Grosso do Sul. Mit feinem Pinsel und schwarzer Tusche malt er auf Sônias Arme und Unterschenkel traditionelle Muster. Das Dorf, in dem Jucinei lebt, ist eineinhalb Autostunden östlich von hier in Sidrolândia. Dort haben sich die Terena ihr Gelände, das halb so groß ist wie München, zurückerkämpft. Jahrzehntelang stand dort allerdings die Rinderfarm Fazenda Buriti. Denn 1927 hatte die Regierung das Land einfach jemand anders, einem gewissen Bacha, zugeteilt, obwohl es seit jeher den Indigenen gehört hatte. Sein Enkel, der Lokalpolitiker Ricardo Bacha, erbte von ihm die Farm. Die Terena protestierten immer wieder hartnäckig. Vergeblich, bis die Regierung ihnen endlich 2000 die Rückgabe des Landes versprach. Doch der Farmer verharrte ungerührt auf dem Hof. Im Mai 2013 besetzten mehrere Hundert Terena das Gelände. Ricardo Bacha weigerte sich weiterhin, das Land zurückzugeben. Mit Klagen und juristischen Manövern verzögerte er die rechtmäßige Übergabe an die Terena ins Unendliche. So lange, bis sich mehr als 1 500 Stammesangehörige via Facebook verabredeten, diese und drei weitere Ländereien in Mato Grosso do Sul, die ihnen gehören, zu stürmen.

Im Morgengrauen des 15. Mai 2013 kamen zweihundert Terena mit selbstgebastelten Böllern, Knüppeln und Lanzen auf die Buriti-Farm. Sie errichteten ein Camp und blieben mit ihren Familien dort zwei Wochen. Auch Jucinei war dabei. Dann allerdings schlug das System mit Macht zurück. Zehn Busse karrten mehr als hundert Polizisten auf das umkämpfte Land. Eliteeinheiten und Bundespolizisten. Mit Helmen und Schilden geschützt, schossen sie mit Gummipatronen und scharfer Munition auf die Terena.

»Diesen Tag werde ich mein Leben lang nicht vergessen«, sagt Jucinei, »denn an diesem Tag ist unser Bruder umgebracht worden. Ihm wurde in den Bauch geschossen. Zehn Minuten später war er tot.«

Am 30. Mai 2013 wurde der Terena Oziel Gabriel erschossen. Er war 38 Jahre alt, als ihn die Polizeikugel traf.175 Viele andere wurden verletzt; auch Jucinei wurde von einer Gummikugel getroffen. »Die Fazendeiros unterstützen sich gegenseitig. Immer, wenn wir kurz davor sind, unser Land zurückzubekommen, greifen sie uns an. Sie ziehen selbst die National Public Security Force auf ihre Seite, die uns eigentlich beschützen und helfen müsste, die Konflikte zu lösen«, sagt Jucinei, während er auf Sônias Haut schwarze Dreiecke und feine Linien zeichnet. »Die Regierung, die uns unsere Gebiete zurückgeben muss, sieht in uns ein Hindernis für die Entwicklung des Landes. Aber was ist das für eine Entwicklung? Eine, in der nur derjenige etwas zählt, der Geld hat. Wer nichts besitzt, ist nichts wert.«

Heute leben die Terena zwar auf dem Gelände der Buriti-Farm. Doch sie werden nach wie vor bedroht. Immer wieder tauchen nachts Fahrzeuge auf, um sie einzuschüchtern, außerdem habe es weitere Schießereien gegeben, sagt Jucinei. »Aber wir werden weiter Widerstand leisten.«

»Denkt ihr, die Menschen in Europa würden irgendetwas verlieren, wenn ihr Gerechtigkeit bekommt?«, frage ich die beiden.

»Ich glaube nicht, dass jemand verlieren würde«, sagt Sônia und betrachtet ein wenig ungeduldig Jucineis langsame Pinselarbeitet. »Es ist eine Täuschung zu sagen, wenn hier nicht mehr so produziert wird, verliert Europa. Wir Menschen können uns anderen Verhältnissen anpassen. Es muss ein anderes System geben. Die Menschen werden vom Wirtschaftssystem beherrscht, das dürfen wir nicht zulassen. Die Menschen müssen das System beherrschen.«

»So einfach ist das?«, fragt Werner.

Sônia lacht laut: »Nein! Es ist nicht einfach, das behaupte ich nicht. Alles ist schwierig, deshalb kämpfen wir jeden Tag. Wenn es einfach wäre, dann wäre es nichts für uns, oder? Es ist für die Starken, deshalb haben wir diesen Auftrag bekommen. Wir müssen dranbleiben, jeden Tag darüber reden, herumreisen und es der Welt sagen. Und fest daran glauben, dass die Geschichte eines Tages ihren Lauf ändert.«

Es ist Sonntagvormittag, im Städtchen Aquidauana läuten die Glocken der weißen Basilika. Wir holen Estevinho Floriano Teragao Terena ab. Er hat uns ins Dorf seiner Leute eingeladen. Auf dem Kopf trägt er Schmuck aus blauen Arafedern, dazu Gesichtsbemalung. Auf unserem Weg nach Cristalina bittet er uns anzuhalten. Wir steigen aus und stehen vor einer großen, umzäunten Weide. Die weißen Rinder heben neugierig den Kopf.

»Dieses Land, das ihr hier seht«, sagt Estevinho, »nutzen Großgrundbesitzer, das sieht man daran, dass es nicht natürlich ist. Aber es gehört zu unserem Dorf. Sie müssen es uns zurückgeben, das ist unser verfassungsmäßiges Recht.«

Die Farmer aber wehren sich dagegen mit Händen und Füßen. Sie bedrohen Estevinho. Sie schicken seinem Vater SMS, in denen steht: »Dein Sohn ist dem Tode nah.« Als nach dem Ende der Assamblea in Nioaque am Tag zuvor ein Bus die Terena hierher zurückbrachte, blieb er im Matsch stecken. Dann sei der Farmer vorbeigekommen. »Ich helfe euch nicht«, habe er dem Fahrer gesagt, »sag den Indianern, ich werde sie alle umbringen.«

»Wie wollt ihr euch das Land zurückerkämpfen?«, fragt Werner.

»Wir versammeln dreihundert bis vierhundert Krieger und sagen dem Farmer und seinem Anwalt: ›entschuldigt bitte, das ist unser Land. Ihr habt soundso viele Tage Zeit, es zu verlassen.‹«

»Und dann?«

»Manchmal verklagen sie uns, denn sie wollen das Land behalten. Sie erfinden viele Dinge, weil sie wissen, dass wir kein Geld haben. Aber wir haben Freunde und Verbündete. Wir haben uns schon sieben Farmen zurückgeholt. Und wir werden uns auch alle anderen erkämpfen.«

Die Farm Cristalina liegt auf einem Hügel nahe Aquidauana. Auf der Wiese um das Haus tollen ausgelassen Schweine herum, Hühner scharren zwischen den Bäumen. Wir stehen mit Estevinho am Gatter und schauen über das weite Land. Auf der Wiese nähern sich ein paar Kälber.

»Wir haben es geschafft, diese Farm und dieses Land wiederzubekommen. Danke, dass ihr gekommen seid, um unser Leben und unsere Gemeinschaft kennenzulernen.«

Estevinho zeigt auf den Wald am Horizont und die Baumgruppen am Fuß des Hügels.

»Wir haben wieder Bäume gepflanzt, damit wir reine Luft und sauberes Wasser haben. Wir pflanzen Reis, Bohnen, Mais und Gemüse. Wir leben unsere indigene Tradition mit der Natur. Ihr habt mich gefragt, was für mich Nachhaltigkeit bedeutet? Das hier ist für uns die würdigste Form davon.«

Die Abendsonne färbt die Wiesen, die Bäume und den Wald golden. Wenn nicht gerade Vögel zwitschern, Hühner gackern, Kühe schnauben und Schweine grunzen, dann ist es für Momente so still, dass man nur den Wind hört, der im Gras und mit den Blättern spielt. Die Schatten der Abendwolken, die einander über den blauen Himmel jagen, machen die Landschaft zu einem immer neuen, fast unwirklich schönen Gemälde. Tukane fliegen vorbei. Mit ihren bunten, großen Schnäbeln sehen sie aus wie an den Himmel gezeichnete Comicfiguren. Das hier ist einer der schönsten und friedlichsten Flecken Erde, die ich jemals betreten habe. Ich würde gerne bleiben. Und als wir später mit Estevinho und seinen Leuten Essen, Bier, Spaß und Hoffnung teilen, da wird es plötzlich greifbar, das gute Leben in einer besseren Welt jenseits des Kapitalismus. Und das fühlt sich sehr, sehr gut an.