Frex sorgte sich mehr um Melena, als sie ahnte. Er hielt bei der ersten Fischerhütte an, die auf seinem Weg lag, und sprach mit dem Mann in der Klöntür. Ob ein oder zwei Frauen den Tag und wenn nötig die Nacht bei Melena verbringen könnten? Es wäre sehr freundlich. Frex nickte mit einer Andeutung von Dankbarkeit und nahm wortlos zur Kenntnis, dass Melena in der Nachbarschaft nicht sehr beliebt war.
Bevor er um das Ende des Übelsees herum weiter nach Binsenrain ging, blieb er an einem umgestürzten Baum stehen und zog zwei Briefe aus seiner Schärpe.
Der Absender war ein entfernter Verwandter von Frex, ebenfalls Pfarrer. Wochen zuvor hatte dieser Zeit und wertvolle Tinte auf eine Beschreibung der sogenannten Uhr des Zeitdrachens gewandt. Frex rüstete sich für die heilige Schlacht dieses Tages, indem er abermals die Angaben über die Götzenuhr las.
Ich schreibe in Eile, Bruder Frexspar, um meine Eindrücke festzuhalten, bevor sie verblassen.
Die Uhr des Zeitdrachens ist auf einen Wagen montiert und hochragend wie eine Giraffe. Sie ist nichts anderes als ein wackelndes, freistehendes Theater, an allen vier Seiten mit kleinen eingelassenen und vorgebauten Bühnen versehen. Auf dem flachen Dach sitzt ein mechanischer Drache, eine Phantasiefigur aus grün bemaltem Leder, mit silbrigen Klauen und Rubinaugen. Seine Haut besteht aus Hunderten von überlappenden Kupfer-, Bronze- und Eisenscheibchen. Unter den elastischen Falten seiner Schuppen befindet sich ein vom Uhrwerk bewegtes Gerüst. Der Zeitdrache dreht sich auf seinem Sockel, schlägt mit seinen schmalen Lederflügeln (sie machen ein Geräusch wie ein Blasebalg) und stößt gelbrote, schweflig stinkende Flammenbälle aus.
In den Dutzenden von Türen, Fenstern und Balkonen darunter sieht man Puppen, Marionetten, Figürchen. Märchen- und Sagengeschöpfe. Karikaturen von Bauern und Königen gleichermaßen. Tiere und Feen und Heilige – unsere unionistischen Heiligen, Bruder Frexspar, kaltschnäuzig geraubt und missbraucht! Das empört mich maßlos! Die Figuren bewegen sich auf Kettenrädern. Sie kreisen zu den Türen hinein und hinaus. Sie knicken in der Taille ab, sie tanzen und tändeln und schäkern miteinander.
Wer hatte diesen Zeitdrachen in die Welt gesetzt, dieses falsche Orakel, dieses Propagandawerkzeug der Bosheit, das die Macht des Unionismus und des Namenlosen Gottes anfocht? Die Bediener der Uhr waren ein Zwerg und ein paar schmalhüftige Gehilfen, die zusammen gerade genug Grips zu haben schienen, um den Hut herumgehen zu lassen. Wer außer dem Zwerg und seinen Schönlingen zog sonst noch Nutzen daraus?
In seinem zweiten Brief kündigte der Verwandte an, dass das nächste Ziel der Uhr Binsenrain sein sollte. Diesmal war seine Beschreibung genauer.
Die Vorstellung begann mit lautem Saitengeschrummel und Knochengerassel. Unter Oh! und Ah! drängte sich die Menge möglichst nahe heran. Im erleuchteten Fenster einer Bühne sahen wir ein Ehebett mit den Puppen von Mann und Frau. Der Mann schlief, und die Frau seufzte. Mit beredten Bewegungen ihrer hölzernen Hände gab sie zu verstehen, dass ihr Mann an entscheidender Stelle enttäuschend klein war. Das Publikum kreischte vor Lachen. Die Puppenfrau schlief ihrerseits ein. Als sie schnarchte, stahl sich der Puppenmann aus dem Bett.
An diesem Punkt drehte sich hoch oben der Drache auf seinem Untersatz und deutete mit seinen Krallen in die Menge, und zwar, ohne jeden Zweifel, auf einen einfachen Brunnenbauer namens Gren, einen treuen, wenn auch nachlässigen Ehemann. Dann richtete sich der Drache auf und machte, leicht zurückgelehnt, mit zwei Fingern »Komm her!«, womit eine Witwe namens Letta und ihre minderjährige, schiefzahnige Tochter gemeint waren. Die Menge verstummte und trat von Gren, Letta und dem errötenden Mädchen zurück, als ob sie urplötzlich ansteckende Eiterbeulen bekommen hätten.
Der Drache ließ sich wieder nieder, legte aber einen Flügel über ein anderes Bühnenportal, woraufhin dieses aufleuchtete und der durch die Nacht streifende Puppenmann erschien. Sogleich kam eine Puppenwitwe mit wild abstehenden Haaren und hochrotem Kopf an, die eine widerspenstige Tochter mit Kieselsteinzähnen mitschleifte. Die Witwe küsste den Puppenmann und zog ihm die Lederhosen aus. Er war mit zwei kompletten männlichen Geschlechtsteilen ausgestattet, eins vorne, ein zweites hinten am Steiß. Die Witwe pflanzte ihre Tochter auf das kürzere Horn vorne und ließ sich selbst das imposantere Gemächt am Hinterteil angedeihen. Die drei Puppen ruckten und zuckten und quietschten vor Freude. Als die Puppenwitwe und ihre Tochter fertig waren, stiegen sie ab und küssten den buhlerischen Ehemann. Dann rammten sie ihm gleichzeitig vorne und hinten ein Knie in den Unterleib. An Federn und Gelenken schwingend hielt er sich seine malträtierten Teile.
Das Publikum brüllte. Gren, der leibhaftige Brunnenbauer, schwitzte weinbeerengroße Tropfen. Letta rang sich ein schallendes Lachen ab, doch ihre Tochter war vor Scham schon geflohen. Bevor der Abend um war, wurde Gren von seinen aufgeputschten Nachbarn überfallen und auf die bizarre Anomalie hin untersucht. Letta wurde gemieden. Ihre Tochter ist wie vom Erdboden verschluckt. Wir befürchten das Schlimmste.
Wenigstens haben sie Gren nicht umgebracht. Doch wer kann sagen, wie es unsere Seelen geprägt hat, solch ein grausames Drama mitzuerleben? Alle Seelen sind ihren menschlichen Hüllen verhaftet, aber ein solches würdeloses Spektakel muss seelische Verkümmerung und Leid zur Folge haben …
Manchmal hatte Frex den Eindruck, dass sämtliche Wanderhexen und zahnlos sabbelnden Seher in Oz, sofern sie auch nur das billigste Zauberkunststück veranstalten konnten, sich auf den abgelegenen Bezirk Wederhartung gestürzt hatten, um ein paar Kreuzer zu verdienen. Er wusste, dass die Bewohner von Binsenrain einfache Leute waren. Sie hatten ein hartes Leben und wenig zu hoffen. Je länger die Dürre anhielt, umso mehr bröckelte ihr unionistischer Glaube ab. Frex war sich darüber im Klaren, dass die Uhr des Zeitdrachens den Reiz der Technik und der Magie in sich vereinigte – er würde seine tiefsten Reserven an religiöser Überzeugungskraft aufbieten müssen, um sie zu besiegen. Wenn seine Gemeinde sich als anfällig für den sogenannten Freudenkult erweisen und dem Spektakel und der Gewalt erliegen sollte – was mochte dann als Nächstes kommen?
Er würde siegen. Er war ihr Pfarrer. Seit Jahren zog er ihre Zähne und beerdigte ihre Kinder und segnete ihre Kochtöpfe. Er hatte sich für sie erniedrigt. Er war mit zerzaustem Bart und einer Almosenschale von Dorf zu Dorf gezogen, hatte die arme Melena wochenlang im Pfarrhaus alleingelassen. Er hatte Opfer für sie gebracht. Sie durften sich von diesem Ding, diesem Zeitdrachen nicht irremachen lassen. Das waren sie ihm schuldig.
Die Schultern gestrafft, das Kinn vorgeschoben, ein saures Brennen im Magen, so setzte er seinen Weg fort. Der Himmel war braun von fliegendem Sand und Staub. Mit an- und abschwellendem Heulen brauste der Wind hoch über die Hügel, als ob er sich auf einem Berg weit hinter Frex’ Gesichtskreis durch eine Felsspalte zwängte.