Um Heilung des Unheils bemüht

Tagelang brachte Melena es nicht über sich, das Balg anzuschauen. Sie hielt es, wie es sich für eine Mutter gehörte. Sie wartete darauf, dass das Grundwasser der Mutterliebe anstieg und sie überflutete. Sie weinte nicht. Sie kaute Spitzlappblätter, um Abstand von dem Unglück zu bekommen.

Es war eine Sie. Ein Mädchen. Wenn sie allein war, versuchte Melena umzudenken. Das zappelnde, unglückliche Bündel war nicht männlich; es war nicht kastriert; es war weiblich. Es schlief und sah dabei aus wie ein Haufen Kohlblätter, die man gewaschen und zum Abtropfen auf den Tisch gelegt hatte.

In einem Panikanfall schrieb Melena nach Kolkengrund, um Ämmchen dem Ruhestand zu entreißen. Frex fuhr mit einer Kutsche nach Hintersteinfurt, um Ämmchen an der Poststation abzuholen. Auf dem Rückweg fragte sie Frex, was denn im Argen liege.

»Im Argen.« Er seufzte und versank in Gedanken. Ämmchen begriff, dass sie ihre Worte schlecht gewählt hatte, denn jetzt gingen Frex andere Dinge durch den Kopf. Er fing an, allgemein etwas über das Wesen des Bösen zu murmeln. Ein Vakuum, entstanden durch die unerklärliche Abwesenheit des Namenlosen Gottes, aufgefüllt vom Einstrom geistlichen Gifts. Ein Strudel.

»Ich will wissen, wie der Zustand des Kindes ist!«, explodierte Ämmchen. »Ich muss nichts vom Universum erfahren, wenn ich irgendwie von Nutzen sein soll, sondern von einem bestimmten Kind! Warum lässt Melena mich kommen und nicht ihre Mutter? Warum kein Brief an ihren Großvater? Er ist schließlich die Eminenz Thropp, herrje! Melena kann ihre Pflichten nicht so gründlich vergessen haben, oder ist das Leben bei euch auf dem Lande noch schlimmer, als wir dachten?«

»Es ist schlimmer, als wir dachten«, sagte Frex grimmig. »Das Kind – du solltest darauf gefasst sein, Ämmchen, damit du keinen Schreck bekommst –, das Kind hat einen Schaden.«

»Einen Schaden?« Ämmchen fasste den Griff ihrer Tasche fester und schaute auf die rotblättrigen Perlfruchtbäume am Straßenrand. »Frex, erzähl mir alles.«

»Es ist ein Mädchen«, sagte Frex.

»Weiß Gott ein Schaden«, sagte Ämmchen spöttisch, aber wie üblich merkte Frex die Spitze nicht. »Na, immerhin bleibt der Titel eine weitere Generation in der Familie. Hat sie sämtliche Gliedmaßen?«

»Ja.«

»Mehr als nötig?«

»Nein.«

»Trinkt sie?«

»Wir können es nicht an die Brust lassen. Es hat außergewöhnliche Zähne, Ämmchen. Es hat Haifischzähne oder so was in der Art.«

»Na, sie ist nicht das erste Kind, das aus der Flasche oder einem Lappen trinkt statt aus der Brust, mach dir darüber keine Sorgen.«

»Es hat die falsche Farbe«, sagte Frex.

»Welche Farbe ist denn die falsche?«

Eine Weile konnte Frex nur den Kopf schütteln. Ämmchen mochte ihn nicht, und sie würde ihn auch nicht mögen lernen, aber sie wurde milder gestimmt. »Frex, so schlimm kann es nicht sein. Es gibt immer einen Ausweg. Erzähl es dem Ämmchen.«

»Es ist grün«, sagte er schließlich. »Ämmchen, es ist grün wie Moos.«

»Sie ist grün, willst du sagen. Es ist eine Sie, um Himmels willen!«

»Das ist nicht der Wille des Himmels.« Frex fing zu weinen an. »Der Himmel hat nichts davon, Ämmchen, und der Himmel hält nichts davon. Was sollen wir tun?«

»Ruhig Blut.« Ämmchen verabscheute Männer, die weinten. »Ganz so schlimm wird es schon nicht sein. In Melenas Adern fließt kein Tropfen gemeines Blut. Was immer sich das Kind eingefangen hat, das Ämmchen wird es schon wieder richten. Vertraue nur dem Ämmchen.«

»Ich habe auf den Namenlosen Gott vertraut«, schluchzte Frex.

»Wir arbeiten nicht immer gegeneinander, Gott und das Ämmchen«, sagte Ämmchen. Sie wusste, dass das Lästerung war, aber sie konnte sich den Hieb nicht verkneifen, wo Frex gerade so wunderbar wehrlos war. »Keine Bange, ich werde Melenas Familie kein Sterbenswörtchen verraten. Wir bringen das blitzschnell in Ordnung, und niemand muss etwas davon erfahren. Hat die Kleine einen Namen?«

»Elphaba«, sagte er.

»Nach der heiligen Aelphaba vom Wasserfall?«

»Ja.«

»Ein guter alter Name. Ihr werdet den üblichen Kosenamen Fabala gebrauchen, nehme ich an.«

»Wer weiß, ob sie überhaupt lange genug lebt, um einen Kosenamen zu erhalten.« Frex klang, als hoffte er auf diesen Ausgang.

»Interessante Landschaft. Sind wir schon in Wederhartung?«, fragte Ämmchen, um das Thema zu wechseln. Aber Frex war innerlich zugeklappt und achtete kaum mehr darauf, die Pferde auf den richtigen Weg zu lenken. Das Land war schmutzig, trostlos, bäurisch; Ämmchen wünschte, sie wäre nicht in ihren besten Reisesachen gefahren. Straßenräuber konnten auf den Gedanken kommen, dass eine so vornehm aussehende ältere Frau Gold mit sich führte, und damit hätten sie recht gehabt, denn Ämmchen trug ein goldenes Strumpfband, das sie vor Jahr und Tag aus dem Boudoir der gnädigen Frau gestohlen hatte. Was für eine Schande, wenn dieses Strumpfband all die Jahre später an Ämmchens immer noch wohlgeformtem Schenkel auftauchte! Doch Ämmchens Ängste waren unbegründet, denn die Kutsche rollte ohne Zwischenfall in den Hof des Pfarrhauses ein.

»Lass mich gleich als Erstes das Kind sehen«, sagte Ämmchen. »Es wird Melena eine Last abnehmen, wenn ich schon weiß, womit wir es zu tun haben.« Und das war nicht schwer zu bewerkstelligen, denn dank einiger Spitzlappblätter döste Melena vor sich hin, während die Kleine leise quäkend in einem Korb auf dem Tisch lag.

Ämmchen zog sich einen Stuhl heran, damit sie sich nichts tat, wenn sie auf der Stelle ohnmächtig wurde. »Frex, stell den Korb auf den Boden, damit ich hineinschauen kann.« Frex gehorchte und fuhr dann los, um Pferde und Kutsche Bfie zurückzubringen, der sie selten für bürgermeisterliche Verpflichtungen benötigte, aber sie gelegentlich auslieh, um politisches Kapital daraus zu schlagen.

Ämmchen sah, dass der Säugling in Windeln gewickelt und der Mund mit einer Schlinge unterm Kinn und über den Ohren zugebunden war. Die schnaufend emporgereckte Nase sah aus wie ein kleiner Giftpilz, und die Augen waren offen.

Ämmchen beugte sich näher heran. Das Kind konnte nicht älter sein als, was, drei Wochen? Doch als Ämmchen sich hin und her bewegte und das Profil der Stirn aus diesem Winkel und jenem betrachtete, um den Verstand zu beurteilen, verfolgten sie die Augen des Mädchens. Sie waren tiefbraun, die Farbe umgepflügter Erde, mit Glimmer gesprenkelt. In jedem Augenwinkel war ein Netz zarter roter Linien, als ob von der Anstrengung des Guckens und Verstehens die Äderchen geplatzt wären.

Und die Haut, ach ja, die Haut war grün wie die Sünde. Keine hässliche Farbe, fand Ämmchen. Nur keine menschliche Farbe.

Sie streckte die Hand aus und strich mit dem Finger über das Bäckchen der Kleinen. Das Kind zuckte zurück und drückte das Rückgrat durch, und das Wickeltuch, in das es vom Hals bis zu den Zehen fest eingepackt war, ging auf wie eine Schote. Ämmchen biss die Zähne zusammen und war entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Die Kleine hatte Ober- und Unterleib entblößt, und die Haut auf der Brust hatte dieselbe auffällige Farbe. »Habt ihr das Kind überhaupt schon mal angefasst, ihr zwei?«, murmelte Ämmchen. Sie legte die flache Hand auf die schwer atmende Brust des Kindes, so dass ihre Finger die kaum sichtbaren kleinen Brustwarzen bedeckten, und ließ sie dann nach unten gleiten, um die Beschaffenheit dort zu untersuchen. Das Kind war nass und schmutzig, schien aber von ganz normaler Bauart zu sein. Die Haut war genauso ein Wunder an geschmeidiger Glätte, wie die von Melena als Säugling gewesen war.

»Komm zum Ämmchen, du scheußliches kleines Ding du.« Ämmchen beugte sich vor, um die Kleine aufzuheben, besudelt, wie sie war.

Die Kleine wand sich, um der Berührung auszuweichen. Ihr Kopf schlug gegen den Binsenboden des Korbes.

»Du hast im Mutterleib Tänzchen gemacht, wie ich sehe«, sagte Ämmchen. »Zu wessen Musik, wüsste ich gern. So wohlentwickelte Muskeln! Nein, du kommst mir nicht aus. Komm her, du Dämönchen! Ämmchen macht sich nichts daraus. Ämmchen hat dich lieb.« Sie log wie gedruckt, doch im Gegensatz zu Frex glaubte sie, dass manche Lügen vom Himmel gutgeheißen wurden.

Und sie bekam Elphaba zu fassen und packte sie sich auf den Schoß. Dann wartete Ämmchen, gurrte vor sich hin und schaute ab und zu weg, zum Fenster hinaus, um sich nicht zu übergeben. Sie rieb der Kleinen den Bauch, um sie zu beruhigen, doch sie wollte sich nicht beruhigen lassen, jedenfalls noch nicht.

Melena stemmte sich auf die Ellbogen hoch, als Ämmchen am späten Nachmittag ein Tablett mit Tee und Brot brachte. »Ich habe mich schon häuslich eingerichtet«, sagte Ämmchen, »und ich habe mich mit deinem kleinen Liebling angefreundet. Jetzt komm mal zu dir, Schätzchen, und lass dir einen Kuss geben.«

»Ach, Ämmchen!« Melena ließ sich liebkosen. »Danke, dass du gekommen bist. Hast du die kleine Bestie gesehen?«

»Sie ist entzückend«, sagte Ämmchen.

»Lüg nicht, und versuch nicht, mich zu schonen«, sagte Melena. »Wenn du helfen willst, musst du ehrlich sein.«

»Wenn ich helfen soll, musst du ehrlich sein«, erwiderte Ämmchen. »Wir müssen nicht gleich darüber sprechen, aber ich werde alles erfahren müssen, mein Liebes. Damit wir entscheiden können, was zu tun ist.« Sie schlürften ihren Tee, und weil Elphaba irgendwann einschlief, war es ein Weilchen so wie in alten Zeiten in Kolkengrund, wenn Melena von nachmittäglichen Spaziergängen mit feschen jungen Landadeligen auf Freiersfüßen nach Hause kam und von deren männlicher Schönheit schwärmte, die Ämmchen gar nicht bemerkt zu haben vorgab.

Allerdings fielen Ämmchen im Lauf der Wochen einige recht beunruhigende Dinge an der Kleinen auf.

Beispielsweise wollte Ämmchen das Kind gern von der Verschnürung befreien, doch Elphaba schien gewillt zu sein, sich die eigenen Hände abzubeißen, und die Zähne in ihrem hübschen, dünnlippigen Mund waren in der Tat furchterregend. Ungehindert hätte sie ein Loch durch den Korb gebissen. Sie schnappte nach ihrer eigenen Schulter und kratzte sie wund. Die Schlinge erwürgte sie fast.

»Kann nicht ein Barbier kommen und ihr die Zähne ziehen?«, fragte Ämmchen. »Wenigstens bis sie ein wenig Selbstbeherrschung lernt?«

»Du bist ja von Sinnen«, sagte Melena. »Es würde sich im ganzen Tal herumsprechen, dass die kleine Range grün ist. Der Mund bleibt zugebunden, bis wir das Hautproblem gelöst haben.«

»Wie um alles in der Welt ist ihre Haut grün geworden?«, sinnierte Ämmchen und schien damit einen wunden Punkt zu berühren, denn Melena wurde weiß und Frex rot, und die Kleine hielt den Atem an, als wollte sie zur allgemeinen Unterhaltung blau werden. Ämmchen musste ihr einen Klaps geben, damit sie wieder zu atmen anfing.

Draußen im Garten nahm Ämmchen Frex ins Gebet. Nach dem doppelten Schlag der Geburt und seiner öffentlichen Demütigung konnte er seinen beruflichen Pflichten noch nicht wieder nachkommen und saß stattdessen müßig herum, schnitzte Gebetsperlen aus Eichenholz und versah sie mit Emblemen der Namenlosigkeit Gottes. Ämmchen stellte Elphaba drinnen ab – sie hatte eine irrationale Furcht davor, dass dieses Kind mithörte, was sie sagten, und, schlimmer noch, es verstand –, setzte sich vor die Tür und schälte zum Abendessen einen Kürbis.

»Ich gehe mal davon aus, Frex, dass ihr in eurer Familie keine Fälle von grüner Haut habt«, fing sie an, obwohl sie sicher war, dass Melenas mächtiger Großvater eine solche Anlage ausgeschlossen hatte, bevor er der Heirat seiner Enkelin mit einem unionistischen Geistlichen zustimmte – bei den Angeboten, die sie hatte!

»In unserer Familie gibt es kein Streben nach Geld oder irdischer Macht«, sagte Frex, ausnahmsweise einmal nicht beleidigt. »Aber ich stamme in direkter Linie von sechs Generationen Geistlicher ab, in denen das Amt vom Vater auf den Sohn vererbt wurde. Wir sind in religiösen Kreisen so hochangesehen, wie Melenas Familie das in den Salons und am Hofe Ozmas ist. Und, nein, kein Grün nirgends. So ein Fall ist mir bisher aus keiner Familie zu Ohren gekommen.«

Ämmchen nickte und sagte: »Na schön, ich wollte nur gefragt haben. Ich weiß, du bist rechtschaffener als ein Märtyrer.«

»Aber«, sagte Frex geknickt, »Ämmchen, ich glaube, ich bin an der Sache schuld. Am Tag der Geburt ist mir die Zunge ausgerutscht: Ich habe erklärt, dass der Teufel kommt. Ich meinte damit die Uhr des Zeitdrachens. Aber angenommen, die Worte hätten dem Teufel einen Raum aufgeschlossen …?«

»Die Kleine ist kein Teufel!«, bemerkte Ämmchen scharf. Ein Engel sicher auch nicht, dachte sie, behielt es aber für sich.

»Andererseits«, fuhr Frex mit etwas gefestigter Stimme fort, »könnte Melena sie unabsichtlich verwünscht haben, als sie meine Bemerkung falsch verstand und deswegen weinte. Vielleicht hat Melena damit in ihrem Innern ein Fenster geöffnet, durch das ein freischweifender Kobold eindrang und das Kind färbte.«

»Exakt am Tag der Geburt?«, sagte Ämmchen. »Das muss ein fähiger Kobold gewesen sein. Stehst du sittlich so hoch, dass du unter den Geistern der Verirrung die wahrhaft großmächtigen anziehst?«

Frex zuckte die Achseln. Ein paar Wochen zuvor hätte er genickt, aber sein klägliches Versagen in Binsenrain hatte sein Selbstbewusstsein erschüttert. Er wagte nicht auszusprechen, was er befürchtete: dass die Abnormität des Kindes die Strafe für seine Unfähigkeit war, seine Schäfchen vor dem Freudenkult zu schützen.

»Tja«, meinte das praktisch denkende Ämmchen, »wenn der Schaden durch eine Verwünschung entstanden ist, wodurch könnte das Übel dann wieder aus der Welt geschafft werden?«

»Durch einen Exorzismus«, sagte Frex.

»Besitzt du die Kraft dazu?«

»Wenn es mir gelingt, ihre Farbe zu ändern, dann wissen wir, dass ich die Kraft besitze«, sagte Frex. Jetzt wo er ein Ziel hatte, hellte sich seine Stimmung auf. Er gedachte, einige Tage zu fasten, Gebete zu sprechen und Zutaten für das geheime Ritual zu sammeln.

Als er im Wald verschwunden war und Elphaba schlummerte, setzte sich Ämmchen zu Melena auf das harte Ehelager.

»Frex fragt sich, ob seine Bemerkung über das Kommen des Teufels in dir ein Fenster geöffnet haben könnte, durch das ein böser Geist eingedrungen ist und das Kind verhext hat«, sagte Ämmchen. Sie häkelte ungeschickt einen Spitzensaum; in Handarbeit war sie noch nie besonders gut gewesen, aber sie mochte die Berührung der blanken elfenbeinernen Häkelnadel. »Ich frage mich, ob du vielleicht ein ganz anderes Fenster geöffnet hast.«

Melena, wie üblich von Spitzlappblättern benommen, zog verwirrt eine Augenbraue hoch.

»Hast du mit jemand anderem als Frex geschlafen?«, fragte Ämmchen.

»Red doch keinen Quatsch!«, rief Melena aus.

»Ich kenne dich, Schätzchen«, sagte Ämmchen. »Ich sage nicht, du wärst keine gute Ehefrau. Aber als damals im Obstgarten deiner Eltern die Jungs um dich herumgeschwirrt sind, hast du mehr als einmal am Tag deine parfümierte Unterwäsche gewechselt. Du warst sinnenfroh und verstohlen und ziemlich geschickt. Ich mache dir keine Vorwürfe. Aber erzähl mir nicht, du hättest keinen gesunden Geschlechtstrieb gehabt.«

Melena vergrub das Gesicht im Kissen. »Ach, die schöne Zeit damals!«, jammerte sie. »Es ist nicht so, dass ich Frex nicht liebe! Aber ich hasse es, etwas Besseres zu sein als die hiesigen Bauerntölpel!«

»Na, dieses grüne Kind stellt dich auf eine Stufe mit ihnen, da kannst du ganz beruhigt sein«, sagte Ämmchen bissig.

»Ämmchen, ich liebe Frex. Aber er lässt mich so oft allein! Für einen Hausierer, der vorbeikäme und mehr für mich auf Lager hätte als bloß eine Blechkanne, würde ich einen Mord begehen! Ich würde viel dafür geben, wenn einer weniger gottgefällig und dafür etwas phantasievoller wäre!«

»Das betrifft die Zukunft«, wandte Ämmchen ein. »Ich frage dich nach der Vergangenheit. Die jüngere Vergangenheit. Seit deiner Hochzeit.«

Aber Melenas Gesichtsausdruck war vage und unentschieden. Sie nickte, sie zuckte die Achseln, sie wiegte den Kopf.

»Die naheliegendste Erklärung wäre ein Elf«, sagte Ämmchen.

»Ich würde es doch nicht mit einem Elf treiben!«, kreischte Melena.

»Ich auch nicht«, sagte Ämmchen, »aber das Grün gibt einem zu denken. Gibt es Elfen hier in der Gegend?«

»Eine Horde Baumelfen wohnt irgendwo da hinten über dem Berg, doch die sind, sofern das möglich ist, noch dümmer als die braven Bürger von Binsenrain. Wirklich, Ämmchen, ich habe nie einen zu Gesicht bekommen, höchstens von ferne. Die Vorstellung ist widerlich. Elfen gackern über alles, wusstest du das? Einer von ihnen fällt von einer Eiche und sein Schädel wird zermatscht wie eine verfaulte Rübe, und sie scharen sich darum und gackern und denken dann nicht mehr an ihn. Es ist eine Beleidigung, dass du so etwas auch nur in Erwägung ziehst.«

»Gewöhn dich daran, wenn wir keinen Ausweg aus diesem Schlamassel finden.«

»Die Antwort ist nein

»Dann jemand anders. Äußerlich halbwegs gutaussehend, aber mit einem Keim infiziert, den du vielleicht erwischt hast.«

Melena blickte entsetzt. Sie hatte seit Elphabas Geburt nicht mehr an ihre eigene Gesundheit gedacht. Konnte es sein, dass sie gefährdet war?

»Die Wahrheit«, sagte Ämmchen. »Wir müssen sie rauskriegen.«

»Die Wahrheit.« Melena winkte ab. »Die ist unergründlich.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich kenne die Antwort auf deine Frage nicht.« Melena erklärte den Sachverhalt. Ja, das Haus war abgelegen, und natürlich wechselte sie mit den hiesigen Bauern und Fischern und Schwachköpfen nie mehr als den kürzesten Gruß. Aber es verschlug mehr Reisende in die Berge und Wälder, als man glauben würde. Schon oft hatte sie einsam und apathisch dagesessen, während Frex irgendwo predigen war, und hatte Trost darin gefunden, einen Wanderer mit einer einfachen Mahlzeit und einem munteren Gespräch zu erfreuen.

»Und womit noch?«

Doch an solchen langweiligen Tagen, brummelte Melena, hatte sie sich angewöhnt, Spitzlappblätter zu kauen. Wenn sie aufwachte, weil gerade die Sonne unterging oder Frex sie stirnrunzelnd oder grinsend betrachtete, konnte sie sich an wenig erinnern.

»Du meinst, du hast dir einen Ehebruch gegönnt, und du hast nicht mal eine schöne Erinnerung daran behalten?« Ämmchen war entrüstet.

»Ich weiß nichts davon!«, beteuerte Melena. »Ich würde so etwas nicht freiwillig machen, jedenfalls nicht, solange ich noch klar denken kann. Aber ich kann mich erinnern, dass mir ein fahrender Händler mit einem komischen Akzent einmal irgendein berauschendes Gebräu aus einer grünen Glasflasche eingeschenkt hat. Und ich hatte ungewöhnlich wilde Träume, Ämmchen, vom Anderen Land – von Städten aus Glas und Rauch – von Geräuschen und Farben. Ich habe mich daran zu erinnern versucht.«

»Demnach könntest du durchaus von Elfen vergewaltigt worden sein. Das wird deinen Großvater freuen, wenn er erfährt, wie gut Frex auf dich aufpasst.«

»Hör auf!«, rief Melena.

»Also, ich weiß wirklich nicht, was da zu machen ist.« Ämmchen verlor langsam die Geduld. »Alle verhalten sich unverantwortlich! Wenn du dich nicht erinnern kannst, ob du dein Treuegelöbnis gebrochen hast oder nicht, dann musst du dich nicht aufführen wie eine gekränkte Heilige.«

»Wir haben immer die Möglichkeit, das Kind zu ersäufen und es noch mal zu versuchen.«

»Probier nur, das Ding zu ersäufen«, grummelte Ämmchen. »Der arme See, der sie abkriegen soll, tut mir jetzt schon leid.«

Später ging Ämmchen Melenas kleine Sammlung von Arzneimitteln durch: Kräuter, Tropfen, Wurzeln, Schnäpse, Blätter. Sie überlegte, ohne sich große Hoffnungen zu machen, ob sie vielleicht etwas mischen konnte, das die Haut des Mädchens erbleichen ließ. Ganz hinten in der Truhe fand sie die grüne Glasflasche, von der Melena gesprochen hatte. Das Licht war schlecht, und ihre Augen waren nicht sehr gut, aber auf einem aufgeklebten Zettel konnte sie die Worte WUNDERELIXIER entziffern.

Obwohl sie ein angeborenes Talent zur Heilerin hatte, wollte Ämmchen auf kein Hautveränderungsmittel kommen. Auch das Kind in Kuhmilch zu baden, machte die Haut nicht weißer. Um keinen Preis jedoch ließ sich die Kleine in einen Eimer mit Seewasser tauchen; sie wand sich wie eine panische Katze. Ämmchen machte mit der Kuhmilch weiter. Die Milch hinterließ einen grässlichen sauren Geruch, wenn sie sie hinterher nicht gründlich mit einem Tuch abrieb.

Frex veranstaltete einen Exorzismus mit Kerzen und Gesängen. Ämmchen sah von ferne zu. Der Mann hatte glänzende Augen und schwitzte vor Anstrengung, obwohl die Tage immer kälter wurden. Elphaba schlief mitten auf dem Teppich in ihrem Wickeltuch, ungerührt von der heiligen Handlung.

Nichts geschah. Erschöpft und ausgelaugt sank Frex zu Boden und legte sich sein grünes Töchterchen in die Armbeuge, als akzeptierte er endlich den Beweis einer unentdeckten Sünde. Melenas Gesicht wurde hart.

Jetzt blieb nur noch eines, was sie versuchen konnten. Ämmchen ermannte sich, es am Vorabend ihrer Rückreise nach Kolkengrund anzusprechen.

»Wie wir sehen, schlagen die Hausmittel nicht an«, sagte sie, »und die geistliche Fürbitte hat auch nichts gebracht. Habt ihr den Mut, Zauberei in Erwägung zu ziehen? Gibt es jemand Einheimisches, der das grüne Gift aus dem Kind hexen könnte?«

Frex sprang auf und drosch mit den Fäusten nach Ämmchen. Sie fiel rückwärts von ihrem Hocker, und Melena sprang kreischend um sie herum. »Wie kannst du es wagen?«, schrie Frex. »In diesem Hause! Ist dieses grüne Mädchen nicht Schmähung genug? Zauberei ist das Werkzeug der Unmoral. Wenn sie nicht die reine Scharlatanerie ist, ist sie gefährlich und böse! Ein Pakt mit den Dämonen!«

Ämmchen sagte: »Oooh, verschone mich! Du kluger, kluger Mann, hast du noch nie gehört, dass man Feuer mit Feuer bekämpfen muss?«

»Ämmchen, es reicht«, sagte Melena.

»Eine schwache alte Frau zu schlagen«, sagte Ämmchen gekränkt, »die nur helfen will.«

Am nächsten Morgen packte Ämmchen ihre Reisetasche. Sie konnte nichts weiter tun, und sie hatte nicht vor, den Rest ihrer Tage mit einem fanatischen Einsiedler und einem entstellten Kind zu leben, nicht einmal um Melenas willen.

Frex fuhr Ämmchen wieder zum Wirtshaus in Hintersteinfurt, wo die vierspännige Kutsche abging. Ämmchen vermutete, dass Melena immer noch daran dachte, das Kind zu töten, aber irgendwie traute sie ihr das nicht zu. Sie hielt die Tasche an ihren fülligen Busen gepresst, denn sie fürchtete wieder Banditen. In der Tasche war ihr goldenes Strumpfband versteckt (sie konnte immer behaupten, es sei ohne ihr Wissen dort hingeschmuggelt worden, während sich im Falle des Falles schwerlich behaupten ließ, dass es ihr ans Bein geschmuggelt worden war). Auch die elfenbeinerne Häkelnadel hatte sie mitgehen lassen, ferner drei von Frex’ Gebetsperlen, weil ihr die Schnitzereien darauf gefielen, und die hübsche grüne Glasflasche, die Hinterlassenschaft irgendeines wandernden Hausierers, der anscheinend Träume, Leidenschaft und Schlafsucht verkaufte.

Sie wusste nicht, was sie von der Geschichte halten sollte. War Elphaba ein Kind des Teufels? War sie eine Halbelfe? War sie die Strafe für das Versagen ihres Vaters als Prediger oder für die losen Sitten und das schlechte Gedächtnis ihrer Mutter? Oder war sie lediglich eine körperliche Missgeburt, ein Unfall der Natur wie ein verkrüppelter Apfel oder ein fünfbeiniges Kalb? Ämmchen wusste, dass ihr Weltbild nebulös und chaotisch war, zusammengestoppelt aus Dämonismus, Gottesglauben und Volksweisheit. Es war jedoch ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass beide, Melena und Frex, felsenfest mit einem Sohn gerechnet hatten. Frex war der siebte Sohn eines siebten Sohnes, und zu dieser eindrucksvollen Zahlengleichheit kam noch, dass er von sechs Geistlichen hintereinander abstammte. Welches Kind, einerlei welchen Geschlechts, konnte sich vermessen, sich in so eine glorreiche Linie einzureihen?

Vielleicht, dachte Ämmchen, hat die kleine grüne Elphaba sich ihr Geschlecht einfach selbst ausgesucht, und die Hautfarbe auch, und sich nicht um ihre Eltern geschert.