Dunkelheit zieht auf

Jeden zweiten oder dritten Tag nahm Ämmchen Elphaba an der Hand und watschelte mit ihr die schattige Straße nach Binsenrain. Dort spielte Elphaba unter den Augen der mürrischen Gornette mit den schmuddeligen Dorfkindern. Frex war wieder unterwegs (aus Selbstvertrauen oder Verzweiflung?) und verstörte armselige Dörfer mit seinem wilden Bart und seinen gesammelten Glaubenssätzen. Er war acht, zehn Tage am Stück weg. Melena übte Klavierläufe auf einer stummen Tastatur, die Frex für sie in Originalgröße geschnitzt hatte.

Schildkrötenherz schien mit dem Nahen des Herbstes zu welken und auszudörren. Ihre Liebesnachmittage verloren langsam die triebhafte Hitze und gewannen an zärtlicher Wärme. Melena war stets für die Gefälligkeiten von Frex empfänglich und ihrerseits ihm gefällig gewesen, aber irgendwie war sein Körper nicht so geschmeidig wie der von Schildkrötenherz. Beim Einschlummern lag Schildkrötenherzens Mund an einer ihrer Brustwarzen, und seine Hände – seine großen Hände – wanderten wie intelligente Haustiere auf ihr umher. Sie stellte sich vor, dass seine Körperteile sich verselbständigten, wenn ihre Augen geschlossen waren: sein Mund wurde tätig, sein Schwanz erhob sich und stupste und drückte, sein Atem kam von woanders her als aus seinem Mund, wenn er ihr sanft ins Ohr säuselte, wortlos, seine Arme waren wie Bügel.

Dennoch kannte sie ihn nicht, nicht wie sie Frex kannte, sie konnte ihn nicht durchschauen wie die meisten anderen Menschen. Sie schrieb das seinem noblen Verhalten zu, doch das aufmerksame Ämmchen bemerkte eines Abends, es liege nur daran, dass seine Sitten die eines Quadlingers waren; Melena habe sich niemals klargemacht, dass er einer anderen Kultur entstammte als sie.

»Kultur, was ist schon Kultur«, sagte Melena träge. »Menschen sind Menschen.«

»Hast du deine Kinderverse vergessen?« Ämmchen legte ihr Nähzeug beiseite (sehr erleichtert) und rezitierte:

Jungen lernen, Mädchen wissen,

Weshalb sie nichts lernen müssen.

Jungen büffeln, Mädchen vergessen,

Andres lockt sie unterdessen.

Gillikinesen sind nicht blöd,

Munchkinleben sind meist öd.

Glikker hauen ihre Frauen,

Winkies hausen wie die Sauen.

Doch der Quadlinger, strohdumm,

Eklig, widrig, gar nicht fromm,

Frisst die Jungen, begräbt die Alten,

Noch bevor ihre Leichen erkalten.

Gib mir ’nen Apfel, dann sag ich’s noch mal.

»Was weißt du von ihm?«, fragte Ämmchen. »Ist er verheiratet? Warum hat er Niederdreckloch verlassen, oder wie das heißt, wo er herkommt? Selbstverständlich kommt es mir in meiner Stellung nicht zu, persönliche Fragen zu stellen …«

»Seit wann weißt du, was dir in deiner Stellung zukommt, und hältst dich auch noch dran?«

»Glaub mir, wenn das Ämmchen seine Stellung vergisst, das wirst du merken.«

Eines Abends Anfang August machten sie im Garten ein Feuer. Frex war zu Hause und guter Laune, und Ämmchen dachte daran, nach Kolkengrund zurückzukehren, was Melena ihrerseits in gute Laune versetzte. Schildkrötenherz stellte zum Abendessen einen widerlich schmeckenden Gulasch aus kleinen sauren Frühäpfeln, Käse und Speck zusammen.

Frex war gesprächig. Die Nachwirkung des verfluchten Tiktakdings, der Uhr des Zeitdrachens, war endlich abgeklungen – dem Namenlosen Gott sei Dank –, und die gottlosen Armen kamen wieder aus ihren Löchern gekrochen, um sich von Frex die Leviten lesen zu lassen. Ein zweiwöchiger Einsatz in Drei Tote Bäume war ein Erfolg gewesen. Frex war mit einer kleinen Kollekte von Kupfermünzen und Tauschgegenständen belohnt worden sowie mit dem Leuchten der Andacht oder sogar des Eifers auf dem Gesicht des einen oder anderen Büßers.

»Vielleicht neigt sich unsere Zeit hier dem Ende zu«, sagte er zufrieden seufzend und verschränkte die Hände hinter dem Kopf – die typisch männliche Reaktion auf Glück, dachte Melena: sein Ende zu prophezeien. Ihr Mann fuhr fort. »Vielleicht führt uns die Straße von Binsenrain ja zu höheren Dingen, Melena. Zu größeren Aufgaben im Leben.«

»Ach, sei so gut«, sagte sie. »Meine Familie ist neun Generationen lang aus bescheidenen Anfängen aufgestiegen, und herausgekommen bin ich, die ich hier draußen am Arsch der Welt knöcheltief im Dreck stecke. Ich glaube nicht an höhere Dinge.«

»Ich rede von den erhabenen Zielen des Geistes. Ich rede nicht davon, die Smaragdstadt zu erstürmen und der persönliche Beichtvater des Ozma-Regenten zu werden.«

»Warum bewirbst du dich nicht darum, der Beichtvater von Ozma Tippetarius zu werden?«, fragte Ämmchen. Sie sah sich schon in der vornehmen Smaragdstädter Gesellschaft verkehren, wenn Frex eine solche Position bekleidete. »Was tut’s, ob die Infantin erst, was, zwei Jahre alt ist? Drei? Erst mal übt wieder ein männlicher Regent die Herrschaft aus, aber er macht das ja nur für eine begrenzte Frist – wie meistens, wenn Männer sich binden. Du bist noch jung, sie wird erwachsen werden, und du könntest dann Einfluss auf die Politik nehmen …«

»Ich lege keinen Wert darauf, für jemanden am Hofe den Seelsorger zu machen, nicht einmal für Ozma die fanatisch Fromme.« Frex zündete sich eine Weidenpfeife an. »Mein Weg führt zu den Erniedrigten und Beleidigten.«

»Der gute Herr mag nach Quadlingen ziehen sollen«, sagte Schildkrötenherz. »Genug Erniedrigte dort.«

Schildkrötenherz sprach nicht häufig von seiner Vergangenheit, und Melena fiel Ämmchens Kritik an ihrer mangelnden Neugier ein. Sie wedelte den Pfeifenrauch weg und sagte: »Warum bist du eigentlich aus Huden weggegangen?«

»Greuel«, antwortete er.

Elphaba, die gehofft hatte, dass Ameisen über den Mahlstein liefen, damit sie sie mit einem anderen Stein zerquetschen konnte, hob den Kopf und blickte über den Rand der flachen Mulde. Die anderen warteten, dass Schildkrötenherz weitersprach. Melena wurde unbehaglich zumute – sie fühlte plötzlich eine Veränderung, just an diesem Abend, in dieser wunderbar milden Nacht; spürte, wie gerade jetzt, wo sie hier ein wenig heimisch geworden waren, neues Unheil drohte.

»Was für Greuel?«, fragte Frex.

»Mir ist kalt. Ich hole mir ein Tuch«, sagte Melena.

»Oder Seelsorger von Pastorius! Dem Ozma-Regenten! Warum nicht, Frex?«, sagte Ämmchen. »Ich bin sicher, wenn Melenas Familie ihre Beziehungen spielen ließe, könntest du eine Einladung ergattern –«

»Greuel«, sagte Elphaba.

Es war ihr erstes Wort, und es wurde mit Schweigen aufgenommen. Selbst der Mond, der als strahlende Schüssel zwischen den Bäumen hing, schien einen Moment innezuhalten.

»Greuel?«, sagte Elphaba wieder und sah sich um. Obwohl ihr Mund ernst war, leuchteten ihre Augen; sie merkte, dass sie etwas Besonderes geleistet hatte. Sie war jetzt fast zwei Jahre alt. Die großen, scharfen Zähne in ihrem Mund konnten die Wörter nicht länger eingesperrt halten. »Greuel«, probierte sie flüsternd. »Greuel.«

»Komm zum Ämmchen, Schatz. Komm, setz dich auf meinen Schoß und sei ein Weilchen still.«

Sie gehorchte, setzte sich aber ganz vorn aufs Knie, mit Abstand von Ämmchens polsterartigem Busen, und ließ keinen anderen Kontakt zu, als dass Ämmchens Arme ihre Taille umschlossen. Sie starrte Schildkrötenherz an und wartete.

Und Schildkrötenherz sagte mit ergriffener Stimme: »Schildkrötenherz denkt, das Kind mag zum ersten Mal gesprochen haben.«

»Ja«, bestätigte Frex und blies einen Rauchring in die Luft, »und sie fragt nach den Greueln. Oder möchtest du uns lieber nichts darüber erzählen?«

»Schildkrötenherz mag wenig zu sagen haben. Schildkrötenherz mag arbeiten mit Glas und die Worte dem guten Herrn und der gnädigen Frau und dem Ämmchen überlassen. Und jetzt auch dem Mädchen.«

»Dann sage das Wenige. Du hast das Thema aufgebracht.«

Melena zitterte; sie war das Tuch nicht holen gegangen. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie war schwer wie ein Stein.

»Arbeiter aus der Smaragdstadt und von anderswo, sie mögen nach Quadlingen kommen. Gucken und kosten und prüfen die Luft, das Wasser, die Erde. Planen die Straße. Quadlinger mögen wissen, das ist verschwendete Zeit und verschwendete Mühe. Aber mögen nicht horchen auf Quadlinger Stimmen.«

»Quadlinger sind keine Straßenbauingenieure, vermute ich mal«, bemerkte Frex.

»Das Land ist schwierig«, sagte Schildkrötenherz. »In Huden die Häuser mögen schwimmen zwischen den Bäumen. Mag alles wachsen auf kleinen, angeseilten Terrassen. Jungen tauchen in flachem Wasser nach Gemüseperlen. Zu viele Bäume, und nicht genug Licht für Pflanzen und Gesundheit. Zu wenig Bäume, und das Wasser steigt und oben schwimmende Pflanzen mögen nicht mit den Wurzeln zum Boden kommen. Quadlingen ist armes Land, aber reich an Schönheit. Mag nur durch Planung und Zusammenarbeit Lebensunterhalt geben.«

»Das heißt, der Widerstand gegen die Gelbe Ziegelstraße –«

»Reicht nicht aus. Quadlinger mögen die Straßenbauer nicht überzeugen können, die Erd- und Steindämme bauen und Quadlingen in Stücke schneiden wollen. Quadlinger mögen erklären und beten und beweisen und doch mit Worten nicht gewinnen können.«

Frex hielt die Pfeife in beiden Händen und beobachtete, wie Schildkrötenherz sprach. Er war von ihm angezogen; Intensität zog Frex immer an.

»Quadlinger überlegen, ob sie kämpfen mögen«, sagte Schildkrötenherz. »Weil denken, das ist nur der Anfang. Bauarbeiter, wenn sie die Erde prüfen und das Wasser filtern, mögen Dinge erfahren, die Quadlinger von jeher wissen, aber geheimgehalten haben.«

»Dinge, die du weißt?«

»Schildkrötenherz mag von Rubinen sprechen«, sagte er mit einem tiefen Seufzer. »Rubine unter dem Wasser. Rot wie Taubenblut. Ingenieure mögen sagen: roter Korund in Bändern von körnigen Kalksteinseifen unterm Sumpf. Quadlinger mögen sagen: das Blut von Oz.«

»Wie das rote Glas, das du machst?«, sagte Melena.

»Rubinglas mag entstehen durch Beigeben von Goldchlorid«, sagte Schildkrötenherz. »Aber Quadlingen mag Lager von echten Rubinen haben. Und die Bauarbeiter mögen die Nachricht in die Smaragdstadt tragen. Die Folge wird sein Greuel über Greuel.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Melena ungehalten.

»In das Glas gucken«, sagte Schildkrötenherz und deutete auf die Scheibe, die er als Spielzeug für Elphaba gemacht hatte, »mag heißen, die Zukunft sehen, in Blut und Rubinen.«

»Ich glaube nicht, dass man in die Zukunft blicken kann. Das riecht nach Freudenkult«, sagte Frex heftig. »Nach dem Fatalismus des Zeitdrachens. Bäh! Nein, der Namenlose Gott hält auch eine namenlose Geschichte für uns bereit, und Wahrsagerei gründet bloß auf Mutmaßung und Angst.«

»Dann Angst und Mutmaßung genug, dass Schildkrötenherz mag Quadlingen verlassen haben«, sagte der Glasbläser, ohne sich dafür zu entschuldigen. »Quadlinger mögen ihre Religion nicht einen Freudenkult nennen, doch horchen auf Zeichen und achten auf Hinweise. Wie das Wasser mag rot von Rubinen sein, so wird es sein vom Blut der Quadlinger.«

»Unsinn!«, ereiferte sich Frex, seinerseits rot. »Man muss ihnen mal tüchtig ins Gewissen reden.«

»Außerdem, ist Pastorius nicht ein Einfaltspinsel?«, sagte Melena, die sich als Einzige ein fundiertes Urteil über das Königshaus erlauben konnte. »Was wird er schon groß tun, bis Ozma volljährig ist, als auf die Jagd reiten, Munchkiner Kuchen mampfen und nebenbei mal ein Hausmädchen verführen?«

»Die Gefahr ist ein Ausländer«, sagte Schildkrötenherz, »kein einheimischer König oder Königin. Die alten Frauen und die Schamanen und die Sterbenden: Sie mochten sehen einen fremden König, grausam und mächtig.«

»Was bezweckt der Ozma-Regent eigentlich damit, dass er Straßen in dieses gottverlassene Sumpfland plant?«, fragte Melena.

»Fortschritt«, sagte Frex, »genau wie mit der Gelben Ziegelstraße durch Munchkinland. Fortschritt und Kontrolle. Truppenbewegungen. Allgemeine Besteuerung. Militärischer Schutz.«

»Schutz vor wem?«, fragte Melena.

»Tja«, sagte Frex, »das ist immer die Frage.«

»Tja«, sagte Schildkrötenherz beinahe flüsternd.

»Und wohin willst du gehen?«, fragte Frex. »Nicht dass wir dich hier nicht haben wollten, durchaus nicht. Melena freut sich, dass du da bist. Wir alle.«

»Greuel«, sagte Elphaba.

»Still jetzt!«, sagte Ämmchen.

»Die gnädige Frau ist freundlich und der gute Herr ist freundlich zu Schildkrötenherz. Der eigentlich nicht länger als einen Tag bleiben wollte. Auf dem Weg in die Smaragdstadt Schildkrötenherz mochte sich verlaufen haben. Schildkrötenherz mochte bitten wollen um eine Audienz bei Ozma –«

»Dem Ozma-Regenten jetzt«, unterbrach Frex.

»- und um Gnade für Quadlingen flehen. Und warnen vor dem brutalen Fremden –«

»Greuel«, sagte Elphaba und klatschte vergnügt in die Hände.

»Das Kind mag Schildkrötenherz an seine Pflichten erinnern«, sagte er. »Davon zu reden bringt die Pflichten zurück aus dem Schmerz der Vergangenheit. Schildkrötenherz mag vergessen haben. Doch wenn Worte mögen in die Luft gesprochen sein, Taten müssen folgen.«

Melena funkelte Ämmchen hasserfüllt an, die das Mädchen auf den Boden gesetzt hatte und anfing, das Essensgeschirr einzusammeln. Siehst du, was bei solchem neugierigen Schnüffeln herauskommt, Ämmchen? Siehst du? Ist ja bloß das Ende meines einzigen Glücks im Leben, weiter nichts. Melena wandte den Blick von ihrem grässlichen Kind ab, das zu lächeln schien – oder war das ein ängstlicher Gesichtsausdruck? Verzweifelt blickte sie ihren Mann an. Tu was, Frex!

»Vielleicht ist dies das höhere Ziel, das wir suchen«, murmelte dieser. »Wir sollten nach Quadlingen ziehen, Melena. Wir sollten den Luxus von Munchkinland fahrenlassen und uns im Feuer wahrer Not erproben.«

»Den Luxus von Munchkinland?« Melenas Stimme war schrill.

»Wenn der Namenlose Gott durch ein niedriges Gefäß spricht«, begann Frex mit einer Handbewegung auf Schildkrötenherz, der wieder niedergeschlagen guckte, »dann können wir beschließen, darauf zu hören, oder wir können beschließen, unser Herz zu verhärten –«

»Na fein, dann hör jetzt mal darauf«, sagte Melena. »Ich bin schwanger, Frex. Ich kann nicht auf Reisen gehen. Ich kann nicht umziehen. Und wenn ich außer Elphaba noch einen Säugling habe, für den ich sorgen muss, dann ist an ein Herumtingeln im Schlammland gar nicht zu denken.«

Nachdem die Stille nicht mehr ganz so drückend war, fuhr sie fort: »Ich hätte es dir lieber anders gesagt.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Frex kalt.

»Greuel«, sagte Elphaba zu ihrer Mutter. »Greuel, Greuel, Greuel.«

»Das reicht jetzt an gedankenlosem Geplapper für einen Abend«, übernahm Ämmchen das Kommando. »Melena, du wirst dich noch erkälten, wenn du so hier draußen sitzt. Die Sommerabende werden wieder frischer. Komm nach drinnen und lass es für heute genug sein.«

Doch Frex erhob sich, trat zu seiner Frau und küsste sie. Niemand wusste so recht, ob er den Verdacht hatte, dass Schildkrötenherz der Vater war, und auch Melena wusste nicht, wer der Vater war, ihr Angetrauter oder ihr Geliebter. Im Grunde war es ihr egal. Sie wollte nur nicht, dass Schildkrötenherz wegging, und sie nahm es ihm bitter übel, dass er sich auf einmal gegenüber seinen elenden Landsleuten moralisch verpflichtet fühlte.

Frex und Schildkrötenherz unterhielten sich leise, so dass Melena nichts verstand. Sie saßen am Feuer, die Köpfe zusammengesteckt, und Frex hatte Schildkrötenherz den Arm um die bebenden Schultern gelegt. Ämmchen machte Elphaba bettfertig, ließ sie draußen bei den Männern und setzte sich mit einem Glas heißer Milch und einem Schälchen mit Arzneikapseln zu Melena aufs Bett.

»Ich wusste, dass so was kommen würde«, sagte sie ruhig. »Trink die Milch, Herzchen, und hör auf zu flennen. Du benimmst dich wieder wie ein Kind. Wie lange weißt du es schon?«

»Sechs Wochen etwa«, antwortete Melena. »Ich will keine Milch, Ämmchen. Ich will meinen Wein.«

»Du wirst Milch trinken. Keinen Wein mehr, bis das Kind da ist. Willst du noch ein Unglück erleben?«

»Wein trinken ändert die Hautfarbe eines Embryos nicht«, sagte Melena. »Ich bin vielleicht ein bisschen doof, aber so weit kenne ich mich in Biologie aus.«

»Es ist schlecht für deinen Gemütszustand, nicht mehr und nicht weniger. Trink die Milch und schluck eine von diesen Kapseln.«

»Wozu?«

»Ich habe getan, was ich dir seinerzeit versprochen habe«, sagte Ämmchen im Verschwörerton. »Letzten Herbst habe ich mich für dich im Armenviertel unserer schönen Hauptstadt umgetan –«

Mit einem Mal war die junge Frau ganz Ohr. »Ämmchen, das ist nicht wahr! Wie klug von dir! Hast du dich nicht gefürchtet?«

»Gewiss doch. Aber das Ämmchen liebt dich, auch wenn du noch so dumm bist. Ich habe einen Laden mit den geheimen Zeichen der Alchimisten außen dran gefunden.« Sie rümpfte die Nase bei der Erinnerung an den Geruch von verrottendem Ingwer und Katzenpisse. »Ich habe bei einer frech grinsenden Alten aus Shiz gesessen, einem Lästermaul namens Schackel, und habe den Tee getrunken und die Tasse umgestülpt, damit sie aus den Blättern lesen konnte. Schackel konnte kaum ihre eigene Hand sehen, viel weniger die Zukunft lesen.«

»Eine echte Meisterin ihrer Kunst«, bemerkte Melena trocken.

»Dein Mann glaubt nicht an Vorhersagen, also dämpfe deine Stimme. Jedenfalls habe ich ihr von der grünen Haut deines ersten Kindes erzählt, und wie schwer es ist, genau zu ergründen, wie es dazu gekommen ist. Wir wollen nicht, dass es noch mal geschieht, habe ich gesagt. Daraufhin hat Schackel ein paar Kräuter und Mineralien zermahlen und sie mit Gombaöl geröstet und ein paar heidnische Gebete darüber gesprochen, und vermutlich hat sie auch noch hineingespuckt, ich habe nicht allzu genau hingeschaut. Aber ich habe für eine Neunmonatsration bezahlt, mit deren Einnahme man beginnen muss, sobald man sicher weiß, dass man schwanger ist. Wir sind vielleicht einen Monat zu spät dran, aber trotzdem wird es besser als nichts sein. Ich vertraue dieser Frau vollkommen, Melena, und du solltest das auch tun.«

»Und warum?«, fragte Melena und schluckte die erste von neun Kapseln. Sie schmeckte wie Knochenmark.

»Weil Schackel deinen Kindern eine große Zukunft geweissagt hat«, antwortete Ämmchen. »Sie sagte, Elphaba wird deine Erwartungen übertreffen und dein zweites Kind genauso. Sie sagte, du sollst nicht den Lebensmut verlieren. Sie sagte, dass große geschichtliche Umwälzungen bevorstehen und dass diese Familie dabei mitmischen wird.« hexkap

»Was sagt sie über meinen Geliebten?«

»Du bist eine Nervensäge«, stöhnte Ämmchen. »Sie sagte, du sollst Ruhe geben und dir keine Sorgen machen. Sie gibt dir ihren Segen. Sie ist eine dreckige Hure, aber sie weiß, wovon sie spricht.« Ämmchen erwähnte nicht, dass das nächste Kind nach Schackels Angaben wieder ein Mädchen werden würde. Die Wahrscheinlichkeit war zu groß, dass Melena es abzutreiben versuchte, und wie Schackel geklungen hatte, würde die Geschichte zwei Schwestern gehören, nicht einem einzelnen Mädchen.

»Und du bist heil wieder nach Hause gekommen? Hat jemand Verdacht geschöpft?«

»Wer würde schon das harmlose alte Ämmchen verdächtigen, im Armenviertel verbotene Substanzen zu erwerben?«, lachte Ämmchen. »Ich mache meine Strickarbeit und kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten. So, und jetzt leg dich schlafen, mein Schatz. Schluss mit Wein in den nächsten Monaten, und nimm diese Arznei regelmäßig ein, dann wird dir und Frex ein prächtiges, gesundes Kind beschert, das eure Ehe wieder vollkommen kitten wird.« hex

»Mit meiner Ehe ist alles in Ordnung«, sagte Melena, während sie sich unter die Decke kuschelte (die Kapsel hatte eine anregende Wirkung, aber das brauchte Ämmchen nicht zu wissen), »solange wir nicht dorthin ziehen, wo die Sonne im Sumpf versinkt.«

»Die Sonne geht im Westen unter, nicht im Süden«, sagte Ämmchen begütigend. »Das war ein Geniestreich, dass du heute Abend die Schwangerschaft auf den Tisch gepackt hast, Herzchen. Ich würde dich nicht mehr besuchen kommen, wenn du nach Quadlingen ziehen würdest, muss ich dir sagen. Ich werde dieses Jahr fünfzig. Für manche Sachen ist das Ämmchen mittlerweile wirklich zu alt.«

»Am besten, niemand geht irgendwohin«, sagte Melena und schlief ein.

Zufrieden mit sich blickte Ämmchen noch einmal aus dem Fenster, während sie sich zum Schlafengehen fertig machte. Frex und Schildkrötenherz waren immer noch ins Gespräch vertieft. Ämmchen gab genauer acht, als sie sich anmerken ließ; sie hatte Schildkrötenherzens Gesicht gesehen, als ihm die Gefahr für sein Volk wieder einfiel. Es war aufgegangen wie ein Hühnerei, und die Wahrheit war so arglos herausgeflattert wie ein Küken. Und so verletzlich. Kein Wunder, dass Frex sich dichter an den leidgeprüften Quadlinger herangesetzt hatte, als sich in Ämmchens Augen gehörte. Aber an Abartigkeiten schien es in dieser Familie keinen Mangel zu haben.  

»Schickt die Kleine herein, damit ich sie hinlegen kann«, rief sie aus dem Fenster, auch um die Intimität der beiden zu stören. hexkap

Frex blickte sich um. »Sie ist doch drinnen, oder?«

Ämmchen sah nach. Das Kind spielte normalerweise nicht Verstecken, weder hier noch mit den Rangen im Dorf. »Nein, ist sie denn nicht bei euch?«

Die Männer wandten sich hierhin und dorthin. Ämmchen meinte, im Schatten der Eibe eine rasche Bewegung zu sehen. Sie hielt sich am Fenstersims fest. »Seht zu, dass ihr sie findet. Um diese Zeit schleicht alles Mögliche draußen herum.«

»Hier schleicht gar nichts herum, Ämmchen. Das ist nur deine übersteigerte Phantasie«, wiegelte Frex ab, doch die Männer erhoben sich umgehend und suchten.

»Melena, Schätzchen, schlaf noch nicht. Weißt du, wo Elphaba ist? Hast du sie weggehen sehen?«, fragte Ämmchen.

Melena stemmte sich schwerfällig auf einen Ellbogen. Leicht berauscht starrte sie durch ihre Haare. »Was willst du schon wieder?«, nuschelte sie. »Wer ist weggegangen?«

»Elphaba«, sagte Ämmchen. »Komm, steh lieber auf! Wo kann sie sein? Wo kann sie nur sein?« Sie machte Anstalten, Melena aufzuhelfen, doch es ging ihr zu langsam, und ihr Herz raste. Sie legte Melenas Hände auf die Bettpfosten und sagte: »Komm schon, Melena, das verheißt nichts Gutes«, und sie griff sich ihren Schwarzdornstock.

»Wer?«, sagte Melena. »Wer ist weg?«

Die Männer riefen durch die aufziehende Dunkelheit: »Fabala! Elphaba! Elphie! Fröschlein!« Sie entfernten sich vom Garten und den verglimmenden Resten des Feuers, sie spähten ins Unterholz und schlugen auf die unteren Zweige der Sträucher. »Schlänglein! Eidechslein! Wo bist du?«

»Es ist die Bestie aus den Bergen!«, rief Ämmchen. »Wer weiß, was das für ein Untier ist!«

»Es gibt hier keine Bestie, du phantasierst ja«, sagte Frex, doch er sprang immer aufgeregter von Stein zu Stein und drosch die Äste zur Seite. Schildkrötenherz war stehengeblieben, die offenen Hände gen Himmel gestreckt, als versuchte er, das schwache Licht der ersten Sterne aufzufangen.

»Ist es Elphaba?«, rief Melena, die endlich die Benommenheit abgeschüttelt hatte, und trat von der Tür im Nachthemd hinaus. »Ist das Kind fort?«

»Sie ist nicht da, sie ist verschleppt worden«, sagte Ämmchen grimmig. »Diese beiden Trottel haben geturtelt wie Schulmädchen, und das Untier aus den Bergen streift umher.«

Melena fing an zu rufen, und ihre Stimme wurde immer lauter und ängstlicher. »Elphaba! Elphaba, willst du wohl hören! Komm sofort her! Elphaba!«

Nur der Wind gab Antwort.

»Sie ist nicht weit«, sagte Schildkrötenherz nach einer Weile. In der Dunkelheit war er nahezu unsichtbar, während Melena in ihrem weißen Popelin wie ein Engel leuchtete, als ob sie ein Licht in sich hätte. »Sie ist nicht weit, sie ist nur nicht hier.«

»Was zum Teufel willst du damit sagen«, schluchzte Ämmchen, »mit deinen Rätseln und deinen Spielen?«

Schildkrötenherz drehte sich um. Frex war zurückgekommen, um einen Arm um ihn zu legen und ihn auf den Beinen zu halten, und Melena trat an seine andere Seite. Er knickte kurz ein, als wollte er ohnmächtig werden, und Melena stieß einen erschrockenen Schrei aus. Doch Schildkrötenherz fing sich wieder und setzte sich in Bewegung, und gemeinsam schritten sie auf den See zu. hex

»Nicht zum See, das Mädchen kann Wasser nicht ausstehen, das wisst ihr doch«, rief Ämmchen, aber auch sie kam gelaufen, wobei sie mit dem Stock den Boden abklopfte, um nicht zu stolpern.

Das ist das Ende, dachte Melena. Ihr Hirn war zu benebelt, um etwas anderes zu denken, und sie sagte es immer wieder, wie um zu verhindern, dass es sich bewahrheitete.

Das ist der Anfang, dachte Frex, aber wovon?

»Sie ist nicht weit, sie ist nur nicht hier«, wiederholte Schildkrötenherz.

»Die Strafe für euer unzüchtiges Treiben, ihr falschen Lüstlinge«, sagte Ämmchen.

Das Gelände fiel zum Ufer des stillen, weiter zurückgewichenen Sees hin ab. Der trockengefallene Bootssteg erhob sich erst fußhoch, dann hüfthoch und höher, wie eine Brücke ins Nichts.

Im Schatten unter dem Steg sah man Augen.

»Oh, liebe Lurlina«, wisperte Ämmchen.

Elphaba saß dort mit dem Glasstück, das Schildkrötenherz gemacht hatte. Sie hielt es mit beiden Händen und starrte es mit einem Auge an, das andere zugekniffen.

Vom Wasser gespiegeltes Sternenlicht, dachte Frex, hoffte Frex, doch er wusste, dass es kein Sternenlicht war, was das starre Auge beleuchtete.

»Greuel«, murmelte Elphaba.

Schildkrötenherz stürzte auf die Knie. »Sie sieht ihn kommen«, sagte er dumpf. »Sie sieht, wie er kommen mag, aus der Luft kommen mag, jetzt kommt er an. Ein Ballon vom Himmel, rot wie eine Blutblase, eine riesige rote Kugel, eine rubinrote Kugel: Er fällt vom Himmel. Der Regent ist gefallen. Das Haus Ozma ist gefallen. Die Uhr hat recht gehabt. Eine Minute vor dem Gericht.«

Er kippte vornüber, beinahe in Elphabas kleinen Schoß. Sie schien ihn gar nicht zu bemerken. Hinter ihr ertönte ein leises Knurren. Es kam von einem Bergtiger – oder einem sonderbaren Mischwesen von Tiger und Drache – mit leuchtenden rotgelben Augen. Elphaba saß in seinen verschränkten Vorderbeinen wie auf einem Thron.

»Greuel«, sagte sie abermals und blickte weiter mit einem Auge in das Glas, in dem ihre Eltern und Ämmchen nichts als Finsternis erkennen konnten. »Greuel.«