Boq

1

»Nun komm schon«, sagten die Jungen. »Komm!« Sie lehnten im Eingangsbogen zu Boqs Stube, vor dem Schein der Öllampe im Studierzimmer nur als amorpher Menschenklumpen wahrzunehmen. »Die Bücher hängen uns zum Hals raus. Komm mit!«

»Geht nicht«, sagte Boq. »Ich bin in Bewässerungstheorie hintendran.«

»Vergiss deine Bewässerungstheorie – die Kneipe ruft«, sagte der athletische gillikinesische Bursche, der Avaric hieß. »Es ist zu spät, jetzt noch die Noten zu verbessern. Die Prüfungen sind so gut wie vorbei und die Prüfer selbst angedudelt.«

»Es ist nicht wegen der Noten«, sagte Boq. »Ich verstehe es einfach noch nicht.«

»Wir ziehen in die Kneipe, wir ziehen in die Kneipe!«, sangen ein paar Jungen, die anscheinend schon nicht mehr ganz nüchtern waren. »Vergesst Boq, das Bier wartet, und es ist schon lange ausgegoren!«  

»Na schön, in welche Kneipe geht ihr? Vielleicht komme ich in einer Stunde nach«, sagte Boq und nahm wieder eine entschlossene Lernhaltung ein, ohne die Füße auf die Fußbank zu stellen, da dies, wie er wusste, seine Kommilitonen dazu anstacheln konnte, ihn auf ihre Schultern zu setzen und einfach zu ihrer Sause mitzuschleppen. Seine kleine Statur schien solche Übergriffe herauszufordern. Wenn er die Füße ganz auf den Boden setzte, sah er fester verwurzelt aus, dachte er.

»In den Wilden Eber«, sagte Avaric. »Da tritt eine neue Hexe auf. Angeblich eine heiße Nummer. Sie ist eine kumbrische Hexe.«

»Aha«, sagte Boq ohne große Begeisterung. »Dann zieht mal los, einen guten Platz ergattern. Ich komme nach, wenn ich so weit bin.«

Die Jungen trotteten ab, wobei sie noch an den Türen anderer Freunde rüttelten und im Vorbeigehen die Porträts ehemaliger Studenten schiefrückten, aus denen inzwischen honorige Förderer geworden waren. Avaric blieb noch einen Moment im Bogen stehen. »Wir könnten auch die Banausen sausenlassen und uns in ausgewählter Runde in den Philosophischen Club begeben«, sagte er lockend. »Zu späterer Stunde, meine ich. Es ist schließlich Wochenende.«

»Ach, Avaric, nimm lieber eine kalte Dusche«, sagte Boq.

»Du hast zugegeben, dass es dich interessiert. Doch, das hast du. Warum sich nicht zum Ende des Semesters was Besonderes gönnen?«

»Ich bereue, dass ich das je gesagt habe. Der Tod interessiert mich auch, aber mit genaueren Nachforschungen lasse ich mir lieber Zeit, vielen Dank. Zieh Leine, Avaric! Sieh zu, dass du deine Freunde einholst. Viel Spaß bei den kumbrischen Possen, wobei ich vermute, dass man euch einen Bären aufgebunden hat. Kumbrische Hexen gibt es schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Falls es sie überhaupt je gegeben hat.«

Avaric schlug den Kragen seines Jacketts um. Die Unterseite war mit dunkelrotem Samt gefüttert. An seinem sauber rasierten Hals nahm sich das Futter wie ein Adelsband aus. Nicht zum ersten Mal stellte Boq zwischen sich und dem schmucken Avaric Vergleiche an, bei denen er den Kürzeren zog. »Was ist, Avaric?«, sagte er, von sich selbst genauso genervt wie von seinem Freund.

»Irgendwas ist mit dir«, sagte Avaric. »Ich bin nicht ganz blind. Was ist los?«

»Gar nichts ist los.«

»Sag mir, ich soll mich um meinen eigenen Kram kümmern, sag mir, ich soll mich verziehen, verpissen, los, sag es, aber erzähl mir nicht, dass nichts los ist. Ein so guter Lügner bist du nicht, und ich bin kein Idiot. Auch wenn ich ein verlebter Gillikinese von dekadentem Adel bin.« Seine Miene war sanft, und Boq war einen Moment in Versuchung. Er machte den Mund auf und überlegte, wie er es ausdrücken sollte, doch beim Klang der Glocken in den Ozma-Türmen, die zur vollen Stunde schlugen, ruckte Avarics Kopf kaum merklich in die Richtung. Seinem besorgten Gebaren zum Trotz war er doch nicht ganz bei der Sache. Boq machte den Mund wieder zu, überlegte noch ein bisschen und sagte: »Nenn es von mir aus munchkinsche Sturheit. Ich will dich nicht anlügen, Avaric, dafür sind wir zu gute Freunde. Aber es gibt im Augenblick nichts zu sagen. Und jetzt geh und amüsier dich. Aber pass auf dich auf.« Er wollte noch ein warnendes Wort zum Philosophischen Club hinzufügen, aber verbiss es sich. Wenn Avaric ärgerlich wurde, konnte Boqs Fürsorglichkeit das Gegenteil bewirken und ihn erst recht anspornen.

Avaric trat auf ihn zu und küsste ihn auf beide Backen und die Stirn, eine Oberschichtsitte aus dem Norden, die Boq immer verlegen machte. Dann verschwand er mit einem Zwinkern und einer obszönen Geste.

Von Boqs Stube aus hatte man einen Blick auf eine Kopfsteingasse, auf der Avaric und seine Kumpane jetzt davonsprangen. Boq stellte sich mit Abstand zum Fenster in den Schatten, doch das hätte er sich sparen können: seine Freunde dachten schon nicht mehr an ihn. Sie hatten ihre Prüfungen zur Hälfte hinter sich und durften jetzt zwei Tage verschnaufen. Nach den Prüfungen würden alle den Campus fluchtartig verlassen bis auf die wirklich Besessenen unter den Professoren und die ärmeren Jungen. Boq kannte das schon. Er fand es jedoch angenehmer zu lernen, als alte Handschriften mit einem fünfhaarigen Teckhaarpinsel abzustauben, eine Beschäftigung, der er den ganzen Sommer über in der Drei-Königinnen-Bibliothek nachgehen würde.

Gegenüber verlief die Blausteinwand eines privaten Reitstalls, der zu einem Herrenhaus ein paar Straßen weiter an einem vornehmen Platz gehörte. Hinter dem Stalldach sah man die Wipfel einiger Obstbäume im Küchengarten des Grattler-Kollegs, und darüber leuchteten die Spitzbogenfenster der Schlaf- und Hörsäle. Wenn die Mädchen die Vorhänge zuzuziehen vergaßen – was erstaunlich häufig vorkam –, konnte man sie halb oder viertel entkleidet sehen. Selbstverständlich niemals am ganzen Leib nackt; in dem Fall hätte er ganz sicher weggeschaut, oder jedenfalls, sagte er sich streng, würde sich das so gehören. Aber das Weiß und Rosé der Unterhemden und Leibchen, die Rüschigkeit der Korsetts, die Schnüre der Turnüren und das Plusen um den Busen – das war, wenn sonst nichts, ein Aufklärungskurs in Damenreizwäsche. Boq, der keine Schwestern hatte, blickte gebannt.

Der Schlafsaal im Grattler-Kolleg war gerade so weit entfernt, dass er die einzelnen Mädchen nicht erkennen konnte. Dabei war Boq ganz wild darauf, seinen Schwarm wiederzusehen. Verdammt und noch mal verdammt! Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Er würde abgehen müssen, wenn er die Prüfungen verpatzte! Er würde seinen Vater, den alten Bfie, enttäuschen und sein Dorf und die anderen Dörfer dazu.

Verflixt und zugenäht! Das Leben war hart, und es gab noch andere Dinge als Gerstenanbau. Jäh entschlossen sprang Boq über die Fußbank, griff sich sein Studentencape und stürzte den Flur und die steinerne Wendeltreppe im Eckturm hinunter. Er konnte nicht mehr warten. Er musste etwas unternehmen, und gerade war ihm eine Idee gekommen.

Er nickte dem diensthabenden Pförtner zu, wandte sich draußen im Eilschritt nach links und gab sich alle Mühe, in der Abenddämmerung den vielen Pferdeäpfeln auf der Straße auszuweichen. Da seine Kommilitonen auf Zechtour waren, würde er sich wenigstens vor ihnen nicht zum Narren machen. Es war keine Seele mehr im Brischko-Kolleg. Er bog links ab, dann noch einmal links, dann war er in der Gasse am Reitstall. Ein Stapel Klafterholz, die vorspringende Kante eines aufgetriebenen Fensterladens, der eiserne Tragarm einer Winde. Boq war klein, aber er war auch gelenkig, und fast ohne sich die Knöchel zu schrammen schwang er sich zur Dachrinne des Stalls hinauf und krabbelte wie ein Seekrebs über das steile Dach.

Ah ja! Darauf hätte er schon vor Wochen, vor Monaten kommen können! Aber der Abend, an dem alle Jungen feiern gegangen waren und er sicher sein konnte, dass niemand im Brischko-Kolleg ihn sah, dieser Abend war heute, und vielleicht war es der einzige Abend. Aus irgendeinem Impuls heraus hatte er Avarics Lockung widerstanden. Und jetzt hockte er auf dem Stalldach, und der Wind, der durch das nasse Laub der Pfirsich- und Birnbäume strich, rauschte leise zur Begleitung. Da betraten auch schon die Mädchen den Saal – als ob sie im Flur gewartet hätten, bis er richtig in Position saß, als ob sie gewusst hätten, dass er kam!

Aus größerer Nähe betrachtet waren sie alles in allem gar nicht so hübsch …

Aber wo war die Eine?

Und ob hübsch oder nicht, sie waren deutlich zu erkennen. Die Finger, mit denen sie große seidene Schleifen lösten, die Finger, mit denen sie Handschuhe abstreiften und entzückende Reihen von vierzig winzigen Perlknöpfen entlangglitten, die Finger, die sie einander bei den inneren Spitzenteilen und den geheimen Stellen liehen, die man als Junge nur aus mythischen Erzählungen kannte! Die unerwarteten Geheimnisse – wie zart! Wie wunderbar tierähnlich! Seine Hände bewegten sich unwillkürlich, begierig auf etwas, das er kaum ahnte – und wo war sie?

»Was zum Donner machen Sie da oben?«

Natürlich geriet er ins Rutschen, weil er so erschrak und weil das Schicksal, nachdem es ihm freundlicherweise diese Ekstase gewährt hatte, ihn zum Ausgleich nun umzubringen gedachte. Er verlor den Halt und griff nach dem Schornstein, aber daneben. Er kullerte vom Dach wie ein Kinderspielzeug und krachte in die stechenden Äste des verdammten Birnbaums, was seinen Fall bremste und ihm wahrscheinlich das Leben rettete. Mit einem dumpfen Schlag landete er in einem Salatbeet, und durch den Aufprall entwich ihm die Luft aus sämtlichen Körperöffnungen, sehr zu seiner Beschämung.

»Oh, hervorragend«, ließ sich die Stimme vernehmen. »Die Früchte fallen dies Jahr früh vom Baum.«

Er hatte eine letzte schwache Hoffnung, dass die Sprecherin seine Angebetete war. Er versuchte, weltmännisch dreinzuschauen, obwohl ihm seine Brille davongeflogen war.

»Guten Abend«, sagte er unsicher und setzte sich auf. »So hatte ich mir das nicht vorgestellt.«

Barfuß und mit Schürze trat sie hinter einer mit rosigen Perther Trauben bewachsenen Laube hervor. Es war nicht die Richtige, die Eine. Es war die andere. Das konnte er auch ohne Brille erkennen. »Oh, Sie sind’s.« Er bemühte sich, nicht maßlos enttäuscht zu klingen.

Sie hielt ein Sieb mit unreifen Trauben in der Hand, den sauren, die für Frühlingssalate genommen wurden. »Oh, Sie sind’s«, machte sie ihn nach und trat näher. »Ich kenne Sie doch.«

»Junker Boq zu Ihren Diensten.«

»Junker Boq in meinem Salat, meinen Sie wohl.« Sie pflückte die Brille von den Stangenbohnen und reichte sie ihm.

»Wie geht es Ihnen, Damsell Elphie?«

»Ich bin nicht so sauer wie die Trauben und nicht so zermatscht wie der Salat«, antwortete sie. »Und wie geht es Ihnen, Junker Boq?«

»Die Sache«, sagte er, »ist mir außerordentlich peinlich. Wird mich das in Schwierigkeiten bringen?«

»Das ließe sich machen, wenn Sie möchten.«

»Bemühen Sie sich nicht. Ich gehe dort wieder hinaus, wo ich hereingekommen bin.« Er blickte zum Birnbaum hinauf. »Sie Ärmste, ich habe ein paar ordentliche Äste abgebrochen.«

»Bedauern Sie lieber den armen Baum. Warum haben Sie ihm das angetan?«

»Na ja, ich habe mich erschrocken«, sagte er, »und mir blieb nur die Wahl: Entweder ich hechte wie eine Baumnymphe durchs Geäst, oder ich steige einfach auf der anderen Seite des Stalls wieder ab und kehre still in mein Leben zurück. Wofür hätten Sie sich entschieden?«

»Ja, das ist die Frage«, sagte sie. »Aber nach meiner Erfahrung sollte man sich erst gar nicht auf so ein Entweder-oder einlassen. Wenn ich einen solchen Schreck bekommen hätte wie Sie, wäre ich weder still vom Dach gestiegen, noch wäre ich mit Getöse durch die Bäume in den Salat geplumpst. Ich hätte mich umgestülpt, um leichter zu werden, und mich in die Luft erhoben, bis der äußere Luftdruck wieder ausbalanciert gewesen wäre. Dann wäre ich in dem umgestülpten Zustand ganz langsam, Zehe für Zehe, auf das Dach zurückgesunken.«

»Und hätten Sie dann Ihre Haut wieder zurückgewendet?«, fragte er belustigt.

»Das hängt davon ab, wer dort gestanden und was er oder sie gewollt und ob ich etwas dagegen gehabt hätte. Es hängt auch davon ab, welche Farbe die Innenseite meiner Haut hat. Da ich mich bis jetzt noch nie gewendet habe, nicht wahr, kann ich das nicht sicher wissen. Ich habe mich immer gefragt, ob es nicht scheußlich ist, rosig wie ein Ferkel zu sein.«

»Häufig«, bestätigte Boq. »Besonders unter der Dusche. Man fühlt sich wie ein nicht ganz durchgekochtes –« Er brach ab. Der Unsinn wurde zu persönlich. »Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte er. »Ich habe Sie erschreckt, und das wollte ich nicht.«

»Sie haben nach einer Birne Ausschau gehalten, die die richtige Reife und Rundung hat, nehme ich an?« Sie blickte vergnügt.

»So ist es«, entgegnete er kühl.

»Haben Sie die Birne Ihrer Träume gesehen?«

»Die Birne meiner Träume ist mein privater Traum, und davon erzähle ich weder meinen Freunden noch Ihnen, die ich kaum kenne.«

»Aber natürlich kennen Sie mich. Wir waren zusammen in der Kindergruppe, das haben Sie mir bei unserer Begegnung im vorigen Jahr in Erinnerung gerufen. Damit sind wir beinahe Bruder und Schwester. Sie können mir ohne Bedenken Ihre Lieblingsbirne nennen, und ich sage Ihnen, ob ich weiß, wo sie wächst.«

»Sie machen sich über mich lustig, Damsell Elphie.«

»Es ist nicht meine Absicht, mich über dich lustig zu machen, Boq.« Sie wechselte von der förmlichen in die vertrauliche Anrede, wie um ihre angebliche Geschwisternschaft zu betonen. »Ich vermute, dass du etwas über Damsell Galinda erfahren willst, das gillikinesische Mädchen, das du letzten Herbst bei Madame Akabers Poesiegemetzel kennengelernt hast.«

Boq ging gern auf das Du ein. »Vielleicht kennst du mich doch besser, als ich dachte.« Er seufzte. »Darf ich hoffen, dass sie an mich denkt?«

»Na ja, hoffen darfst du immer«, sagte Elphaba. »Sinnvoller wäre es, du fragst sie und bringst es hinter dich. Dann weißt du wenigstens Bescheid.«

»Aber du bist doch mit ihr befreundet, oder? Weißt du es denn nicht?«

»Du solltest dich nicht darauf verlassen, was ich weiß oder nicht«, sagte Elphaba, »oder was ich zu wissen behaupte. Ich könnte lügen. Ich könnte in dich verliebt sein und meine Stubenkameradin hintergehen, indem ich Lügen über sie verbreite –«

»Sie ist deine Stubenkameradin?«

»Überrascht dich das?«

»Ja … nein, es … es freut mich nur.«

»Die Köchinnen werden sich fragen, was ich für lange Gespräche mit dem Spargel führe«, sagte Elphaba. »Ich könnte es einrichten, dass Damsell Galinda einen Abend mit mir herkommt, wenn du magst. Je eher, je lieber, damit dein Glück schon im Ansatz erstickt wird – wenn das Schicksal es so will. Aber wie gesagt«, fügte sie hinzu, »woher soll ich das wissen? Wenn ich nicht vorhersagen kann, was es für einen Auflauf zum Essen gibt, wie soll ich dann vorhersagen, was für Gefühle jemand hat?«

Sie verabredeten sich für drei Abende später, und Boq bedankte sich überschwenglich bei Elphaba und schüttelte ihre Hand so heftig, dass seine Brille bedenklich auf der Nase wackelte. »Du bist eine gute alte Freundin, Elphie, auch wenn wir uns fünfzehn Jahre lang nicht gesehen haben«, beteuerte er. Sie duckte sich unter die Zweige des Birnbaums und verschwand. Boq sah zu, dass er aus dem Küchengarten hinaus und zurück auf sein Zimmer kam, wo er sich wieder an seine Bücher setzte, doch seine Schwierigkeiten waren nicht behoben, nein, ganz und gar nicht. Sie waren eher schlimmer als vorher. Er konnte sich nicht konzentrieren. Er war immer noch wach, als die betrunkenen Jungen ins Brischko-Kolleg zurückkehrten, und hörte das laute Gepolter, das zur Stille mahnende Zischen, das Zerbrechen fallender Dinge und das Lallen von Balladen.

2

Avaric war in die Sommerferien gefahren, sobald die Prüfungen abgeschlossen waren, und Boq hatte sich entweder durchgemogelt oder war schimpflich gescheitert, in welchem Falle er jetzt wenig zu verlieren hatte. Dieses erste Rendezvous mit Galinda konnte das letzte sein. Boq gab sich mehr Mühe als sonst mit seiner Kleidung und ließ sich von der neuen Haarmode, die man in den Cafés sah, zu einer extravaganten Frisur inspirieren: ein dünnes weißes Band, das die Haare über dem Kopf straff zusammenzog, so dass sie in Locken herunterwallten wie Schaum aus einem überkochenden Topf Milch. Er putzte mehrmals seine Stiefel. Es war eigentlich zu warm für Stiefel, doch er hatte keine ausgehtauglichen Halbschuhe. Improvisieren war die Devise.

Am verabredeten Abend nahm er denselben Weg wie das erste Mal, und oben auf dem Stalldach stellte er fest, dass eine Obstpflückerleiter an der Mauer stehengelassen worden war, so dass er nicht am Baum nach unten klettern musste wie ein unbeholfener Schimpanse. Er nahm vorsichtig die ersten Sprossen, dann sprang er mannhaft das restliche Stück, diesmal jedoch nicht in den Salat. Auf einer Bank unter den Wurmnussbäumen saßen Elphaba, die Knie an die Brust gezogen und die nackten Füße flach aufgestellt, und Galinda, die Füße zierlich gekreuzt und das Gesicht hinter einem Seidenfächer verborgen, wobei sie ohnehin in die andere Richtung schaute.

»Ja, heiliger Bimbam, ein Besucher!«, rief Elphaba aus. »So eine Überraschung aber auch!«

»Guten Abend, die Damen«, sagte er.

»Du siehst wie ein erschrockener Igel aus. Was hast du mit deinen Haaren angestellt?«, sagte Elphaba. Immerhin guckte Galinda sich um, doch sie verschwand gleich wieder hinter dem Fächer. Konnte es sein, dass sie nervös war? Dass ihr Herz zagte?

»Ich bin ein Igel-Mischling, habe ich dir das nicht erzählt?«, sagte Boq. »Großväterlicherseits. Zur Jagdsaison fand er sein Ende als Schnitzel für Ozmas Gefolge, und alle haben ihn als sehr schmackhaft in Erinnerung behalten. Das Rezept, eingeklebt im Familienalbum, wird von Generation zu Generation weitergegeben. Serviert mit Käse und Walnusssauce. Mmm.«

»Tatsächlich?« Elphaba legte das Kinn auf die Knie. »Du stammst echt von Igeln ab?«

»Nein, das war nur Spaß. Guten Abend, Damsell Galinda. Sehr freundlich von Ihnen, sich mit mir zu treffen.«

»Dies hier gehört sich ganz und gar nicht«, sagte Galinda. »Aus mehreren Gründen, wie Sie wohl wissen, Junker Boq. Aber meine Stubenkameradin ließ mir keine Ruhe, bis ich schließlich einwilligte. Ich kann nicht sagen, dass es mich freut, Sie wiederzusehen.«

»Ach, sagen Sie es, sagen Sie es, vielleicht wird es dann wahr«, rief Elphaba. »Probieren Sie’s. Er ist gar nicht so schlecht. Für einen armen Jungen.«

»Es ehrt mich, dass Sie so von mir eingenommen sind, Junker Boq«, sagte Galinda, um Höflichkeit bemüht. »Ich bin geschmeichelt.« Sie war eindeutig nicht geschmeichelt, sie war gedemütigt. »Aber Sie müssen einsehen, dass es keine intime Freundschaft zwischen uns geben kann. Ganz abgesehen von meinen Gefühlen stehen weiteren Schritten zu viele gesellschaftliche Hindernisse entgegen. Ich habe dem Treffen nur zugestimmt, um Ihnen das persönlich sagen zu können. Um der Fairness willen.«

»Um der Fairness willen und vielleicht auch zur Unterhaltung«, sagte Elphaba. »Das ist mein Grund, noch zu bleiben.«

»Zunächst einmal sind da die verschiedenen Kulturen«, fuhr Galinda fort. »Ich weiß, dass Sie Munchkin sind. Ich bin Gillikinesin. Ich werde einen Landsmann heiraten müssen. Es ist die einzige Möglichkeit, tut mir leid«, sie senkte den Fächer und hob die Hand, wie um einen Protest seinerseits abzuwehren. »Hinzu kommt, dass Sie Landwirtschaft studieren, und ich brauche einen Staatsmann oder Bankier aus den Ozma-Türmen. So sind die Dinge nun mal. Außerdem«, fügte sie hinzu, »sind Sie zu klein.«

»Was ist damit, dass er mit seinem Verhalten die guten Sitten untergräbt, was ist mit seiner Dämlichkeit?«, warf Elphaba ein.

»Genug«, sagte Galinda. »Das reicht jetzt.«

»Bitte, Sie sind sich Ihrer selbst zu sicher«, sagte Boq. »Wenn ich so kühn sein darf.«

»Du bist überhaupt nicht kühn«, sagte Elphaba. »Du bist ungefähr so kühn wie zweimal aufgegossener Tee. Das ist schon beinahe peinlich, wie halbherzig du das angehst. Komm schon, sag etwas Interessantes. Langsam wünschte ich, ich wäre in die Kirche gegangen.«

»Du störst«, sagte Boq. »Elphie, es war sehr nobel von dir, Damsell Galinda zu diesem Treffen mit mir zu bewegen, aber ich muss dich jetzt bitten, uns die Sache allein klären zu lassen.«

»Keiner von euch wird verstehen, was der andere sagt«, erklärte Elphaba bestimmt. »Ich bin in Munchkinland geboren, wenn auch nicht dort aufgewachsen, und ich bin ein Mädchen, wenn auch eher versehentlich. Ich bin die ideale Vermittlerin zwischen euch beiden. Ich glaube nicht, dass ihr ohne mich zurechtkommt. Wenn ich den Garten verlasse, wird mit Sicherheit keiner mehr aus den Worten des anderen schlau werden. Sie spricht die Sprache der Reichen, du sprichst Arme-Leute-Jargon. Außerdem habe ich für diese Vorstellung bezahlt, indem ich Damsell Galinda drei Tage lang bearbeitet habe. Ich darf zuschauen.«

»Es wäre sehr nett, wenn Sie bleiben würden, Damsell Elphaba«, sagte Galinda. »Ich muss eine Anstandsdame haben, wenn ich mich mit einem Jungen unterhalte.«

»Siehst du?«, sagte Elphaba zu Boq.

»Wenn du schon bleiben musst, lass mich wenigstens reden«, sagte Boq. »Bitte lassen Sie mich sprechen, Damsell Galinda, nur ein paar Minuten. Was Sie sagen, ist richtig. Sie sind von hoher Abstammung, ich von niedriger. Sie sind Gillikinesin, ich bin Munchkin. Sie müssen sich an Ihre gesellschaftlichen Regeln halten, ich mich an meine. Und meine verbieten mir, ein Mädchen zu heiraten, das zu reich ist, zu fremd ist und zu viel erwartet. Ich bin nicht hier, um Ihnen die Ehe anzutragen.«

»Seht ihr? Gut, dass ich nicht gegangen bin, jetzt wird es endlich unterhaltsam«, sagte Elphaba, presste aber die Lippen zusammen, als beide sie böse anfunkelten.

»Ich bin hier, um Ihnen vorzuschlagen, dass wir uns von Zeit zu Zeit sehen, mehr nicht«, fuhr Boq fort. »Dass wir Freunde werden. Dass wir ohne jeden Erwartungsdruck als gute Freunde miteinander verkehren. Ich will nicht leugnen, dass Ihre Schönheit mich überwältigt. Sie sind der Mond in der Dunkelheit. Sie sind die Frucht des Kerzenbaums. Sie sind der himmelhoch kreisende Phönix –«

»Hört sich einstudiert an«, sagte Elphaba.

»Sie sind das mythische Meer«, beschloss er seine Aufzählung.

»Mit Poesie habe ich nicht viel im Sinn«, sagte Galinda, »aber Sie sind sehr freundlich.« Die Komplimente schienen sie ein wenig aufzuheitern. Jedenfalls bewegte sich der Fächer schneller. »Was ich nicht verstehe, ist der Zweck einer Freundschaft, wie Sie es nennen, Junker Boq, zwischen ledigen Personen unseres Alters. Ich finde es … abwegig. Es könnte meines Erachtens zu Komplikationen führen, zumal Sie eine Verliebtheit eingestehen, die ich nicht erwidern kann. Nie und nimmer.«

»Es ist das Alter des Wagemuts«, sagte Boq. »Die einzige Zeit, die wir haben. Wir müssen in der Gegenwart leben. Wir sind jung und lebendig.«

»Ich weiß nicht, ob ›lebendig‹ es wirklich trifft«, sagte Elphaba. »Das klingt mir vorformuliert.«

Galinda schlug Elphaba mit dem zusammengefalteten Fächer auf den Kopf und faltete ihn sogleich wieder mit einer geübten eleganten Bewegung auf, die wirklich beeindruckend war. »Sie werden lästig, Damsell Elphie. Ich bin Ihnen für Ihre Gesellschaft verbunden, aber ich habe nicht um einen laufenden Kommentar gebeten. Ich bin durchaus in der Lage, die Vorzüge von Junker Boqs Ausführungen selbst zu beurteilen. Lassen Sie mich über seinen kuriosen Vorschlag nachdenken. Heilige Lurlina, ich kann mich selbst kaum denken hören!«

Wenn sie die Fassung verlor, war Galinda schöner denn je. Dieses alte Sprichwort stimmte also auch. Boq erfuhr hier so viel über Mädchen! Ihr Fächer sank. War das ein gutes Zeichen? Wenn sie ihm nicht ein wenig gewogen gewesen wäre, hätte sie dann ein Kleid mit einem Ausschnitt getragen, der noch eine Idee tiefer war, als er zu hoffen gewagt hatte? Und sie duftete nach Rosenwasser. Er verspürte ein Aufwallen von Hoffnung, einen Drang, seine Lippen auf die Stelle zu drücken, wo ihre Schulter in den Hals überging.

»Ihre Vorzüge«, setzte sie neu an. »Nun, Sie sind tapfer, nehme ich an, und klug, sonst hätten Sie das hier nicht so arrangieren können. Wenn Madame Akaber Sie hier entdecken würde, kämen wir beide in ernste Schwierigkeiten. Sicher, das haben Sie vielleicht nicht gewusst, also streichen wir die Tapferkeit. Nur klug. Sie sind klug und äußerlich irgendwie, hm, na ja …«

»Gutaussehend?«, schlug Elphaba vor. »Schneidig?«

»Sie sind lustig anzuschauen«, befand Galinda.

Boq machte ein langes Gesicht. »Lustig?«, sagte er.

»Ich würde viel dafür geben, als lustig zu gelten«, sagte Elphaba. »Für mich ist das höchste der Gefühle normalerweise faszinierend, und wenn Leute das sagen, ist es meistens nicht als Kompliment gemeint.«

»Nun, vielleicht bin ich so, wie Sie sagen, oder ganz anders«, sagte Boq treuherzig, »aber Sie werden feststellen, dass ich auf jeden Fall hartnäckig bin. Ich werde mir unsere Freundschaft von Ihnen nicht ausreden lassen, Galinda. Dazu liegt mir zu viel daran.«

»Hört nur, wie das Tigermännchen im Dschungel nach seinem Weibchen brüllt«, sagte Elphaba. »Seht, wie das Weibchen hinter einem Gesträuch kichert, bevor sie mit Unschuldsmiene hervortritt und sagt: ›Entschuldige, mein Lieber, hast du etwas gesagt?‹«

»Elphaba!«, herrschten alle beide sie an.

»Ich muss schon sagen!«, ließ sich eine Stimme hinter ihnen vernehmen. Alle drei fuhren herum. Es war eine ältere Wärterin in einer gestreiften Kittelschürze, die schütteren grauen Haare zu einem Knoten hochgesteckt. »Schätzchen, was treibst du denn hier?«

»Muhme Schnapp!«, rief Galinda. »Wie bist du darauf gekommen, hier nach mir zu schauen?«

»Dieses Zebra in der Küche hat mir erzählt, dass hier draußen ein großes Palaver stattfindet. Meinst du, die sind blind da drinnen? Also, wer ist das? Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

Boq stand auf. »Ich bin Junker Boq aus Binsenrain in Munchkinland. Ich bin Student am Brischko-Kolleg.«

Elphaba gähnte.

»Ich bin schockiert! Mit einem Gast geht man nicht in den Gemüsegarten, daher vermute ich, dass Sie ungeladen erschienen sind. Mein Herr, machen Sie sich davon, bevor ich Sie von den Pförtnern entfernen lasse!«

»Ach, Muhme Schnapp, mach doch keine Szene«, sagte Galinda und seufzte.

»So unreif, wie er ist, gibt es nichts zu befürchten«, erklärte Elphaba. »Sehen Sie, er hat noch nicht einmal einen Bart. Und nach allem, was wir folgern können –«

Boq fiel ihr hastig ins Wort. »Vielleicht habe ich falsch gehandelt. Jedenfalls bin ich nicht hier, um mich beleidigen zu lassen. Verzeihen Sie, Damsell Galinda, wenn es mir nicht einmal gelungen ist, Sie zu amüsieren. Was Sie betrifft, Damsell Elphaba«, seine Stimme war so kalt, wie es ihm möglich war, und kälter, als er sie selbst je gehört hatte, »so war es ein Fehler von mir, auf Ihr Mitgefühl zu vertrauen.«

»Wart’s ab«, sagte Elphaba. »Nach meiner Erfahrung dauert es lange, bis etwas als Fehler erwiesen ist. Wie wär’s, wenn du vorher irgendwann noch mal vorbeischaust?«

»Ein zweites Mal wird es hier nicht geben«, sagte Muhme Schnapp und zog an Galinda, doch die saß so fest wie Zement. »Damsell Elphaba, schämen Sie sich, dass Sie diesem Skandal Vorschub geleistet haben.«

»Hier ist nichts gewesen als ein bisschen Geschäker, und ziemlich harmloses Geschäker obendrein«, sagte Elphaba. »Damsell Galinda, Sie benehmen sich ja äußerst widerspenstig. Wollen Sie hier im Gemüsegarten Wurzeln schlagen, weil Sie hoffen, dieser Herrenbesuch könnte sich wiederholen? Haben wir Ihr Interesse verkannt?«

Da erhob sich Galinda so würdevoll wie möglich. »Verehrter Junker Boq«, sagte sie, als diktierte sie ihm in die Feder, »es war von Anfang an mein Ziel, Sie von Ihren Nachstellungen meiner Person abzubringen, sei es um einer Liebschaft oder auch nur einer Freundschaft willen, wie Sie es ausdrücken. Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu kränken. Das ist mir wesensfremd.« Elphaba verdrehte hierzu die Augen, doch dieses eine Mal hielt sie den Mund, vielleicht weil Muhme Schnapp die Fingernägel in ihren Ellbogen bohrte. »Ich werde mich nicht zu einem weiteren Treffen dieser Art bereitfinden. Das ist, wie Muhme Schnapp mich gemahnt hat, unter meiner Würde.« Muhme Schnapp hatte zwar nichts dergleichen gesagt, aber trotzdem nickte sie grimmig. »Doch wenn sich unsere Pfade auf unbedenklichem Terrain kreuzen sollten, Junker Boq, werde ich immerhin die Güte haben, Sie nicht zu ignorieren. Ich hoffe sehr, dass Sie sich damit zufrieden geben.«

»Niemals«, sagte Boq mit einem Lächeln. »Aber es ist ein Anfang.«

»Und jetzt guten Abend«, wünschte Muhme Schnapp stellvertretend für alle und bugsierte die Mädchen davon. »Träumen Sie gut, Junker Boq, und kommen Sie nicht wieder!«

»Damsell Elphaba, Sie waren grässlich«, hörte er Galinda sagen, doch die hatte nichts Besseres zu tun, als sich umzudrehen und ihm mit einem Lächeln nachzuwinken, das er sich nicht erklären konnte.

3

Damit begann der Sommer. Da er die Prüfungen bestanden hatte, konnte Boq unbeschwert sein letztes Jahr am Brischko-Kolleg planen. Täglich begab er sich in die Bibliothek im Drei-Königinnen-Kolleg, wo er unter dem wachsamen Auge eines gigantischen Nashorns, des Leiters der Handschriftenabteilung, alte Manuskripte reinigte, die offensichtlich seit hundert Jahren niemand mehr angeschaut hatte. Wenn das Nashorn den Raum verließ, witzelte er mit den beiden Jungen links und rechts von ihm herum, typischen Drei-Königinnen-Studenten, die sich für ihr Leben gern in Klatsch und dunklen Anspielungen ergingen und bei allem Gefrotzel doch treu und anhänglich waren. Er war gern mit ihnen zusammen, wenn sie gut aufgelegt waren, und fand sie unausstehlich, wenn sie sich anmotzten. Krapp und Timmel. Timmel und Krapp. Boq spielte den Ahnungslosen, wenn sie zu neckisch oder anzüglich wurden, was ungefähr einmal die Woche vorkam, aber sie hörten auch bald wieder damit auf. Am Nachmittag verzehrten sie miteinander ihre Käsebrote am Ufer des Selbstmordkanals und beobachteten die Schwäne. Wenn die kräftigen Ruderer ihre Sommerübungen machten und den Kanal auf und ab fuhren, gerieten Krapp und Timmel in Verzückung und ließen sich lang ins Gras fallen. Boq lachte über sie, ohne sie auszulachen, und wartete darauf, dass das Schicksal ihm Galinda wieder über den Weg führte.

Er musste nicht allzu lange warten. Etwa drei Wochen nach ihrem Techtelmechtel im Gemüsegarten, an einem windigen Sommermorgen, richtete ein kleines Erdbeben in der Drei-Königinnen-Bibliothek geringfügige Schäden an, und das Gebäude musste wegen Reparaturarbeiten geschlossen werden. Timmel, Krapp und Boq nahmen ihre Brote, dazu Becher mit Tee aus der Mensa, und warfen sich an ihrem Lieblingsplatz am Kanalufer ins Gras. Eine Viertelstunde später kam Muhme Schnapp mit Galinda und zwei anderen Mädchen des Wegs.

»Ich glaube, wir kennen Sie«, sagte Muhme Schnapp, während Galinda sich einen Schritt hinter ihr hielt. In Fällen wie diesem hatte die Dienerin die Namen all derjenigen in Erfahrung zu bringen, die sich noch nicht kannten, damit sie sich persönlich begrüßen konnten. Muhme Schnapp verkündete, dass die Junker Boq, Krapp und Timmel die Bekanntschaft der Damsellen Galinda, Schenschen und Fanny machten. Dann trat sie ein paar Schritte zur Seite, um den jungen Leuten Gelegenheit zu geben, sich miteinander zu unterhalten.

Boq sprang auf und machte eine kleine Verbeugung, und Galinda sagte: »Um mein Versprechen zu halten, Junker Boq, darf ich fragen, wie es Ihnen geht?«

»Sehr gut, danke sehr«, antwortete Boq.

»Er steht voll im Saft«, sagte Timmel.

»Er schäumt förmlich über, recht betrachtet«, sagte Krapp, der ein kleines Stück weiter hinten saß, aber Boq drehte sich um und blickte so böse, dass Krapp und Timmel verstummten und spielten, sie seien beleidigt.

»Und Sie, Damsell Galinda?«, fragte Boq mit einem prüfenden Blick in das vorbildlich beherrschte Gesicht. »Geht es Ihnen gut? Wie aufregend, Sie den Sommer über in Shiz zu wissen.« Doch das war keine glückliche Bemerkung. Die bessergestellten Mädchen fuhren den Sommer über nach Hause, und Galinda als Gillikinesin hatte gewiss schwer daran zu tragen, dass sie hierbleiben musste wie ein Munchkinmädchen oder eine aus dem gemeinen Volk. Der Fächer kam hoch. Die Augen gingen nach unten. Die Damsellen Schenschen und Fanny strichen ihr mit stummem Mitgefühl über die Schulter. Doch Galinda fing sich wieder.

»Meine guten Freundinnen, Damsell Fanny und Damsell Schenschen, nehmen sich den Hochsommermond über ein Häuschen am Ufer des Kluchtsees. Ein kleines Traumhaus in der Nähe der Ortschaft Nimmertal. Ich habe mich entschlossen, die Ferien dort zu verbringen, statt die beschwerliche Rückfahrt ins Perther Bergland auf mich zu nehmen.«

»Bestimmt sehr erholsam.« Er sah die geschliffenen Kanten ihrer lackierten Fingernägel, die sandfarbenen Wimpern, das Schimmern der glatten Wangen, die feine Hautfalte in der Mitte der Oberlippe. Im Licht des Sommermorgens war alles an ihr von gefährlicher, berauschender Überdeutlichkeit.

»Vorsicht!«, rief Krapp, und er und Timmel sprangen auf und fassten den schwankenden Boq links und rechts am Ellbogen. Erst da dachte er wieder daran zu atmen. Doch ihm fiel nichts mehr zu sagen ein, und Muhme Schnapp drehte unruhig ihre Handtasche hin und her.

»Wir haben eine Ferienarbeit«, rettete Timmel die Situation. »In der Drei-Königinnen-Bibliothek. Wir pflegen buchstäblich die Literatur. Wir sind die Putzfrauen der Kultur. Arbeiten Sie auch, Damsell Galinda?«

»Nein, keineswegs«, erwiderte Galinda. »Ich muss mich vom Studieren erholen. Es war ein aufreibendes Jahr, aufreibend. Meine Augen sind immer noch müde vom Lesen.«

»Und was ist mit euch beiden?«, fragte Krapp die zwei anderen Mädchen mit demonstrativer Lockerheit. Doch die kicherten nur schamhaft und wichen ein Stück zurück. Ihre Freundin führte dieses Gespräch, nicht sie. Boq, der langsam die Fassung zurückgewann, merkte, dass die Gruppe im Begriff war, sich wieder in Bewegung zu setzen. »Und Damsell Elphie?«, erkundigte er sich, um sie aufzuhalten. »Wie geht es Ihrer Stubenkameradin?«

»Sie ist eigensinnig und schwierig wie immer«, sagte Galinda streng, zum ersten Mal im normalen Ton, nicht mit gehauchter förmlicher Flüsterstimme. »Aber Lurlina sei Dank, sie hat eine Ferienarbeit, da habe ich ein wenig Ruhe vor ihr. Sie arbeitet im Laboratorium und in der Bibliothek unter unserem Doktor Dillamond. Kennen Sie ihn?«

»Doktor Dillamond? Ob ich ihn kenne?«, sagte Boq. »Er ist der beeindruckendste Biologiedozent in Shiz.«

»Er ist allerdings«, sagte Galinda, »ein Geissbock

»Ja, ja. Ich wünschte, er würde uns unterrichten. Selbst unsere Professoren erkennen seine herausragenden Fähigkeiten an. Anscheinend war es früher so, unter der Herrschaft des Regenten und davor, dass er alljährlich zu einem Vortrag am Brischko-Kolleg eingeladen wurde. Doch wegen der Einschränkungen ist jetzt auch damit Schluss, so dass ich ihn niemals richtig kennengelernt habe. Allein ihn bei diesem Poesieabend im vorigen Jahr zu sehen, wenn auch nur kurz, war ein Erlebnis –«

»Na ja, er redet in einem fort«, sagte Galinda. »Er mag ja brillant sein, aber er hat kein Gefühl dafür, wann er ermüdend wird. Jedenfalls ist Damsell Elphaba mit irgendetwas tüchtig beschäftigt. Auch sie redet darüber in einem fort. Es scheint ansteckend zu sein.«

»Tja, ein Laboratorium brütet so manches aus«, sagte Krapp.

»Allerdings«, sagte Timmel, »und nebenbei darf ich vielleicht bemerken, dass Boq mit seinen schwärmerischen Ergüssen über Ihre Schönheit nicht im Geringsten übertrieben hat. Wir haben eigentlich an eine überhitzte Phantasie geglaubt, das Produkt psychischer und physischer Frustrationen –«

»Wissen Sie was?«, sagte Boq. »Ihre Damsell Elphie und meine ehemaligen Freunde hier machen jede Hoffnung zunichte, dass wir jemals Freundschaft schließen. Wollen wir uns stattdessen nicht lieber duellieren? Zehn Schritte abzählen, umdrehen und schießen? Es würde uns eine Menge Ärger ersparen.«

Doch Galinda hielt nichts von solchen Witzen. Sie nickte zum Zeichen, dass es reichte, und die vier Damen setzten sich wieder in Bewegung und folgten auf dem Kiesweg der Biegung des Kanals. Man hörte noch, wie Damsell Schenschen mit tiefer, hauchiger Stimme sagte: »Du liebe Güte, er ist ja ganz süß, wenn man auf Zwerge steht.«

Die Stimme verklang. Boq wollte schimpfend auf Krapp und Timmel losgehen, doch die fingen an, ihn zu kitzeln, und alle drei brachen lachend über den Resten ihres Mittagsbrots zusammen. Und da es aussichtslos war, sie zu verändern, verzichtete Boq darauf, seine Freunde zu maßregeln. Wozu sich über ihr kindisches Geflachse aufregen, wenn Damsell Galinda ihn so unmöglich fand?

Ein oder zwei Wochen später begab sich Boq an seinem freien Nachmittag zum Eisenbahnplatz. Er blieb an einem Kiosk stehen und gaffte die Auslagen an: Zigaretten, Ersatzliebeszauber, frivole Zeichnungen sich entkleidender Frauen und Bildrollen, die grelle Sonnenuntergänge zeigten und mit aufrüttelnden Einzeilern beschriftet waren: »Lurlina lebt in jedem Herzen fort.« »Haltet die Gesetze des Zauberers, und die Gesetze des Zauberers werden euch halten.« »Ich bete zum Namenlosen Gott, dass Gerechtigkeit geschehen möge in Oz.« Boq bemerkte die unterschiedlichen Tendenzen: die heidnische, die obrigkeitsstaatliche und die altmodisch unionistische.

Aber keine direkte Parteinahme für die Royalisten, die in den sechzehn harten Jahren, seit der Zauberer dem Ozma-Regenten die Macht entrissen hatte, in den Untergrund gegangen waren. Die Ozmasche Linie stammte ursprünglich aus Gillikin, musste es da nicht aktive Widerstandsnester geben, die den Zauberer bekämpften? Andererseits hatte Gillikin unter dem Zauberer einen Aufschwung erlebt, daher hielten sich die Royalisten bedeckt. Außerdem hatten alle die Gerüchte über drakonische Strafen für Renegaten und Peristrophisten gehört.

Boq kaufte eine in der Smaragdstadt erschienene Zeitung – mehrere Wochen alt, doch es war die erste, die er seit einiger Zeit zu Gesicht bekommen hatte – und setzte sich damit in ein Café. Er las, dass der smaragdstädtische Heimatschutz einige tierische Demonstranten davon abgehalten hatte, im Palastgarten die öffentlichen Ordnung zu stören. Er schaute nach Nachrichten aus den Provinzen und fand einen Lückenfüller über Munchkinland, wo weiterhin dürreähnliche Zustände herrschten; es gingen zwar gelegentlich Wolkenbrüche nieder, doch das Wasser lief ab oder versickerte nutzlos im Lehm. In dem Artikel stand, dass es im Winkus verborgene unterirdische Seen gab, deren Wasserressourcen ganz Oz versorgen konnten. Doch die Vorstellung eines Kanalnetzes über das ganze Land fanden alle zum Lachen. Die Kosten! Es herrschte große Uneinigkeit zwischen den Eminenzen und der Smaragdstadt in der Frage, was zu tun sei.

Abspaltung, dachte Boq aufwieglerisch, und als er aufschaute, stand Elphaba vor ihm, allein, ohne Anstandsdame oder Muhme.

»Was für einen köstlichen Ausdruck du im Gesicht hast, Boq«, sagte sie. »Viel interessanter als Liebe.«

»In gewisser Weise ist es Liebe«, sagte Boq, dann besann er sich und sprang auf. »Willst du dich nicht zu mir setzen? Bitte, nimm Platz! Sofern es dir nichts ausmacht, dass du unbeaufsichtigt bist.«

Sie setzte sich und gestattete ihm, ihr einen Mineraltee zu bestellen; sie sah ein bisschen mitgenommen aus. Sie hatte ein braunes, mit Kordel verschnürtes Paket unter dem Arm. »Ein paar Kleinigkeiten für meine Schwester«, sagte sie. »Sie ist wie Galinda, sie liebt den äußeren Schick. Ich habe im Basar ein winkisches Umhängetuch für sie gefunden, rote Rosen auf schwarzem Grund, mit schwarzgrünen Fransen. Ich schicke es ihr zusammen mit einem Paar gestreifter Strümpfe, die Muhme Schnapp für mich gestrickt hat.«

»Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast«, sagte er. »War sie mit uns zusammen in der Spielgruppe?«

»Sie ist drei Jahre jünger als ich«, sagte Elphaba. »Sie wird in Kürze aufs Grattler-Kolleg kommen.«

»Ist sie so schwierig wie du?«

»Sie ist auf andere Art schwierig. Sie ist behindert, meine Nessarose, und zwar ziemlich schwer, und hält einen ordentlich auf Trab. Selbst Madame Akaber weiß noch nicht genau, wie es wirklich um sie steht. Doch zu dem Zeitpunkt werde ich im dritten Jahr sein und den Mut haben, der Rektorin die Stirn zu bieten, hoffe ich. Es gibt Leute, die Nessarose das Leben schwermachen. Das Leben ist auch so schon schwer genug für sie.«

»Kümmert sich deine Mama um sie?«

»Meine Mutter ist tot. Mein Vater ist offiziell für sie zuständig.«

»Offiziell?«

»Er ist Pfarrer«, sagte Elphaba und rieb die Handflächen im Kreis aneinander, eine Geste, die zu verstehen gab, dass zwei Mühlsteine noch so lange mahlen konnten, aber wenn es kein Korn gab, niemals Mehl dabei herauskommen konnte.

»Das hört sich sehr schwer für euch alle an. Woran ist deine Mutter gestorben?«

»Sie ist im Kindbett gestorben, und das ist die letzte persönliche Auskunft, die du bekommst.«

»Erzähl mir von Doktor Dillamond. Wie ich höre, arbeitest du für ihn.«

»Erzähl du mir von deiner Werbung um das Herz von Galinda der Eiskönigin.«

Boq interessierte sich wirklich für Doktor Dillamond, ließ sich aber durch Elphabas Bemerkung von dem Thema abbringen. »Ich werde nicht aufhören, Elphie, niemals! Wenn ich sie sehe, brennt es wie Feuer in meinen Adern. Ich kann nichts sagen, und wenn ich etwas denke, ist mir, als hätte ich Visionen. Als träumte ich. Als flöge ich im Traum dahin.«

»Ich träume nicht.«

»Sag mir, gibt es irgendeine Hoffnung? Was erzählt sie? Kann sie sich überhaupt vorstellen, eine Neigung für mich zu entwickeln?«

Elphaba hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und die Hände gefaltet und hielt ihre beiden ausgestreckten Zeigefinger an die dünnen, gräulichen Lippen. »Weißt du, Boq«, sagte sie, »Galinda ist mir mittlerweile selbst ganz lieb geworden. Hinter ihrer blauäugigen Selbstverliebtheit verbirgt sich ein Hirn, das gern arbeiten würde. Sie denkt tatsächlich über so manches nach. Wenn sie ihr Hirn in Betrieb nimmt und man etwas nachhilft, kann es durchaus sein, dass sie an dich denkt – nicht einmal unfreundlich, vermute ich. Wohlgemerkt, ich vermute es. Ich weiß es nicht. Aber wenn sie wieder in sich zurücksinkt, das heißt, in das Mädchen, das zwei Stunden am Tag damit zubringt, seine schönen Haare in Locken zu legen, dann ist es, als ob die denkende Galinda in einer inneren Abstellkammer verschwindet und die Tür hinter sich zuschlägt. Als ob sie hysterisch vor Dingen zurückweicht, die zu groß für sie sind. Ich liebe sie in beiden Fällen, aber ich finde es komisch. Wobei ich gar nichts dagegen hätte, mich irgendwo abzustellen, wenn ich könnte, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll.«

»Ich finde, du urteilst sehr hart über sie, und auf jeden Fall bist du zu respektlos«, sagte Boq streng. »Wenn sie hier sitzen würde, wäre sie, glaube ich, über deine spitze Zunge verwundert.«

»Ich versuche nur, mich so benehmen, wie sich meines Erachtens eine Freundin benehmen sollte. Wobei ich, zugegeben, darin nicht viel Übung habe.«

»Ich weiß nicht, was ich von deiner Freundschaft halten soll, wenn du Damsell Galinda ebenfalls als deine Freundin betrachtest und wenn das deine Art ist, über eine abwesende Freundin herzuziehen.«

Obwohl Boq sich ärgerte, merkte er, dass diese Auseinandersetzung lebendiger war als die konventionellen Floskeln, die Galinda und er bis dahin gewechselt hatten. Er wollte Elphaba nicht mit kritischen Bemerkungen verprellen. »Ich bestelle dir noch einen Mineraltee«, sagte er in entschiedenem Ton, dem Ton seines Vaters, wie er in dem Moment merkte, »und dann erzählst du mir etwas über Doktor Dillamond.«

»Vergiss den Tee, ich habe den ersten noch nicht ausgetrunken, und ich wette, du hast nicht mehr Geld als ich«, sagte Elphaba. »Aber von Doktor Dillamond will ich dir erzählen. Sofern du dich von meinen Ansichten nicht zu sehr vor den Kopf gestoßen fühlst.«

»Bitte, vielleicht irre ich mich ja. Schau, es ist ein schöner Tag, und wir sind nicht auf dem Campus. Wieso kannst du übrigens allein unterwegs sein? Hat Madame Akaber dir das erlaubt?«

»Dreimal darfst du raten.« Sie grinste. »Als klar war, dass du durch den Gemüsegarten und über das Dach des Reitstalls nach Belieben im Grattler-Kolleg ein- und ausgehen kannst, beschloss ich, dass ich das auch kann. Mein Fehlen fällt niemandem auf.«

»Das kann ich kaum glauben«, traute er sich zu sagen, »denn du bist nicht gerade eine unauffällige Erscheinung. Aber jetzt erzähl mir von Doktor Dillamond. Er ist mein Idol.«

Sie seufzte, legte endlich das Paket auf den Tisch und fand sich damit ab, dass es länger dauern würde. Sie erzählte ihm von Doktor Dillamonds Arbeit mit natürlichen Essenzen: wie er mit wissenschaftlichen Methoden ergründen wollte, worin die wirklichen Unterschiede zwischen tierischem und tierischem Gewebe und zwischen tierischem und menschlichem Gewebe lagen. Die Literatur zu dem Thema, hatte sie bei ihrer Tätigkeit als seine Helferin erfahren, war nachhaltig vom unionistischen Denken gefärbt, die ältere noch vom heidnischen Denken, und hielt einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. »Vergiss nicht, dass die Akademie von Shiz ursprünglich ein unionistisches Kloster war«, sagte Elphaba. »Trotz der Laissez-faire-Einstellung unter der gebildeten Elite sind die unionistischen Tendenzen immer noch stark.«

»Ich bin auch Unionist«, meinte Boq, »und für mich besteht da kein Widerspruch. Der Namenlose Gott umfasst alle Lebensformen, nicht bloß die menschliche. Meinst du, es gibt in den frühen unionistischen Traktaten eine untergründige Tendenz gegen Tiere, die heute noch nachwirkt?«

»Jedenfalls denkt das Doktor Dillamond. Wobei er selber Unionist ist. Erkläre mir dieses Paradox, und ich werde mit Freuden konvertieren. Ich bewundere diesen Geissbock außerordentlich. Aber mein eigentliches Interesse gilt dem politischen Aspekt. Wenn er irgendwelche biologischen Bausteine isolieren und damit beweisen kann, dass sich tief in den unsichtbaren Zellen menschlichen und tierischen Fleischs kein Unterschied erkennen lässt, dass es keinen Unterschied gibt, vielleicht nicht einmal zum tierischen Fleisch, dann … na ja, du kannst dir denken, was das für Konsequenzen hätte.«

»Nein«, sagte Boq, »kann ich nicht.«

»Wie will man die Beschränkungen der tierischen Freiheit aufrechterhalten, wenn Doktor Dillamond wissenschaftlich beweisen kann, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Menschen und Tieren gibt?«

»Oh, das ist allerdings die Vision einer unglaublich rosigen Zukunft.«

»Denk doch mal nach«, sagte Elphaba. »Denk nach, Boq! Mit welcher Begründung könnte der Zauberer diese Beschränkungen weiter durchsetzen?«

»Wer sollte ihn davon abbringen? Der Zauberer hat die Bewilligungskammer auf unbestimmte Zeit aufgelöst. Ich glaube nicht, Elphie, dass er offen für sachliche Argumente ist, selbst wenn sie von einem so hochangesehenen Tier wie Doktor Dillamond kommen.«

»Aber er muss dafür offen sein. Als Machthaber ist es seine Aufgabe, neue Erkenntnisse zu berücksichtigen. Wenn Doktor Dillamond den Beweis erbracht hat, wird er an den Zauberer schreiben und sich für Veränderungen einsetzen. Zweifellos wird er auch alles tun, was in seiner Macht steht, um die Tiere im ganzen Land von seinen Absichten zu unterrichten. Er ist nicht dumm.«

»Ich habe nicht gesagt, dass er dumm ist«, entgegnete Boq. »Aber wie handfest, meinst du, sind die Beweise, die er bis jetzt hat?«

»Ich bin nur eine studentische Hilfskraft«, sagte Elphaba. »Ich verstehe kaum den Sinn seiner Worte. Ich bin nur eine Sekretärin, eine Schreibhilfe – er kann ja nicht selber schreiben, weil er mit seinen Hufen keinen Stift halten kann. Ich nehme Diktate auf, ich lege sie ab, und ich flitze zur Grattler-Kollegsbibliothek und schlage Sachen nach.«

»Die Bibliothek im Brischko-Kolleg wäre für Material dieser Art ergiebiger«, meinte Boq. »Selbst die Drei-Königinnen, wo ich diesen Sommer arbeite, hat im Magazin Urkunden der Mönche über ihre Beobachtungen des Tier- und Pflanzenlebens.«

»Ich bin keine offizielle Mitarbeiterin«, sagte Elphaba, »und als Mädchen darf ich die Brischko-Kollegsbibliothek nicht benutzen. Und Doktor Dillamond als Tier auch nicht, mittlerweile wenigstens. Diese wertvollen Quellen sind uns also verschlossen.«

»Na ja«, sagte Boq leichthin, »wenn ihr genau wisst, was ihr braucht … Ich habe Zutritt zu den Magazinen beider Sammlungen.«

»Und wenn der gute Doktor Dillamond den Unterschied zwischen Tieren und Menschen endlich ausgetüftelt hat, werde ich ihm vorschlagen, dass er dieselben Kriterien auf den Unterschied zwischen den Geschlechtern anwendet«, sagte Elphaba. Erst da ging ihr auf, was Boq gesagt hatte, und sie streckte die Hand aus, fast als wollte sie ihn anfassen. »O Boq! Boq! Im Namen von Doktor Dillamond nehme ich hiermit dein großzügiges Hilfsangebot an. Die erste Liste von Quellen lasse ich dir im Laufe der Woche zukommen. Nur lass meinen Namen aus dem Spiel. Mir ist es egal, ob ich mir den Zorn der makabren Akaber zuziehe, aber ich will nicht, dass sie ihren Unmut an meiner Schwester Nessarose auslässt.« hexkap

Sie stürzte den letzten Schluck Tee hinunter, schnappte sich ihr Paket und war aufgesprungen, bevor Boq sich ordentlich verabschieden konnte. Etliche Gäste, die ihrerseits mit Zeitungen oder Romanheften beim Frühstück saßen, schauten auf, als das linkische Mädchen zur Tür hinausstürmte. Als Boq wieder saß und sich fragte, auf was er sich da eingelassen hatte, bemerkte er bei einem langsamen, aber gründlichen Blick in die Runde, dass an diesem Morgen keine Tiere ihren Tee in dem Lokal nahmen. Nicht ein einziges Tier.

4

In späteren Jahren seines langen Lebens sollte der restliche Sommer in Boqs Erinnerung stets den muffigen Geruch alter Bücher ausströmen. Er stöberte allein in den dumpfigen Magazinen herum, er beugte sich über die Mahagonischubfächer mit ihren Pergamentschätzen, deren altertümliche Schrift ihm vor den Augen verschwamm. Den ganzen Sommer über, schien ihm, beschlugen die Rautenscheiben der Fenster mit ihrem Blausteinstab- und -maßwerk immer wieder mit kleinen, nervtötenden Regentropfen, die fast wie Sandkörner prasselten. Anscheinend gelangte der Regen niemals bis Munchkinland – aber daran versuchte Boq nicht zu denken. hex

Krapp und Timmel wurden zwangsverpflichtet, sich an den Nachforschungen für Doktor Dillamond zu beteiligen. Anfangs mussten sie davon abgebracht werden, sich für ihre Suchexpeditionen mit Kneifern, gepuderten Perücken und Roben mit hohem Kragen zu verkleiden, alles Funde, die sie in der gut ausgestatteten Garderobe der studentischen Theatergruppe am Drei-Königinnen-Kolleg machten. Doch als sie den Ernst der Sache begriffen hatten, stellten sie sich begeistert in ihren Dienst. Einmal die Woche trafen sie sich mit Boq und Elphaba im Café am Eisenbahnplatz. Elphaba erschien in diesen nieseligen Wochen immer in einem weiten braunen Mantel mit Kapuze und Schleier, der sie bis auf die Augen vollständig vermummte. Sie trug lange, abgenutzte graue Handschuhe, gebraucht von einem Bestattungsunternehmen gekauft, wie sie stolz erklärte, und billig, weil sie schon bei etlichen Beerdigungen getragen worden waren. Über ihre Bohnenstangenbeine zog sie zwei Paar Baumwollstrümpfe. Als Boq Elphaba das erste Mal so sah, sagte er: »Ich konnte Krapp und Timmel mit Mühe und Not überreden, auf den Spionagefummel zu verzichten, und du kommst daher wie die original kumbrische Hexe.«

»Ich bin damit nicht auf euern Beifall aus, Jungs.« Sie streifte den Mantel ab und hängte ihn so über den Stuhl, dass sie nicht mit der nassen Wolle in Berührung kam. Wenn es einmal vorkam, dass ein anderer Gast im Vorbeigehen seinen regennassen Schirm ausschüttelte, zuckte Elphaba immer zurück, und bei jedem Tröpfchen, das sie traf, verzog sie schmerzlich das Gesicht. hexkap

»Ist das was Religiöses, Elphie, dass du so darauf achtest, trocken zu bleiben?«, fragte Boq.

»Ich habe dir schon mal gesagt, dass ich mit Religion nichts anfangen kann.«

»Daher also deine generelle Abneigung gegen Wasser«, bemerkte Krapp. »Vielleicht könnte ein Spritzer, ohne dass du es ahnst, als Taufwasser wirken, und dann wäre deine Freiheit als ungebundene Agnostikerin beeinträchtigt.«

»Ich dachte immer, du wärst zu sehr mit dir selbst beschäftigt, um meinen spirituellen Knacks zu bemerken«, sagte Elphaba. »Also, Jungs, was habt ihr heute für mich?«

Jedes Mal dachte Boq: Wenn doch Galinda hier wäre. Denn die selbstverständliche Kameradschaft, die sich während dieser Wochen zwischen ihnen entwickelte, war wunderbar erfrischend – so ungezwungen und witzig, wie man nur wünschen konnte. Den Anstandsregeln zum Trotz waren sie alle zum Du übergegangen. Sie fielen sich gegenseitig ins Wort und lachten und kamen sich wegen der Heimlichkeit ihres Treibens kühn und wichtig vor. Krapp und Timmel als Smaragdstädtern – Sohn eines Steuereinnehmers der eine, eines Sicherheitsberaters im Palast der andere – waren Tiere und die Beschränkungen ihrer Freiheit ziemlich gleichgültig, doch Elphabas leidenschaftlicher Glaube an die Sache beflügelte sie. Auch Boqs Engagement wuchs. Er stellte sich vor, wie Galinda sich zu ihnen setzte, wie sie ihre vornehme Reserviertheit ablegte, wie ihre Augen bei dem Gedanken an das gemeinsame geheime Ziel leuchteten.

»Ich dachte, ich kenne sämtliche Formen der Leidenschaft«, sagte Elphaba eines sonnigen Nachmittags. »Wo ich doch einen unionistischen Pfarrer zum Vater habe, meine ich. Man geht fraglos davon aus, dass Theologie das Fundament ist, auf dem alles übrige Denken und Meinen aufbaut. Aber ich sage euch, Jungs, diese Woche hat Doktor Dillamond irgendeinen wissenschaftlichen Durchbruch geschafft. Ich weiß nicht genau, worum es sich handelt, aber er hat dazu zwei Linsen in einer ganz bestimmten Weise angeordnet und damit Gewebeproben betrachtet, die er auf eine Glasscheibe gelegt hatte, mit Kerzen im Hintergrund. Er begann zu diktieren, und er war so aufgeregt, dass er seine Befunde förmlich sang, er komponierte die reinsten Arien über das, was er sah. Rezitative über Strukturen, über Farben, über die elementaren Formen organischen Lebens. Er hat eine hässliche kratzige Stimme, wie bei einem Geissbock zu erwarten, aber auf einmal schmetterte er los. Tremolo bei den Kommentaren, vibrato bei den Interpretationen und sostenuto bei den Folgerungen: lange, triumphierende offene Vokale der Entdeckerfreude! Ich hatte Angst, dass ihn jemand hört. Und ich sang ebenfalls, ich trug ihm seine Aufzeichnungen vor wie eine Kompositionsstudentin.«

Von seinen Funden bestärkt verlangte der kühne Forscher, dass ihre Forschungen zielgerichteter wurden. Er wollte mit seinen Erkenntnissen nicht eher an die Öffentlichkeit treten, als bis er sich über die politisch günstigste Art, sie zu präsentieren, im Klaren war. Gegen Ende des Sommers gingen die Bemühungen dahin, lurlinistische und frühe unionistische Abhandlungen zu der Frage zu finden, wie die Tiere und die Tiere erschaffen und voneinander getrennt worden waren. »Es geht nicht darum, einer vorwissenschaftlichen Schar unionistischer Mönche oder heidnischer Priester und Priesterinnen wissenschaftliche Theorien unterzuschieben«, erklärte Elphaba. »Doktor Dillamond will vielmehr belegen, wie unsere Vorfahren darüber dachten. Das Recht des Zauberers, ungerechte Gesetze zu erlassen, lässt sich besser bestreiten, wenn wir wissen, wie die alten Träumer sich die Sache zurechtlegten.« hex

Es war eine interessante Übung.

»In der einen oder anderen Form kennen wir doch alle einige der Ursprungsmythen, die vor der Ozias im Schwange waren«, sagte Timmel und warf sich mit theatralischer Gebärde seine blonde Tolle aus der Stirn. »Am schlüssigsten ist der, wo unsere gute Feenkönigin Lurlina auf Reisen ist. Ermüdet vom Fliegen machte sie Rast und rief aus dem Wüstensand eine Quelle hervor, die tief unter den trockenen Dünen der Erde verborgen gewesen war. Das Wasser sprudelte auf ihren Befehl hin in solchen Massen, dass fast augenblicklich das Land Oz in seiner ganzen Mannigfaltigkeit aus dem Boden schoss. Lurlina trank bis zur Besinnungslosigkeit und sank dann auf dem Gipfel des Zinkenhorns in einen langen Schlaf. Als sie erwachte, ließ sie ausgiebig Wasser, und daraus entstand der Gillikinfluss, der durch die ungeheuren Weiten der Gillikinesischen Wälder und dann am östlichen Rand des Winkus in den Rastensee fließt. Die Tiere waren terrikolos und gehörten damit einer niedrigeren Ordnung an als Lurlina und ihr Gefolge. Schaut mich nicht so an, ich weiß, was das Wort bedeutet – ich hab’s nachgeschlagen. Es bedeutet, ›im oder am Boden lebend‹.  

Die Tiere waren als Erdklumpen entstanden, die sich durch das unmäßige Pflanzenwachstum an den Hängen gelöst und im Hinabrollen ihre Formen erhalten hatten. Als Lurlina losstrullte, meinten die Tiere, der wütende Strom sei eine Sintflut, die ihre junge Welt überschwemmen wollte, und sie bangten um ihr Leben. In ihrer Verzweiflung warfen sie sich in die reißenden Fluten und versuchten, durch Lurlinas Urin zu schwimmen. Diejenigen, die es mit der Angst zu tun bekamen und umkehrten, blieben Tiere, die zur Arbeit eingespannt, zum Essen geschlachtet, zum Vergnügen gejagt, für Geld veräußert, als unschuldig bewundert wurden. Diejenigen, die weiterschwammen und ans andere Ufer gelangten, wurden mit Vernunft und Sprache beschenkt.«

»Ein tolles Geschenk, sich den eigenen Tod vorstellen zu können«, knurrte Krapp.

»Daher Tiere. Der Brauch, die Tiere von den Tieren zu trennen, reicht in unvordenkliche Zeiten zurück.«

»Mit Pisse getauft«, sagte Elphaba. »Ist das eine hintergründige Art, die Fähigkeiten der Tiere zu erklären und sie gleichzeitig zu verunglimpfen?«

»Und was ist mit den Tieren, die ertranken?«, fragte Boq. »Das sind doch die wahren Verlierer gewesen.«

»Oder die Märtyrer.«

»Oder die Geister, die heute unter der Erde leben und den Feldern von Munchkinland die Wasserversorgung abdrehen.«

Sie lachten und ließen sich noch eine Runde Tee bringen.

»Ich habe ein paar spätere Schriften mit einem eher unionistischen Einschlag gefunden«, sagte Boq. »Sie erzählen eine Geschichte, die vermutlich auf den heidnischen Mythos zurückgeht, aber ein wenig bereinigt wurde. Die einige Zeit nach der Schöpfung und vor den ersten Menschen auftretende Sintflut war keine gewaltige Entleerung Lurlinas, sondern das Tränenmeer, das der Namenlose Gott bei seinem einzigen Besuch in Oz weinte. Der Namenlose Gott erkannte das Leid, das im Laufe der Zeit über das Land hereinbrechen würde, und er heulte vor Schmerz. Ganz Oz stand eine Meile tief unter der salzigen Flut. Die Tiere hielten sich an entwurzelten Bäumen über Wasser. Diejenigen, die genug von den Tränen des Namenlosen Gottes geschluckt hatten, wurden von maßlosem Mitgefühl mit ihren Artgenossen erfüllt, und sie fingen an, aus dem Treibholz Flöße zu bauen. Sie retteten ihre Artgenossen aus Barmherzigkeit, und durch ihre Güte wurden sie eine neue, intelligente Art: die Tiere

»Wieder eine Taufe, diesmal von innen«, sagte Timmel. »Durch Trinken. Das gefällt mir.«

»Aber was ist mit dem Freudenkult?«, fragte Krapp. »Kann eine Hexe oder ein Zauberer ein Tier nehmen und es mit einem Spruch in ein Tier verwandeln?«

»Das ist etwas, womit ich mich beschäftigt habe«, sagte Elphaba. »Die Freudisten sagen, wenn irgendjemand das einmal tun konnte, sei es Lurlina oder der Namenlose Gott, dann kann die Magie es aufs neue tun. Sie lassen sogar durchblicken, dass die Unterscheidung zwischen Tieren und Tieren ursprünglich ein kumbrischer Hexenzauber von solcher Stärke und Beständigkeit war, dass seine Wirkung niemals vergangen ist. Das ist gefährliche Propaganda, die Niedertracht schlechthin. Niemand weiß, ob es so etwas wie eine kumbrische Hexe überhaupt gibt oder jemals gegeben hat. Ich persönlich denke, dass die Figur ein Teil des lurlinistischen Sagenkreises ist, der sich ablöste und eine unabhängige Entwicklung nahm. Ausgemachter Blödsinn. Wir haben keinen Beweis dafür, dass Magie so stark ist –«

»Wir haben keinen Beweis dafür, dass Gott so stark ist«, unterbrach Timmel sie.

»Das stimmt, das Argument gilt genauso gut gegen Gott wie gegen die Magie«, sagte Elphaba, »aber lassen wir das. Der Punkt ist, ein Jahrhunderte alter fortwirkender kumbrischer Zauber ist aufhebbar. Oder er kann als aufhebbar dargestellt werden, was genauso schlimm ist. Und während die Zauberer mit Sprüchen und Beschwörungen herumexperimentieren, verlieren unterdessen die Tiere ihre Rechte, eins nach dem andern. Gerade langsam genug, dass es nur schwer als eine von langer Hand geplante politische Kampagne erkannt werden kann. Das ist eine Möglichkeit, auf die Doktor Dillamond noch gar nicht gekommen ist –«

Auf einmal zog sie sich das Kapuzenteil ihres Mantels über den Kopf, so dass ihr Gesicht völlig verschwand. »Was ist los?«, fragte Boq, doch sie legte den Finger auf die Lippen. Krapp und Timmel begannen wie auf Kommando ein albernes Geplänkel darüber, wie begehrenswert sie es fänden, von Wüstenpiraten entführt und gezwungen zu werden, nur mit Fußfesseln bekleidet Fandango zu tanzen. Boq sah nichts Ungewöhnliches: zwei Männer, die die Startlisten vom Pferderennen lasen, ein paar vornehme Damen mit Limonade und Romanheften, ein Tiktak, der ein Pfund Kaffeebohnen kaufte, ein alter Professor wie aus dem Bilderbuch, der an einem Lehrsatz herumtüftelte und dazu auf der Klinge seines Buttermessers ein paar Zuckerwürfel hierhin und dorthin schob.

Wenig später entspannte Elphaba sich wieder. »Dieses Tiktakding arbeitet im Grattler-Kolleg. Ich glaube, es heißt Grommetik. Meistens folgt es Madame Akaber wie ein liebeskranker Schoßhund. Ich glaube nicht, dass es mich gesehen hat.«

Aber sie war jetzt zu nervös, um das Gespräch fortzusetzen, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle über ihre nächsten Aufträge im Bilde waren, gingen sie in verschiedenen Richtungen auseinander.

5

Zwei Wochen, bevor sich das Brischko-Kolleg zum neuen Semester wieder füllte, kehrte Avaric von zu Hause zurück, dem Sitz des Markgrafen von Zehnwiesen. Er war braungebrannt und blendend erholt und auf Vergnügen aus. Er zog Boq damit auf, dass er mit Jungen vom Drei-Königinnen Freundschaft geschlossen hatte, und unter anderen Umständen hätte Boq seine neue Verbindung mit Krapp und Timmel wahrscheinlich einschlafen lassen. Aber sie arbeiteten jetzt alle engagiert an Doktor Dillamonds Forschungen mit, und so ließ Boq Avarics Gefrotzel kommentarlos über sich ergehen.

Elphaba bemerkte eines Tages, sie habe einen Brief von Galinda bekommen, die sich mit ihren Freundinnen am Kluchtsee aufhielt. »Kannst du dir das vorstellen, sie hat vorgeschlagen, dass ich eine Kutsche nehme und sie übers Wochenende besuchen komme«, sagte sie. »Sie muss sich in ihrer feinen Gesellschaft wirklich unsterblich langweilen.«

»Aber sie gehört selbst zur feinen Gesellschaft, wie kann sie sich da langweilen?«, fragte Boq.

»Verlange nicht von mir, dass ich dir die Feinheiten dieser Kreise erkläre«, sagte Elphaba, »aber ich vermute, dass unsere Damsell Galinda mit der feinen Gesellschaft nicht ganz so glücklich ist, wie sie tut.«

»Und, Elphie, wann fährst du?«

»Gar nicht«, antwortete Elphaba. »Die Arbeit hier ist zu wichtig.«

»Lass mich den Brief mal sehen.«

»Ich habe ihn nicht dabei.«

»Bring ihn das nächste Mal mit.«

»Wozu?«

»Vielleicht braucht sie dich. Sie macht immer den Eindruck, dich zu brauchen.«

»Mich zu brauchen?« Elphaba lachte rauh und laut. »Na ja, ich weiß, dass du verliebt bist, und das ist auch ein wenig meine Schuld. Ich zeige dir den Brief nächste Woche. Aber ich werde nicht fahren, nur damit du aus der Ferne mitfiebern kannst, Boq. Freundschaft hin oder her.«

In der Woche darauf hatte sie den Brief dabei.

Meine liebe Damsell Elphaba,

meine Gastgeberinnen, die Damsellen Fanny von Fannburg und Schenschen von Zobelitz, bitten mich, Ihnen zu schreiben. Wir verbringen einen herrlichen Sommer hier am Kluchtsee. Die Luft ist ruhig und mild, und alles ist furchtbar schön. Wenn Sie Lust hätten, uns drei oder vier Tage vor Semesterbeginn zu besuchen, wir wissen, Sie haben den Sommer über hart gearbeitet und so weiter. Eine kleine Veränderung. Wenn Sie kommen mögen, brauchen Sie nicht zu schreiben, wenn Sie uns besuchen mögen. Sie fahren einfach mit der Kutsche nach Nimmertal und kommen zu Fuß oder mit einer Mietdroschke, über die Brücke sind es nur ein oder zwei Meilen. Das Haus ist entzückend, mit Rosen und Efeu überwachsen, es nennt sich »Haus Kiefernlust«. Wem würde es hier nicht gefallen! Ich hoffe sehr, dass Sie kommen können! Ich hoffe das ganz besonders aus Gründen, die ich nicht zu schreiben wage. Was Anstandsdamen anbelangt, weiß ich Ihnen nicht zu raten, Muhme Schnapp ist bereits hier und Muhme Klimmt und Muhme Schmund auch. Entscheiden Sie selbst. Wir hoffen auf lange Stunden unterhaltsamer Gespräche.

Herzlichst, Ihre gute Freundin,

Damsell Galinda von Arduenna

33. Hochsommermond, Mittag

Haus Kiefernlust

»Du musst fahren!«, rief Boq. »Sieh nur, wie sie dir schreibt!«

»Sie schreibt wie eine, die nicht sehr oft schreibt«, bemerkte Elphaba.

»›Ich hoffe sehr, dass Sie kommen können!‹, sagt sie. Sie braucht dich, Elphie. Ich bestehe darauf, dass du fährst!«

»Ach, tatsächlich? Warum fährst du nicht?«, sagte Elphaba.

»Ich kann ja wohl kaum ohne eine Einladung fahren.«

»Ach, das ist kinderleicht. Ich schreibe ihr, dass sie dich einladen soll.« Elphaba griff nach dem Stift in ihrer Tasche.

»Mach dich nicht über mich lustig, Elphaba«, sagte Boq streng. »Die Sache muss ernst genommen werden.«

»Du bist verliebt und verblendet«, sagte Elphaba. »Außerdem kann ich nicht fahren. Ich habe keine Anstandsdame.«

»Ich werde auf dich aufpassen.«

»Ha! Als ob Madame Akaber das zulassen würde!«

»Na schön … wie wär’s mit …« Boq überlegte hin und her. »Wie wär’s mit meinem Freund Avaric? Er ist der Sohn eines Markgrafen. Er ist durch seinen Stand über jeden Verdacht erhaben. Selbst Madame Akaber würde vor dem Sohn eines Markgrafen die Segel streichen.«

»Madame Akaber würde vor keinem Orkan die Segel streichen. Außerdem, denkst du gar nicht an mich? Ich habe keine Lust, mit diesem Avaric zu reisen.«

»Elphie«, sagte Boq, »du bist mir was schuldig. Ich habe mich den ganzen Sommer über von dir einspannen lassen, und Krapp und Timmel habe ich mit eingespannt. Jetzt musst du mir einen Gefallen tun. Bitte Doktor Dillamond um ein paar freie Tage, und ich gehe Avaric fragen; er brennt darauf, irgendetwas zu unternehmen. Zu dritt fahren wir dann zum Kluchtsee. Avaric und ich nehmen uns in einem Gasthaus ein Zimmer, und wir bleiben nur ganz kurz. Nur bis ich mich vergewissert habe, dass mit Damsell Galinda alles in Ordnung ist.«

»Um dich mache ich mir Sorgen, nicht um sie«, sagte Elphaba, und Boq sah, dass er gewonnen hatte.

Madame Akaber wollte Elphaba nicht der Obhut von Avaric anvertrauen. »Ihr guter Vater würde mir das nie verzeihen«, sagte sie. »Aber ich bin nicht die makabre Akaber, für die Sie mich halten. O ja, ich kenne Ihren Spitznamen für mich, Damsell Elphaba. Amüsant und infantil. Ich bin um Ihr Wohlergehen besorgt. Und bei Ihrer vielen Arbeit den Sommer über sind Sie, wie ich sehe, nun, wie soll ich sagen, ganz blassgrün geworden? Ich werde Ihnen daher einen Kompromissvorschlag machen. Vorausgesetzt, Sie können Junker Avaric und Junker Boq überreden, mit Ihnen und meinem kleinen Grommetik zu fahren, den ich Ihnen zur Aufsicht überlasse, werde ich die Erlaubnis zu Ihrem kleinen Sommerausflug geben.«

Elphaba, Boq und Avaric fuhren in der Kutsche, und Grommetik musste mit dem Gepäck oben sitzen. Elphaba blickte Boq hin und wieder an und schnitt eine Grimasse, doch sie ignorierte Avaric, gegen den sie vom ersten Moment an eine Abneigung gefasst hatte.

Als er mit seinen seitenlangen Pferdelisten durch war, hänselte Avaric Boq wegen des Ausflugs. »Als ich in die Sommerferien fuhr, hätte ich ahnen müssen, dass du in Liebesbanden schmachtest. Du hast diesen ernsthaften Gesichtsausdruck bekommen, das hat mich getäuscht. Ich dachte, es wäre mindestens die Schwindsucht. Du hättest wirklich in dieser Nacht vor meiner Abreise mit mir ausgehen sollen. Ein Besuch im Philosophischen Club wäre genau das richtige Mittel gewesen.«

Die Erwähnung einer solchen Spelunke im Beisein eines weiblichen Wesens war Boq schrecklich peinlich. Aber Elphaba schien daran keinen Anstoß zu nehmen. Vielleicht kannte sie den Namen gar nicht. Er versuchte, Avaric von dem Thema wegzulotsen.

»Du kennst Damsell Galinda nicht, aber du wirst sie bezaubernd finden«, sagte er. »Das garantiere ich.« Und wahrscheinlich wird sie dich bezaubernd finden, dachte er, wenn auch ein wenig verspätet. Aber er war sogar bereit, damit zu leben, wenn das der Preis dafür war, Galinda aus einer schwierigen Situation zu helfen.

Avaric musterte Elphaba mit Verachtung. »Damsell Elphaba«, sagte er förmlich, »deutet Ihr Name darauf hin, dass es in Ihrer Familie Elfenblut gibt?«

»Was für ein origineller Gedanke«, sagte Elphaba. »Wenn ja, dann wären meine Gliedmaßen vermutlich so brüchig wie rohe Nudeln und würden beim kleinsten Druck kaputtgehen. Möchten Sie vielleicht ein wenig Gewalt anwenden?« Sie hielt ihm einen Unterarm hin, grün wie eine Zitronenbeere im Frühling. »Bitte, ich beschwöre Sie, damit wir diese Frage ein für allemal klären können. Wir werden den Schluss ziehen, dass das Weniger an Gewalt, das Sie anwenden müssen, um meinen Arm zu brechen – verglichen mit anderen Armen, die Sie gebrochen haben –, dem Anteil von Elfenblut im Verhältnis zum Menschenblut in meinen Adern entspricht.«

»Ich werde Sie ganz gewiss nicht anfassen«, sagte Avaric und brachte damit mehrere Dinge gleichzeitig zum Ausdruck.

»Die elfische Elphie ist voll des Bedauerns«, sagte Elphaba. »Wenn Sie mich zerbröselt hätten, wäre ich vielleicht in kleinen Stücken nach Shiz zurückexpediert worden, und diese stumpfsinnige Gesellschaft wäre mir erspart geblieben.«

»Ach, Elphie.« Boq seufzte. »Das ist kein guter Anfang.«

»Ich finde ihn prima«, sagte Avaric und blickte böse.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Freundschaft einem so viel abverlangt«, fauchte Elphaba Boq an.

Es ging schon gegen Abend, als sie in Nimmertal eintrafen, im Gasthaus ein Zimmer nahmen und sich zu Fuß am See zum Haus Kiefernlust begaben.

Zwei ältere Frauen saßen im Sonnenschein vor dem Säulengang und enthülsten grüne Bohnen und Stauchen. Boq erkannte eine von ihnen: Muhme Schnapp, Galindas Anstandsdame. Die andere musste die Wärterin von Damsell Schenschen oder Damsell Fanny sein. Die beiden stutzten beim Anblick der Prozession, die zur Einfahrt hereinkam, und Muhme Schnapp beugte sich vor, so dass ihr die Bohnen vom Schoß fielen. »Na, so was aber auch«, sagte sie, als sie näherkamen. »Das ist doch Damsell Elphie. Da brat mir einer ’nen Storch. So was aber auch.« Sie rappelte sich auf und schloss Elphaba in die Arme. Elphaba blieb steif wie eine Gipsfigur.

»Von der Überraschung müssen wir uns erst mal erholen«, sagte Muhme Schnapp. »Was um des lieben Himmels willen machen Sie hier, Damsell Elphaba? Ich kann es noch gar nicht glauben.«

»Ich bin von Damsell Galinda eingeladen worden«, antwortete Elphaba, »und meine Mitreisenden hier bestanden darauf, mich zu begleiten. Mir blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen.«

»Davon weiß ich ja gar nichts«, sagte Muhme Schnapp. »Damsell Elphaba, lassen Sie mich diese schwere Tasche nehmen und Ihnen etwas Sauberes zum Anziehen heraussuchen. Sie müssen doch von der Reise erhitzt sein. Die Herren werden im Dorf wohnen, versteht sich. Die Mädchen sind im Sommerhaus am Seeufer.«

Die Reisenden folgten einem Pfad mit steinernen Stufen an den steileren Stellen. Grommetik brauchte an den Stufen länger und blieb zurück, und niemand verspürte die Neigung, zu warten und einer Figur mit solch harter Haut und Uhrwerksgedanken zu helfen. Als sie die letzten Sandstocksträucher passierten, stießen sie auf den Pavillon.

Das Haus war ein nach allen sechs Seiten offenes Gerüst aus rohen Baumstämmen mit einem Gitterwerk malerisch verschlungener Zweige dazwischen und dem Kluchtsee als weitem blauen Hintergrund. Die Mädchen saßen auf Stufen und Korbstühlen, und Muhme Klimmt war in eine Handarbeit mit drei Nadeln und vielen bunten Fäden vertieft.

»Damsell Galinda!«, platzte Boq heraus, der unbedingt als Erster die Stimme erheben musste.

Die Mädchen schauten auf. In luftigen Sommerkleidern, ohne Reifröcke und Turnüren, sahen sie aus wie Vögel, die im Begriff waren aufzufliegen.

»Du großer Schreck!«, staunte Galinda offenen Mundes. »Was machen Sie denn hier?«

»Ich bin nicht gesellschaftsfähig!«, kreischte Schenschen, was die Blicke auf ihre unbeschuhten Füße und ihre unverhüllten bleichen Fesseln lenkte.

Fanny biss sich auf die Lippe und versuchte, ihr Feixen zu einem Begrüßungslächeln zu verziehen.

»Ich werde nicht lange bleiben«, sagte Elphaba. »Dies, meine Damen, ist übrigens Junker Avaric, der zukünftige Markgraf von Zehnwiesen in Gillikin. Und dies ist Junker Boq aus Munchkinland. Sie studieren beide am Brischko-Kolleg. Junker Avaric, wie Sie dem liebeskranken Ausdruck auf Boqs Gesicht entnehmen können, ist dies Damsell Galinda von Arduenna nebst Damsell Schenschen und Damsell Fanny, die Ihnen ihre Abkunft selber genauestens darlegen können.«

»Ja, wie entzückend – und wie keck«, sagte Damsell Schenschen. »Damsell Elphaba die Grußlose, mit dieser netten Überraschung haben Sie Ihre sonstige abweisende Haltung für immer und ewig wettgemacht. Herzlich willkommen, meine Herren.«

»Aber«, stammelte Galinda, »aber warum sind Sie hier? Was ist passiert?«

»Ich bin hier, weil ich dummerweise Junker Boq gegenüber Ihre Einladung erwähnte, und der sah es als ein Zeichen des Namenlosen Gottes an, dass wir Sie besuchen sollten.«

Jetzt endlich konnte Damsell Fanny sich nicht mehr beherrschen. Sie ließ sich nach hinten auf den Boden des Pavillons fallen und wand sich vor Lachen. »Was ist?«, fragte Schenschen. »Was?«

»Von was für einer Einladung reden Sie?«, fragte Galinda.

»Die muss ich Ihnen wohl kaum zeigen«, sagte Elphaba. Zum ersten Mal, seit Boq sie kannte, sah sie verwirrt aus. »Ich muss doch gewiss nicht beweisen –«

»Ich glaube, das ist ein Streich, um mich zu kränken«, sagte Galinda und funkelte die prustende Fanny böse an. »Ich werde zum Spaß gedemütigt. Das ist nicht lustig, Damsell Fanny! Ich hätte fast Lust, Sie zu … zu treten!«

Just in dem Moment hatte Grommetik es doch noch geschafft und kam um das Sandstockgesträuch herum. Bei dem Anblick des ungeschickten Monstrums, das auf der Kante einer Steinstufe kippelte, konnte sich auch Schenschen nicht mehr halten und bog sich, an einen Pfeiler gelehnt, vor Lachen. Selbst Muhme Klimmt musste still grinsen, während sie ihre Handarbeitssachen wegräumte.

»Was wird hier eigentlich gespielt?«, sagte Elphaba.

»Sind Sie nur auf der Welt, um mich zu quälen?«, hielt Galinda ihrer Stubenkameradin unter Tränen vor. »Habe ich etwa um Ihre Gesellschaft gebeten?«

»Nicht«, sagte Boq. »Bitte, Damsell Galinda, kein Wort mehr! Sie sind außer sich.«

»Ich – habe – den Brief – geschrieben«, ächzte Fanny zwischen ihren Lachanfällen. Avaric begann zu glucksen, und Elphabas Augen wurden weit und ein wenig starr.

»Das heißt, Sie haben mich nicht eingeladen, Sie hier zu besuchen?«, fragte sie Galinda.

»Liebe Güte, nein, ganz gewiss nicht«, sagte Galinda. Trotz ihres Zorns gewann sie schon wieder eine gewisse Fassung, obwohl der angerichtete Schaden, vermutete Boq, nicht wiedergutzumachen war. »Meine liebe Damsell Elphaba, ich würde nicht im Traum daran denken, Sie solchen herzlosen Grausamkeiten auszusetzen, wie diese Mädchen sie rein zum Vergnügen aneinander und an mir verüben. Außerdem ist bei einem solchen Arrangement kein Platz für Sie.«

»Aber ich bin eingeladen worden«, sagte Elphaba. »Damsell Fanny, Sie haben diesen Brief geschrieben, nicht Damsell Galinda?«

»Sie haben es für bare Münze genommen«, kicherte Fanny.

»Na schön, Sie sind hier zu Hause, und ich nehme Ihre Einladung an, auch wenn sie unter falschem Namen geschrieben wurde.« Elphaba sprach mit größtmöglicher Ruhe und sah dabei Fanny in die schmaler gewordenen Augen. »Ich gehe jetzt ins Haus und packe meine Sachen aus.«

Sie schritt davon. Nur Grommetik folgte. Unausgesprochene Vorwürfe lagen in der Luft. Nach und nach legte sich Fannys Hysterie, und leichtgeschürzt und ungekämmt auf dem Plattenboden des Pavillons liegend, schnaubte sie nur noch gelegentlich und verstummte schließlich ganz.

»Ihr müsst mich nicht alle mit euren strafenden Blicken durchbohren«, sagte sie schließlich. »Es war ein Jux.«

Elphaba blieb einen Tag lang auf ihrem Zimmer. Galinda erschien zum Essen und ging gleich wieder. Manchmal blieb sie ein paar Minuten. Also vertrieben sich die Jungen die Zeit damit, zu schwimmen und mit den Mädchen auf den See hinauszurudern. Boq versuchte, in sich ein Interesse an Schenschen oder Fanny zu entfachen, die gewiss genug kokettierten. Doch sie schienen beide von Avaric hingerissen zu sein.

Endlich fing er Galinda auf der Veranda ab und bat sie inständig, mit ihm zu reden. Sie willigte ein, und sie setzten sich zusammen auf eine Schaukel – mit einem Sicherheitsabstand, wie ihre wiederkehrende Sittsamkeit es verlangte. »Ich muss mir wohl vorwerfen lassen, dass ich dieses Spiel nicht durchschaut habe«, sagte Boq. »Elphie wollte die Einladung eigentlich gar nicht annehmen. Ich habe sie dazu genötigt.«

»Wieso eigentlich Elphie?«, sagte Galinda. »Wo ist der Anstand geblieben in diesem Sommer, frage ich Sie?«

»Wir sind Freunde geworden.«

»Das habe ich mitbekommen, Sie werden es nicht glauben. Warum haben Sie sie genötigt, die Einladung anzunehmen? Wussten Sie nicht, dass ich so etwas niemals schreiben würde?«

»Woher hätte ich das wissen sollen? Sie sind Stubenkameradinnen.«

»Auf ausdrückliche Anordnung von Madame Akaber, nicht auf eigenen Wunsch!«

»Das wusste ich nicht. Ich dachte, ihr kommt gut miteinander aus.«

Sie rümpfte die Nase und schob die Unterlippe vor, doch verkniff sich jeden weiteren Kommentar.

Boq fuhr fort: »Wenn Sie so schmählich gedemütigt wurden, warum gehen Sie dann nicht?«

»Das werde ich vielleicht«, sagte sie. »Ich denke darüber nach. Elphaba sagt, wer geht, gibt sich geschlagen. Doch wenn sie aus ihrem Versteck hervorkommt und mit euch anderen – und mir – herumzieht, wird der Scherz unerträglich werden. Die beiden können sie nicht leiden«, fügte sie erklärend hinzu.

»Das können Sie doch genauso wenig!«, sagte Boq in heftigem Flüsterton.

»Das ist etwas anderes, ich habe alle Ursache dazu«, gab sie zurück. »Ich bin gezwungen, es mit ihr auszuhalten! Und das alles nur, weil meine dumme Muhme auf dem Bahnhof von Frottika in einen rostigen Nagel getreten ist und bei der Einführung nicht anwesend war! Meine ganze akademische Laufbahn nur wegen der Achtlosigkeit meiner Muhme verpfuscht! Wenn ich erst einmal Zauberin bin, werde ich ihr das heimzahlen!«

»Man könnte sagen, dass Elphaba uns zusammengebracht hat«, sagte Boq leise. »Dadurch, dass ich ihr nähergekommen bin, bin ich auch Ihnen nähergekommen.«

Galinda kapitulierte. Sie ließ den Kopf auf das Samtkissen der Schaukel sinken und sagte: »Boq, so ungern ich es sage, Sie sind ein klein wenig süß. Sie sind ein klein wenig süß, und Sie sind ein klein wenig charmant, und Sie sind ein klein wenig nervig, und Sie werden ein klein wenig zur Gewohnheit.«

Boq hielt den Atem an.

»Aber Sie sind klein!«, schloss sie. »Sie sind ein Munchkin, herrje!«

Er küsste sie, er küsste sie, er küsste sie, jedes Mal ein klein wenig mehr.

Am nächsten Tag brachten Elphaba, Galinda, Boq und Grommetik – und natürlich Muhme Schnapp – die sechsstündige Rückfahrt nach Shiz hinter sich, ohne mehr als ein Dutzend Bemerkungen zu wechseln. Avaric blieb da, um sich mit Fanny und Schenschen zu vergnügen. Der lästige Regen setzte am Rande von Shiz ein, und die ehrwürdigen Fassaden des Grattler- und des Brischko-Kollegs waren vor lauter Dunst kaum zu erkennen, als sie endlich zu Hause eintrafen.

6

Boq hatte weder Zeit noch Lust, von seinem Liebesabenteuer zu erzählen, als er Krapp und Timmel wiedersah. Nachdem der nashörnige Bibliothekar den Jungen und dem Fortgang ihrer Arbeit den ganzen Sommer über wenig Beachtung geschenkt hatte, war ihm plötzlich aufgefallen, wie wenig getan worden war, und jetzt waren sie ständig seinen wachsamen Blicken und seinem missbilligenden Schnauben ausgesetzt. Die Jungen reinigten Pergamentseiten mit Pinsel und Läppchen, rieben Schwimmfußöl auf lederne Einbände und polierten Messingschließen und kamen über alledem kaum dazu, miteinander zu schwatzen. Nur noch wenige Tage, dann war der Stumpfsinn ausgestanden.

Eines Nachmittags ließ Boq den Blick über den Kodex schweifen, mit dem er gerade beschäftigt war. Meistens achtete er bei der Arbeit nicht auf den Inhalt der Werke, aber die in der Illumination verwendete knallrote Farbe zog seine Aufmerksamkeit an. Es war das Bild – vier-, fünfhundert Jahre alt? – einer kumbrischen Hexe. Der visionäre Eifer oder das besorgte Interesse an Magie hatte einem Mönch den Pinsel geführt. Die Hexe stand auf einem Isthmus, der zwei felsige Landmassen verband, und zu beiden Seiten erstreckte sich himmelblaues Meer mit schaumgekrönten Wellen von erstaunlicher Plastizität und Genauigkeit. Die Hexe hielt auf dem Arm ein tierisches Wesen von unbestimmbarer Art, das allem Anschein nach ertrunken war oder jedenfalls beinahe. Ein Arm von unnatürlicher Biegsamkeit umschlang liebevoll den nassen, zotteligen Rücken des Wesens. Mit der anderen Hand holte sie eine Brust aus ihrem Kleid, um das Wesen daran trinken zu lassen. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu deuten – vielleicht hatte die Hand des Mönchs ihn verschmiert oder Alter und Schmutz ihm den verschwommenen Charakter des Mitgefühls verliehen? Sie wirkte fast wie eine Mutter mit einem leidenden Kind. Ihr Blick war nach innen gekehrt oder traurig. Doch ihre Füße passten nicht zum Gesichtsausdruck, denn sie krallten sich mit Greifzehen an der Landenge fest, gut erkennbar trotz der silbernen Schuhe, deren münzenartiger Glanz Boq gleich ins Auge gefallen war. Außerdem standen die Füße im rechten Winkel zu den Schienbeinen, spiegelbildlich Ferse an Ferse und Zehen nach außen weisend wie in einer Ballettposition. Das Kleid war in einem schleierigen Dämmerblau. Nach den kräftigen Farbtönen vermutete er, dass das Werk seit Jahrhunderten nicht mehr aufgeschlagen worden war.

Das Bild erschien ihm wie eine kalkulierte dramatische Vermischung der Mythen von der Erschaffung der Tiere. Die Wasser der Sintflut waren da, ob sie nun den Sagen um Lurlina oder den Namenlosen Gott entstammten, ob sie nun stiegen oder sanken. War die kumbrische Hexe dabei, das den Wesen bestimmte Schicksal zu vereiteln oder zu vollenden? Obwohl Boq die schnörkelige archaische Handschrift nicht entziffern konnte, bestätigte dieses Dokument vielleicht die Sage von einem kumbrischen Hexenzauber, der den Tieren Sprache, Erinnerung und Barmherzigkeit verliehen hatte. Aber vielleicht bestritt es sie auch in glühenden Farben. Wie man es auch betrachtete, der Synkretismus des Mythos sprach daraus, seine hemmungslose Aneignungslust. Drückte dieses Bild womöglich die Befürchtung eines beunruhigten Mönchs aus, dass die Tiere ihre Fähigkeiten durch eine Taufe ganz anderer Art erhalten hatten, durch das Trinken an der Brust der kumbrischen Hexe? Dass sie durch die Milch der Hexe erweckt worden waren?

Solche Analysen waren nicht Boqs Stärke. Er tat sich schon schwer genug mit den Nährstoffen und den Hauptschädlingen der Gerste. Er sollte das Undenkbare tun und diese Schriftrolle Doktor Dillamond vorlegen. Sie war es wert, erforscht zu werden.

Oder konnte es nicht auch sein, dachte er, als er die Rolle in der tiefen Tasche seines Capes unbeschadet aus der Drei-Königinnen-Bibliothek geschmuggelt hatte und jetzt überlegte, wie er es anstellte, sich schleunigst mit Elphaba zu treffen, konnte es nicht sein, dass die Hexe das klatschnasse Tier gar nicht stillte, sondern es tötete? Dass sie es den Fluten opferte?

Kunst war ihm einfach zu hoch.

Auf dem Basar war er auf Muhme Schnapp gestoßen und hatte sie gebeten, Elphaba einen Zettel zu überbringen. Die gute Frau war ihm freundlicher als gewöhnlich vorgekommen – ob Galinda in ihren privaten vier Wänden sein Lob sang?

Es war das erste Treffen mit der seltsamen grünen Springbohne seit ihrer Rückkehr nach Shiz. Und tatsächlich erschien sie pünktlich zum erbetenen Zeitpunkt im Café, gehüllt in ein lappiges graues Kleid und einen an den Ärmeln ausfransenden Strickpullover, einen großen schwarzen Männerschirm unterm Arm, der eingerollt einer Lanze glich. Elphaba ließ sich auf den Stuhl plumpsen und begutachtete die Schriftrolle. Sie betrachtete sie genauer, als sie sich überwinden konnte, Boq zu betrachten. Aber sie hörte sich seine Auslegungsideen an und fand sie dürftig. »Wieso soll das nicht die Feenkönigin Lurlina sein?«, fragte sie.

»Weil die glamouröse Staffage fehlt. Die goldene Aureole der Haare. Die Eleganz. Die durchsichtigen Flügel. Der Zauberstab.«

»Diese silbernen Schuhe sind ziemlich schrill.« Sie knabberte an einem trockenen Keks.

»Es sieht nicht aus wie die Darstellung einer zielgerichteten Handlung oder meinetwegen der Schöpfung. Es sieht weniger aktiv als reaktiv aus. Diese Gestalt ist zumindest verwirrt, meinst du nicht?«

»Du hast dich zu lange mit Krapp und Timmel herumgetrieben, kehr lieber zu deiner Gerste zurück«, sagte sie, während sie die Rolle einsteckte. »Du wirst vage und affektiert. Aber ich werde sie Doktor Dillamond geben. Ich sage dir, er erzielt einen Durchbruch nach dem anderen. Diese Geschichte mit den gegenüberstehenden Linsen hat eine ganze neue Welt der Teilchenzusammenhänge eröffnet. Er hat mich einmal schauen lassen, aber ich konnte nicht viel erkennen außer Spannung und Bewegung, Farbe und Puls. Er ist sehr aufgeregt. Meines Erachtens besteht das Problem jetzt darin, ihn zum Aufhören zu bewegen – ich glaube, er steht kurz davor, einen völlig neuen Forschungszweig zu begründen, und jeden Tag werfen die Ergebnisse hundert weitere Fragen auf. Klinische, theoretische, hypothetische, empirische, sogar ontologische, vermute ich. Er arbeitet bis tief in die Nacht im Labor. Wenn wir abends die Vorhänge zuziehen, brennen bei ihm immer noch die Lichter.«

»Braucht er vielleicht noch irgendetwas von uns? Ich bin nur noch zwei Tage dort in der Bibliothek, dann fängt das Semester an.«

»Ich bringe ihn einfach nicht dazu, irgendwie auf den Punkt zu kommen. Ich glaube, er wirft einfach alles, was er findet, auf einen Haufen.«

»Und Galinda«, fragte er, »wenn wir fürs Erste mit der Bibliotheksspionage fertig sind? Wie geht es ihr? Fragt sie nach mir?«

Elphaba gestattete sich einen Blick auf Boq. »Nein. Galinda erwähnt dich mit keinem Wort. Um dir eine Hoffnung zu geben, die du nicht verdienst, sollte ich hinzufügen, dass sie in letzter Zeit kaum mit mir geredet hat. Sie schmollt heftig.«

»Wann werde ich sie wiedersehen?«

»Bedeutet dir das so viel?« Sie lächelte matt. »Boq, bedeutet sie dir wirklich so viel?«

»Sie ist meine Welt«, antwortete er.

»Deine Welt ist zu klein, wenn sie nur aus ihr besteht.«

»Die Größe einer Welt kann man nicht kritisieren. Ich kann nichts dagegen machen, und ich kann nicht damit aufhören, und ich kann es nicht leugnen.«

»Ich finde, du machst dich lächerlich.« Sie leerte die letzten Tropfen lauwarmen Tee. »Ich vermute, eines Tages wirst du auf diesen Sommer zurückblicken und dich vor Scham winden. Sie mag ja schön sein, Boq – nein, sie ist schön, ich gebe es zu –, aber du bist ein Dutzend von ihrer Sorte wert.« Als sie seine entsetzte Miene sah, warf sie die Hände in die Luft. »Nicht für mich! Ich meine doch nicht mich! O nein, dieser Leidensblick! Verschone mich!«

Aber er war sich nicht sicher, ob er ihr glauben sollte. Sie raffte hastig ihre Sachen zusammen und fegte hinaus, wobei der Spucknapf scheppernd umfiel und ihr großer Schirm die Zeitung eines anderen Gastes zerfetzte. Sie schaute weder links noch rechts, als sie über den Eisenbahnplatz stürmte, und wäre um ein Haar von einem alten Ochsen auf einem schwerfälligen Dreirad umgefahren worden.

7

Als Boq Elphaba und Galinda das nächste Mal sah, vergingen ihm alle romantischen Gedanken. Es war in dem kleinen dreieckigen Park vor den Toren des Grattler-Kollegs. Er war wieder einmal zufällig vorbeigekommen, diesmal von Avaric begleitet. Die Tore hatten sich geöffnet, und kreideweiß im Gesicht und mit triefender Nase war Muhme Schmund herausgestürzt, gefolgt von einem Schwarm völlig aufgelöster Mädchen. Elphaba, Galinda, Schenschen, Fanny und Milla waren darunter. Außerhalb der schützenden Mauern drängten sich die Mädchen in wild durcheinanderredenden Grüppchen zusammen, standen bestürzt unter den Bäumen oder nahmen sich in den Arm und heulten und wischten einander die Tränen ab.

Boq und Avaric eilten zu ihren Freundinnen. Elphaba hatte die Schultern hochgezogen wie eine knochige buckelnde Katze, und ihre Augen waren als einzige trocken. Sie hielt eine Armeslänge Abstand von Galinda und den anderen. Boq hätte Galinda am liebsten in den Arm genommen, aber sie sah ihn nur einmal an und vergrub dann das Gesicht in Millas Teckpelzkragen.

»Was ist los? Was ist passiert?«, fragte Avaric. »Damsell Schenschen, Damsell Fanny?«

»Es ist so furchtbar!«, riefen die beiden, und Galinda nickte, und dabei lief ihr die Nase und besudelte die Schulter von Millas Bluse. »Die Polizei ist da, und ein Arzt, aber wie es aussieht –«

»Was denn?«, drängte Boq. Er wandte sich an Elphaba. »Elphie, sag, was ist geschehen?«

»Sie sind dahintergekommen«, sagte sie. Ihre Augen glänzten wie altes Shizer Porzellan. »Irgendwie sind die Schweine dahintergekommen.«

Knarrend ging das Tor wieder auf, und beregnet von blauen und dunkelroten Blättern frühherbstlicher Kletterpflanzenblüten, die über die Mauer geflattert kamen, wie Schmetterlinge in der Luft tanzten und dann langsam zu Boden sanken, trugen drei Polizisten und ein Arzt mit dunkler Mütze eine Bahre heraus. Der Patient lag unter einer roten Decke, doch der Wind, der die Blütenblätter aufwirbelte, fuhr unter eine Ecke und klappte die Decke zurück. Die Mädchen kreischten alle auf, und Muhme Schmund stürzte vor und schlug die Decke wieder um, doch da hatten schon alle die verdrehten Schultern und den nach hinten gekippten Kopf von Doktor Dillamond gesehen. Striemen geronnenen Blutes verkrusteten seine säuberlich aufgeschlitzte Kehle.

Erschüttert und fassungslos setzte Boq sich hin und hoffte, dass er keinen Toten gesehen hatte, nur einen, der grässlich verwundet, aber noch zu retten war. Doch die Polizisten und der Arzt hatten keine Eile, es gab keinen Grund zur Eile mehr. Boq sackte mit dem Rücken an die Mauer, und Avaric, der den Geissbock nie zuvor gesehen hatte, drückte mit einer Hand Boqs beide Hände und hielt sich die andere vors Gesicht.

Bald darauf ließen sich Galinda und Elphaba neben ihm nieder, und es wurde ausgiebig geweint, ehe jemand etwas sagen konnte. Schließlich erzählte Galinda, was passiert war.

»Gestern Abend sind wir zu Bett gegangen, und Muhme Schnapp wollte die Vorhänge zuziehen, wie sie es immer macht. Da schaut sie hinaus und sagt wie zu sich selbst: ›Aha, das Licht brennt, Doktor Geissbock arbeitet wohl noch.‹ Dann guckt sie genauer hin und späht über den Hof und sagt: ›Hm, das ist aber komisch.‹ Und ich achte gar nicht darauf, sondern glotze nur vor mich hin, aber Elphaba sagt: ›Was ist komisch, Muhme Schnapp?‹ Und Muhme Schnapp zieht einfach den Vorhang ganz fest zu und sagt in so einem merkwürdigen Ton: ›Ach, nichts, meine Engelchen. Ich gehe nur mal kurz nachschauen und mich vergewissern, dass alles in Ordnung ist. Geht ihr nur zu Bett.‹ Sie sagt gute Nacht und verschwindet, und ich weiß nicht, ob sie in den Hof hinuntergeht oder was, jedenfalls schlafen wir beide ein, und am Morgen kommt sie nicht mit dem Tee. Sie kommt immer mit dem Tee! Immer!«

Galinda überließ sich den Tränen und sank zu Boden, dann hockte sie sich auf die Knie und versuchte, ihr schwarzes Seidenkleid mit den weißen Epauletten und den weißen Klöppelspitzen zu zerreißen. Elphaba, trockenen Auges wie ein Wüstenstein, fuhr fort.

»Wir haben bis nach dem Frühstück gewartet, aber dann sind wir zu Madame Akaber gegangen«, berichtete sie, »und haben ihr erzählt, wir wüssten nicht, wo Muhme Schnapp ist. Und Madame Akaber sagte, Muhme Schnapp hätte in der Nacht einen Rückfall gehabt und liege auf der Krankenstation. Erst wollte sie uns nicht zu ihr lassen, aber als Doktor Dillamond zu unserer ersten Vorlesung nicht auftauchte, sind wir hingegangen und haben uns einfach Einlass verschafft. Muhme Schnapp lag in einem Krankenhausbett. Ihr Gesicht sah so merkwürdig aus. Wir haben sie angesprochen: ›Muhme Schnapp, Muhme Schnapp, was ist geschehen?‹ Sie hat nichts gesagt, obwohl ihre Augen offen waren. Sie schien uns gar nicht zu hören. Wir dachten, vielleicht schläft sie oder ist im Schock, doch ihr Atem ging regelmäßig und ihre Hautfarbe war gut, obwohl ihr Gesicht verzerrt war. Als wir gerade gehen wollten, hat sie sich umgedreht und zum Nachttisch geguckt.

Neben einer Arzneiflasche und einer Tasse mit Zitronenwasser lag ein langer rostiger Nagel auf einem Silbertablett. Sie streckte zitternd eine Hand nach dem Nagel aus, nahm ihn und hielt ihn zärtlich in der Hand, und dann redete sie mit ihm. Sie sagte so etwas wie: ›Ja, sicher, ich weiß, dass du mir letztes Jahr nicht in den Fuß stechen wolltest. Du wolltest nur meine Aufmerksamkeit haben. Genau damit fängt das unartige Benehmen an, dass man ein kleines bisschen Sonderzuwendung haben will. Aber mach dir keine Sorgen, Nagel, denn ich liebe dich genauso sehr, wie du es nötig hast. Und nachher, wenn ich mein Nickerchen gemacht habe, kannst du mir erzählen, wie es kam, dass du im Bahnsteig von Frottika so eine tragende Funktion innehattest, denn das ist doch ein ziemlicher Aufstieg von deinen frühen Jahren als gewöhnlicher Halter eines Schildes ÜBER WINTER GESCHLOSSEN an diesem schäbigen Hotel, von dem du gesprochen hast.‹«

Aber Boq hatte für solchen Quatsch kein Ohr. Er hatte keinen Sinn für die Geschichte von einem lebendigen Nagel, während dort auf der Bahre ein toter Geissbock lag, umringt von aufgeregt betenden Mitgliedern des Lehrkörpers. Boq konnte das Plappern der Gebete um den Frieden seiner Seele nicht mit anhören. Er konnte den Abtransport der Leiche nicht mit ansehen. Denn ein kurzer Blick auf das unbewegte Gesicht des Geissbocks hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass die Kraft, die dem Doktor seine mitreißende Art verliehen hatte, schon entwichen war.