1
»Sarima«, sagte ihre jüngste Schwester, »wach auf! Die Mittagsruhe ist vorbei. Wir haben einen Gast zum Abendessen, und ich muss wissen, ob wir ein Huhn schlachten sollen. Es sind nicht mehr viele übrig, und eins weniger bedeutet auch, dass wir im Winter weniger Eier haben. Was meinst du?«
Die Fürstinwitwe der Arjikis stöhnte. »Kleinkram, Kleinkram«, sagte sie. »Kann ich dich denn gar nicht dazu erziehen, einmal selbst etwas zu entscheiden?«
»Na schön«, versetzte die Schwester bissig, »ich werde entscheiden, und dann kannst du auf dein Frühstücksei verzichten, wenn wir eins zu wenig haben.«
»Ach, Sechs, sei mir nicht böse«, sagte Sarima, »ich bin noch gar nicht richtig wach. Wer ist es? Irgendein Patriarch mit scheußlichem Mundgeruch, der uns mit seinen Jagdgeschichten von vor fünfzig Jahren langweilen will? Warum lassen wir uns das gefallen?«
»Es ist eine Frau – wenn man so sagen kann«, antwortete Sechs.
»Der Nachsatz war überflüssig«, sagte Sarima und setzte sich auf. »Wir sind auch alle nicht mehr die holden Nymphen von einst, Sechs.« Sie sah ihr Bild im Spiegel des Schranks an der Wand gegenüber: bleich wie Milchpudding, das immer noch hübsche Gesicht eingebettet in Fettwülste, die nach den Schwerkraftgesetzen sackten. »Nur weil du die Jüngste bist, Sechs, und deine Taille noch finden kannst, musst du noch lange nicht unfreundlich sein.«
Sechs zog einen Flunsch. »Na, dann eben einfach eine Frau. Und: Huhn oder nicht? Sag’s mir jetzt gleich, damit Vier ihm den Kopf abschlagen und mit Rupfen anfangen kann, sonst bekommen wir vor Mitternacht nichts zu essen.«
»Es wird Obst und Käse und Brot und Fisch geben. Es sind doch noch Fische im Brunnen, oder?«
Mit einem bejahenden Nicken wandte Sechs sich zum Gehen, da fiel ihr noch ein zu bemerken: »Ich habe dir ein Glas süßen Tee gebracht, es steht da auf der Kommode.«
»Vielen Dank. Jetzt sage mir, und wenn möglich ohne Sarkasmus, wie unser Besuch wirklich aussieht.«
»Grün wie die Sünde, dünn und gebeugt, älter als du. Schwarz gekleidet wie eine alte Nonne – aber so alt auch wieder nicht. Ich würde schätzen ungefähr, na, dreißig, zweiunddreißig? Sie will ihren Namen nicht sagen.«
»Grün? Gottvoll«, sagte Sarima.
»Gottvoll ist nicht gerade das Wort, das einem in den Sinn kommt.«
»Du meinst nicht grün vor Eifersucht, du meinst richtig grün?«
»Vielleicht ist es ja aus Eifersucht, das kann ich nicht sagen, aber sie ist eindeutig grün. Richtig grasgrün.«
»Soso. Na, dann gehe ich heute Abend in Weiß, damit wir uns farblich nicht beißen. Ist sie allein?«
»Sie ist mit der Karawane gekommen, die wir gestern unten im Tal gesichtet haben. Sie ist mit einer kleinen Schar hiergeblieben: einem Wolfshund, einem Stock Bienen, einem Jungen, ein paar Krähen und einem kleinen Affen.«
»Was will sie denn mit denen hier in den Bergen im Winter?«
»Frag sie selbst.« Sechs rümpfte die Nase. »Sie ekelt mich an.«
»Dich ekelt ja schon halbfeste Gelatine an. Wann gibt es heute Abendessen?«
»Um halb acht. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich sie sehe.«
Sechs ging mit dem Gefühl, ihrem Abscheu zur Genüge Ausdruck verliehen zu haben, und Sarima nahm ihren Tee im Bett, bis sich ihre Blase meldete. Sechs hatte neues Holz auf das Feuer gelegt und die Vorhänge zugezogen, doch Sarima zog sie wieder auf, um in den Hof zu schauen. Kiamo Ko strotzte an allen Ecken und Kanten von wuchtigen vorspringenden Rundtürmen, die direkt aus dem Fels des Berges in die Höhe stießen. Nachdem die Arjikis das Gebäude der Wasserwerkskommission entrungen hatten, hatten sie die Mauern zur Verteidigung mit Zinnen versehen. Trotz der Umbauten war der Grundriss des Gebäudes immer noch einfach: ein großes Haupthaus, von dem ungefähr in der Form eines U zwei lange, schmale Flügel abgingen und einen abschüssigen Hof einfassten. Wenn es regnete, schoss das Wasser über das Kopfsteinpflaster und strömte unter den prächtigen, mit Jaspis eingelegten Eichentoren hindurch, vorbei an dem armseligen Dörfchen, dessen Häuser sich an die Außenmauern der Burg schmiegten. Im Augenblick war der Hof holzkohlengrau, und der kalte Wind trieb Heu und totes Laub darüber hin. In der alten Schusterwerkstatt brannte Licht, und Rauch wirbelte aus dem Schornstein, der dringend neu verfugt werden musste – wie alles an diesem verfallenden Gemäuer. Sarima war froh, dass der Besuch nicht in das Hauptgebäude gebracht worden war. Als Fürstinwitwe der Arjikis genoss sie das Privileg, Reisende in den Privatgemächern von Kiamo Ko willkommen zu heißen.
Nach dem Baden zog sie ein weißes Kleid mit weißen Paspeln an und legte den schönen Halsreif um, der wie eine Botschaft aus dem Anderen Land von ihrem lieben verschiedenen Gatten mehrere Monate nach dem bedauerlichen Unfall eingetroffen war. Aus Gewohnheit vergoss Sarima ein paar Tränen, während sie sich in diesem Kragen mit seinen flachen, juwelenbesetzten Gliedern bewunderte. Wenn er für diese Streunerin zu fein war, konnte Sarima ihn immer noch mit einer Serviette verdecken. Aber sie würde wissen, dass er da war. Noch ehe die Tränen getrocknet waren, summte sie schon wieder vor sich hin, gespannt auf den seltenen Besuch.
Sie sah kurz nach den Kindern, bevor sie hinunterging. Sie waren aufgedreht, wie immer, wenn Fremde kamen. Irji und Manek, zwölf und elf, waren beinahe alt genug, um aus diesem Schlag giftiger Tauben ausbrechen zu wollen. Irji war weich und weinte viel, aber Manek war von jeher ein kleiner Racker gewesen. Wenn sie die beiden im Sommer mit dem Stamm in das Grasland ziehen ließe, müsste sie damit rechnen, dass ihnen die Kehlen aufgeschlitzt wurden – es gab zu viele Stammesgenossen, die für sich oder ihre Söhne die Führerschaft beanspruchten. Darum behielt Sarima die Jungen lieber in ihrer Nähe.
Ihre Tochter Nor, langbeinig und eine Daumenlutscherin, obwohl sie schon neun war, musste sich vor dem Einschlafen noch einmal in den Schoß kuscheln. Da sie sich zum Essen feingemacht hatte, wollte Sarima das erst verbieten, aber ließ es dann doch zu. Nor lispelte leicht. Sie freundete sich mit Steinen und Kerzen an und mit Grashalmen, die erstaunlicherweise in den Ritzen der Fensterlaibung wuchsen. Sie seufzte und rieb das Gesicht am Halsreif und sagte: »Ein Junge ist auch dabei, Mama. Wir haben mit ihm im Hof gespielt.«
»Wie ist er? Ist er auch grün?«
»Nö. Er ist normal. Er ist dick und kräftig und gutmütig, und Manek hat ihn mit Steinen beworfen, um zu sehen, wie weit sie von ihm abprallen. Das hat er sich gefallen lassen. Vielleicht tut’s ja nicht weh, wenn man so dick ist.«
»Das bezweifle ich. Wie heißt er?«
»Liir. Ist das nicht ein komischer Name?«
»Klingt ausländisch. Und seine Mutter?«
»Ich weiß nicht, wie sie heißt, und ich glaube nicht, dass sie seine Mutter ist. Er wollte es nicht sagen, als wir gefragt haben. Irji hat gesagt, er muss ein Bastard sein. Liir hat gesagt, das ist ihm egal. Er ist nett.« Sie schob sich den rechten Daumen in den Mund, und mit der Linken tastete sie über den Stoff von Sarimas Kleid unter dem Halsreif, bis sie eine Brustwarze gefunden hatte. Liebevoll strich sie mit dem Daumen darüber wie über ein kleines Schmusetier. »Manek hat ihn gezwungen, die Hose runterzulassen, damit wir uns überzeugen konnten, dass sein Ding nicht grün ist.«
Sarima missbilligte das, und sei es nur aus Gründen der Gastfreundschaft, aber musste doch fragen: »Und was habt ihr gesehen?«
»Ach, das Übliche.« Nor schmiegte den Kopf an den Hals ihrer Mutter und musste dann von dem Puder niesen, den Sarima nahm, damit ihre Kinnlappen sich nicht wundscheuerten. »So ein doofes Jungending. Kleiner als bei Manek und Irji. Aber nicht grün. Ich fand es so doof, dass ich nicht lange geguckt habe.«
»Das hätte ich auch nicht. Das war sehr rüpelhaft.«
»Ich war’s nicht. Manek war’s!«
»Na gut, Schluss damit. Jetzt noch ein Märchen vor dem Einschlafen. Ich muss bald nach unten, also ein kurzes. Welches willst du hören, mein Kleines?«
»Das Märchen von der Hexe und den Fuchskindern.«
Nicht ganz so dramatisch wie sonst spulte Sarima das Märchen ab, das davon handelte, wie die drei Fuchskinder entführt und eingesperrt und für eine Fuchskasserolle mit Käse überbacken gemästet wurden und wie dann die Hexe von der Sonne Feuer holen ging, um sie zu schmoren. Doch als die Hexe erschöpft mit der Flamme in ihre Höhle zurückkam, überlisteten die Füchslein sie, indem sie ihr ein Schlaflied sangen. Als die Hexe einnickte und ihr der Arm niedersank, verbrannte die Flamme von der Sonne die Tür des Käfigs, und die Füchslein liefen davon. Dann holten sie mit lautem Geheule die alte Mutter Mond herab, und die stellte sich als unverrückbare Tür in den Eingang der Höhle. Zuletzt kamen die üblichen Schlussformeln. »Und dort musste die böse alte Hexe lange, lange bleiben«, beendete Sarima die Geschichte.
»Und ist sie je wieder rausgekommen?«, fragte Nor wie gewohnt fast im Trancezustand.
»Bis jetzt nicht«, sagte Sarima, und sie küsste und biss ihre Tochter am Handgelenk. Beide kicherten, dann wurde das Licht gelöscht.
Die Treppe von ihren Privatgemächern führte ohne Geländer an der Wand entlang bis ins Burgverlies hinunter. In ihrem wallenden weißen Gewand nahm Sarima hoheitsvoll die erste Treppe, um den Hals den juwelenbesetzten Reif mit seinen sanften Farben, das Gesicht sorgfältig auf Willkommen vorbereitet.
Auf dem Treppenabsatz erblickte sie die Reisende. Sie saß in einer Nische auf einer Bank und sah zu ihr auf.
Beim Gang die zweite Treppe hinunter in den gefliesten Saal war ihr deutlich der Zynismus bewusst, der unter ihrem treuen Gedenken Fiyeros gärte, ihr Überbiss war ihr bewusst, ihre verflossene Schönheit, ihr Übergewicht, die Lächerlichkeit ihres Status als Herrscherin über nichts anderes als nervende Kinder und schnippische jüngere Schwestern, die dünne Fassade der Autorität, die kaum ihre Angst vor der Gegenwart, der Zukunft und sogar der Vergangenheit verbarg.
»Herzlich willkommen«, brachte sie heraus.
»Du bist Sarima«, sagte die Frau, das spitze Kinn im Aufstehen beinahe bedrohlich vorgeschoben.
»Wer sonst?«, erwiderte sie und war froh, dass sie den Halsreif umhatte. Er kam ihr auf einmal vor wie ein Schild, der ihr Herz davor beschützte, von diesem Kinn durchbohrt zu werden. »Sei gegrüßt, meine Freundin. Ja, ich bin Sarima, die Herrin von Kiamo Ko. Woher kommst du, und wie heißt du?«
»Ich komme von der Rückseite des Windes«, sagte die Frau, »und ich führe meinen Namen schon so lange nicht mehr, dass ich ihn deinetwegen nicht wieder hervorholen möchte.«
»Nun, du bist jedenfalls hier willkommen«, sagte Sarima so selbstverständlich, wie sie konnte. »Aber wenn wir deinen Namen nicht kennen, werden wir dich Tante nennen müssen. Darf ich dich zum Essen einladen? Es wird in Bälde aufgetragen.«
»Ich esse nichts, solange wir nicht geredet haben«, sagte die Besucherin. »Nicht eine Nacht werde ich in einem ungeklärten Verhältnis unter deinem Dach verbringen, lieber würde ich auf dem Grund eines Sees liegen. Sarima, ich weiß, wer du bist. Ich habe mit deinem Mann studiert. Ich weiß schon seit vielen Jahren von dir.«
»Aber natürlich!« Sarima begriff. Die alten, sorgsam gehüteten Erinnerungen an das Leben ihres Mannes kamen nach oben. »Natürlich hat Fiyero von dir erzählt – und von deiner Schwester, Nessie, nicht wahr? Nessarose. Und von der bezaubernden Glinda, in die er, glaube ich, ein bisschen verliebt war, und von den beiden übermütigen Jungen, die wohl etwas verkehrt herum waren, und von Avaric und dem nüchternen Boq. Wie habe ich es bedauert, dass diese glückliche Zeit in seinem Leben mir immer verschlossen geblieben ist, dass ich nie daran Anteil hatte – und jetzt kommst du mich besuchen! Ich wäre auch gern für ein oder zwei Semester nach Shiz gekommen, aber ich hatte nicht genug Grips, fürchte ich, und meine Eltern nicht genug Geld. Ich hätte eigentlich gleich darauf kommen müssen, wer du bist – bei deiner Hautfarbe, meine ich, die gibt es doch nur einmal, nicht wahr? Oder bin ich jetzt zu provinziell?«
»Nein, sie ist einzig auf ihre Art«, sagte die Besucherin. »Aber bevor wir weiter höflichen Unsinn miteinander wechseln, muss ich dir etwas sagen, Sarima. Ich glaube, ich bin schuld an Fiyeros Tod –«
»Damit bist du nicht die Einzige«, unterbrach Sarima sie. »Das ist hier bei uns eine nationale Freizeitbeschäftigung, sich am Tod eines Fürsten die Schuld zu geben. Eine Gelegenheit zu öffentlicher Trauer und Sühne, die die Leute, glaube ich insgeheim, auch ein klein wenig genießen.«
Die Besucherin krümmte die Finger, als wollte sie in Sarimas geschlossenem Weltbild eine Lücke für sich aufreißen. »Ich kann dir erzählen, wieso. Ich will dir erzählen –«
»Nur wenn ich es hören will, das ist mein Privileg. Dies ist mein Haus, und ich entscheide, was ich mir anhören möchte.«
»Du musst mich anhören, damit mir verziehen werden kann«, sagte die Frau und wand dabei die Schultern hierhin und dorthin, als wäre sie ein Lasttier und litte unter einem unsichtbaren Joch.
Sarima ließ sich in ihrem eigenen Haus nicht gern überrumpeln. Es hatte Weile, diese plötzlichen neuen Perspektiven zu überdenken. Wenn ihr danach war. Und nicht eher. Sie sagte sich, dass sie hier die Herrin war. Und damit konnte sie es sich leisten, großzügig zu sein.
»Wenn ich mich recht entsinne«, auf einmal überschlugen sich die Erinnerungen in ihr, »dann bist du diejenige – Elphaba, genau, Fiyero hat natürlich von dir gesprochen –, die Frau, die nicht an die Existenz der Seele glaubte. Das ist mir im Gedächtnis geblieben, also was gäbe es zu verzeihen, meine Gute? Ich weiß, du bist müde von der Reise – jeder ist müde, wenn er hier ankommt –, und du brauchst ein ordentliches warmes Essen und ein paar Nächte Schlaf, und irgendwann nächste Woche plaudern wir miteinander, einverstanden?«
Sarima hakte sich bei Elphaba ein. »Aber ich werde deinen Namen vor den anderen geheimhalten, wenn du möchtest«, sagte sie. Sie schritt mit Elphaba durch die hohe verzogene Eichentür in den Speisesaal und rief: »Heute Abend haben wir die Tante zu Gast.« Hungrig, neugierig und ungeduldig standen die Schwestern neben ihren Stühlen. Vier hatte die Kelle in der Terrine und rührte um, Sechs hatte sich in ein aggressives Braunrot geworfen, Zwei und Drei, die Zwillinge, blickten fromm auf ihre Gebetskarten, Fünf rauchte und blies Ringe über die Platte mit augenlosen gelben Fischen, die sie aus dem unterirdischen Teich geholt hatten. »Schwestern, freut euch, eine alte Freundin von Fiyero ist gekommen, um unser Leben mit schönen Erinnerungen zu bereichern. Seid ihr so herzlich gut, wie ihr mir gut seid.« Das war vielleicht eine unglückliche Wortwahl, denn die Schwestern empfanden alle Groll und Verachtung für Sarima. Warum hatte sie einen Mann geheiratet, der so jung gestorben war und sie nicht nur zu Ehelosigkeit, sondern auch zu Liebesentzug verurteilt hatte?
Während des ganzen Essens sprach Elphaba weder, noch schaute sie von ihrem Teller auf. Immerhin aß sie ihren Fisch auf und Käse und Obst dazu. Sarima schloss aus ihren Essgewohnheiten, dass sie unter einem Schweigegebot bei Mahlzeiten gelebt hatte, und war nicht überrascht, als sie später von dem Nonnenkloster erfuhr.
Sie tranken ein Glas kostbaren Sherry im Musikzimmer, und Sechs unterhielt sie mit einem zittrigen Nocturne. Die Besucherin sah elend aus, was die Schwestern erfreute. Sarima seufzte. Das Einzige, was sich über die Frau konstatieren ließ, war: Sie war älter als Sarima. Vielleicht würde Elphaba ja für die kurze Zeit ihres Aufenthalts aus ihrer Gedrücktheit herauskommen und sich anhören mögen, wie beschwerlich und anstrengend Sarimas Leben war. Es wäre nett, einmal mit jemandem zu plaudern, der nicht zur Familie gehörte.
Eine Woche verging, ehe Sarima zu Drei sagte: »Richte bitte der Tante aus, dass ich sie morgen gern zum zweiten Frühstück im Solar sehen würde.« Sarima fand, dass Elphaba inzwischen genug Zeit gehabt hatte, um sich wieder zu fangen. Die leidende grüne Frau machte den Eindruck, unter einem Zeitlupenbann zu stehen. Mit eckigen Bewegungen stakste sie über den Hof oder stampfte zu den Mahlzeiten herein, als wollte sie mit den Fersen Löcher in den Boden treten. Ihre Ellbogen waren immer angewinkelt, und ihre Hände schlossen und öffneten sich krampfhaft.
Sarima fühlte sich stärker als je zuvor, was nicht viel zu besagen hatte. Es tat ihr gut, eine ungefähr Gleichaltrige um sich zu haben, auch wenn diese noch so verkorkst war. Die Schwestern missbilligten Sarimas Herzlichkeit, doch die höheren Gebirgspässe waren bereits für den Winter geschlossen, und man konnte eine Fremde nicht einfach in die tückischen Täler hinunterjagen. Die Schwestern berieten sich in ihrem Salon, während sie zu den Lurlinalien scheußliche graue Topflappen für die nichtswürdigen Armen strickten. Sie ist krank, sagten sie, sie ist träge, unkultiviert (noch mehr als sie selbst, war der unausgesprochene und ungemein befriedigende Hintergedanke), sie ist verdammt. Und ist dieser Fettkloß von einem Jungen ihr Sohn oder ein kindlicher Sklave, oder ist er einer ihrer Helfergeister? Hinter Sarimas Rücken nannten sie die in der Schusterwerkstatt wohnende Tante eine Hexe, eingedenk der alten Sagen von Kumbricia, die sich in den Kallen abscheulicher – und hartnäckiger – hielten als anderswo in Oz.
Manek, Sarimas mittleres Kind, war der Neugierigste von allen. Als die Jungen eines Morgens alle auf den Zinnen standen und hinunterpissten (ein Spiel, an dem die arme Nor Desinteresse heucheln musste), sagte er: »Was wäre, wenn wir die Tante anpinkeln würden? Würde sie schreien?«
»Sie würde dich in eine Kröte verwandeln«, sagte Liir.
»Nein, ich meine, würde es ihr wehtun? Sie tut so, als könnte sie ums Verrecken kein Wasser vertragen. Trinkt sie überhaupt welches? Oder macht ihr das innen Schmerzen?«
Liir, ein nicht sonderlich aufmerksames Kind, sagte: »Ich glaube, sie trinkt keines. Manchmal wäscht sie Sachen, aber sie benutzt dafür Stöcke und Bürsten. Es wäre besser, wir pinkeln sie nicht an.«
»Und was macht sie mit den ganzen Bienen und dem Affen? Sind die magisch?«
»Klar«, sagte Liir.
»Und wie magisch?«
»Weiß ich nicht.« Sie traten von der schwindelerregenden Tiefe zurück, und Nor kam angelaufen. »Ich habe einen magischen Strohhalm«, rief sie und hielt eine braune Borste in die Höhe. »Vom Besen der Hexe.«
»Ist der Besen magisch?«, fragte Manek Liir.
»Ja. Der fegt den Boden echt schnell.«
»Kann er sprechen? Ist er verzaubert? Was sagt er so?«
Das Interesse der anderen wuchs, und durch ihre Neugier blühte Liir auf und errötete. »Das darf ich nicht sagen. Es ist ein Geheimnis.«
»Ist es auch dann noch ein Geheimnis, wenn wir dich von der Mauer schubsen?«
Liir überlegte. »Was soll das heißen?«
»Sag’s uns, oder wir machen’s.«
»Ihr dürft mich nicht von der Mauer schubsen, ihr Lümmel.«
»Wenn der Besen magisch ist, wird er geflogen kommen und dich retten. Außerdem bist du so dick, dass du wahrscheinlich wieder hochhüpfst.«
Irji und Nor mussten unwillkürlich darüber lachen. Die Vorstellung war sehr lustig.
»Wir wollen bloß wissen, was für Geheimnisse der Besen dir verrät«, sagte Manek mit breitem Grinsen. »Los, sag’s uns! Oder wir schubsen dich runter.«
»Das ist nicht nett, er ist doch unser Spielkamerad«, sagte Nor. »Kommt, wir fangen in der Speisekammer ein paar Mäuse und spielen mit denen.«
»Gleich. Erst schubsen wir Liir von der Mauer.«
»Nein«, rief Nor und fing an zu weinen. »Ihr Jungen seid so gemein. Bist du sicher, dass der Besen magisch ist, Liir?«
Aber Liir wollte nichts mehr sagen.
Manek warf einen Stein hinunter, und es schien sehr lange zu dauern, bis man ihn aufschlagen hörte.
Liir hatte in wenigen Momenten schwarze Schatten unter den Augen bekommen. Er hielt die Hände an die Hosennaht wie ein Vaterlandsverräter vor einem Kriegsgericht. »Die Hexe wird so böse sein, dass sie euch hassen wird«, sagte Liir.
»Das glaube ich nicht«, sagte Manek und trat einen Schritt vor. »Es wird ihr egal sein. Sie mag den Affen lieber als dich. Sie wird gar nicht merken, dass du tot bist.«
Liir schnappte nach Luft. Obwohl er gerade erst gepinkelt hatte, wurde seine ausgebeulte Hose vorne dunkel und feucht. »Schau, Irji«, sagte Manek, und sein älterer Bruder schaute. »Er ist gar nicht besonders lebenstüchtig, nicht wahr? Es wäre kein großer Verlust. Los, Liir, spuck’s aus! Was hat der verdammte Besen dir gesagt?«
Liirs Brustkorb arbeitete wie ein Blasebalg. Er flüsterte: »Der Besen hat mir gesagt, dass … dass … ihr alle sterben werdet!«
»Ach, mehr nicht?«, sagte Manek. »Das ist nichts Neues. Jeder muss sterben. Das wussten wir schon.«
»Wirklich?«, sagte Liir, der das nicht gewusst hatte.
»Kommt mit!«, sagte Irji. »Los, kommt! Wir fangen in der Speisekammer Mäuse, und dann schneiden wir ihnen den Schwanz ab und stechen ihnen mit Nors magischem Strohhalm die Augen aus.«
»Nein!«, rief Nor, aber da hatte Irji ihr schon den Strohhalm entrissen. Gelenkig wie Marionetten sprangen er und Manek an der Brustwehr entlang und die Treppe hinunter. Mit einem großen bekümmerten Seufzer fasste sich Liir und strich seine Hose zurecht, dann folgte er ihnen wie ein Zwerg, der zur Zwangsarbeit in den Smaragdminen verurteilt ist. Nor blieb zurück, die Arme trotzig verschränkt, und ihr Kinn zuckte vor Erbitterung. Dann spuckte sie über die Mauer und fühlte sich besser und jagte hinter den Jungen her.
Am späten Vormittag brachte Sechs die Besucherin in den Solar. Mit einem Feixen hinter dem Rücken der Tante stellte sie einen Teller mit grässlichen kleinen Keksen, hart wie Stein, auf einen Tisch, den ein verblichener und braun gewordener Teppich bedeckte. Sarima, die ihre täglichen rituellen Waschungen so weit absolviert hatte, wie sie konnte, war bereit.
»Du bist jetzt eine Woche hier und wirst wahrscheinlich noch länger bleiben«, sagte Sarima und ließ Sechs Gallwurzelkaffee einschenken, bevor sie gehen durfte. »Der Weg nach Norden ist mittlerweile verschneit, und zwischen hier und der Ebene gibt es keine sichere Zuflucht. Der Winter ist hart in den Bergen, und auch wenn wir mit unseren Vorräten und unserer eigenen Gesellschaft auskommen, ist uns jede Veränderung lieb. Milch? Ich weiß nicht so recht, wie deine Pläne aussehen. Für die Zeit nach deinem Besuch bei uns, meine ich.«
»Es gibt Gerüchte von Höhlen hier in den Kallen«, sagte Elphaba, wobei sie fast mehr mit sich selbst als mit Sarima sprach. »Ich habe einige Jahre im Kloster der heiligen Glinda in der Schiefersenke gelebt, unweit der Smaragdstadt. Würdenträger kamen gelegentlich zu Besuch, und obwohl zu vielen Zeiten ein Schweigegelübde galt, redete man dennoch über das, was man so hörte. Klosterzellen. Ich hatte mir gedacht, wenn ich hier fertig bin, könnte ich mich in eine Höhle zurückziehen und … und …«
»Und einen Hausstand gründen«, ergänzte Sarima, als ob das so gang und gäbe wäre wie Heiraten und Kinderkriegen. »Manche tun das, ich weiß. Am Westhang des Flaschenhalses – das ist ein Gipfel hier in der Nähe – lebt ein alter Einsiedler. Es heißt, er lebt schon seit Jahren dort und ist auf einen primitiveren Stand der Natur zurückgefallen. Seiner Natur, meine ich.«
»Ein Leben ohne Worte«, sagte Elphaba, schaute in ihren Kaffee und trank nichts davon.
»Es heißt, dass dieser Einsiedler die Hygiene völlig verlernt hat«, sagte Sarima, »und wenn ich mir überlege, wie die Jungen riechen, wenn sie sich zwei Wochen lang nicht gewaschen haben, dann kommt mir das wie eine Schutzvorkehrung der Natur gegen Raubtiere vor.«
»Ich hatte eigentlich nicht vor, länger hierzubleiben«, sagte Elphaba, wobei sie den Kopf weit herumdrehte wie ein Papagei und Sarima merkwürdig anschaute. Vorsicht, dachte Sarima skeptisch, obwohl sie diese Frau gar nicht so unsympathisch fand: Vorsicht, sie ist dabei, die Richtung des Gesprächs zu bestimmen. Das geht nicht. Doch die Besucherin fuhr fort: »Ich hatte gedacht, ich würde eine oder zwei Nächte bleiben, vielleicht drei, und mir dann vor Wintereinbruch einen Unterschlupf suchen. Leider hatte ich dabei den falschen Kalender im Kopf, denn ich ging bei meiner Planung davon aus, wie und wann der Winter nach Shiz und in die Smaragdstadt kommt. Aber ihr seid hier sechs Wochen früher dran.«
»Früher im Herbst und leider auch später im Frühling«, sagte Sarima. Sie nahm die Füße vom Betkissen und stellte sie zum Zeichen der Ernsthaftigkeit fest auf den Boden. »Und jetzt, meine neue Freundin, gibt es ein paar Dinge, die ich dir sagen muss.«
»Ich habe dir auch etwas zu sagen«, warf Elphaba dazwischen, doch diesmal ließ Sarima sich nicht beirren.
»Du wirst mich für eine ungehobelte Person halten, und du hast natürlich recht. Gewiss, als ich im zarten Kindesalter zur Braut bestimmt wurde, wurde auch eine gute Gouvernante aus Gillikin angestellt, die mir und meinen Schwestern beibringen sollte, wie man Verben und Pronomen und Salatgabeln benutzt. Und neuerdings habe ich sogar Lesen gelernt. Aber was ich an Bildung und guten Manieren habe, stammt größtenteils von Fiyero, der mich freundlicherweise manches lehrte, als er von der Akademie zurückkehrte. Natürlich mache ich auch Patzer. Es ist durchaus berechtigt, wenn du mich hinter meinem Rücken auslachst.«
»Das ist nicht meine Art«, bemerkte Elphaba.
»Wie dem auch sei. Dennoch habe ich meine eigene Meinung, und auch ohne studiert zu haben, nehme ich Dinge wahr. Obwohl ich ein behütetes Leben führe, mit sieben Jahren verheiratet wurde, wie du vielleicht weißt, und hinter schützenden Burgmauern aufgewachsen bin, vertraue ich auf mein Gespür und lasse mich nicht davon abbringen. Nein, lass mich fortfahren«, sagte sie, als Elphaba sie unterbrechen wollte. »Wir haben viel Zeit, und die Sonne ist nett hier oben, nicht wahr? Das ist mein kleines Refugium.
Ich habe den Eindruck, dass du hierhergekommen bist, um, irgendeine traurige Angelegenheit loszuwerden. Das merkt man dir an. Schau nicht so betroffen, meine Gute, wenn es etwas gibt, was ich Menschen anmerke, dann eine Last, die sie tragen. Vergiss nicht, dass ich mir jahraus jahrein von meinen lieben Schwestern anhören darf, auf wie vielerlei Arten sie mich hassen und warum.« Sie lächelte, amüsiert von ihrem eigenen Humor. »Du willst deine Last abschütteln, sie mir vor die Füße oder auf die Schultern werfen. Du willst vielleicht ein wenig weinen, dich verabschieden und gehen. Und wenn du hier fortgegangen bist, wirst du geradewegs die Welt verlassen.«
»Das werde ich nicht tun«, sagte Elphaba.
»Das wirst du, auch wenn du es noch nicht weißt. Du wirst nichts mehr haben, was dich an die Welt bindet. Aber ich kenne meine Grenzen, und ich weiß, weshalb du hier bist. Du hast es mir gesagt. Unten im Saal, da hast du mir gesagt, dass du dich für Fiyeros Tod verantwortlich fühlst –«
»Ich –«
»Nein. Nein. Dies ist meine Burg. Ich bin zwar in Wahrheit nur die Fürstinwitwe von Kleinkleckersdorf, doch ich habe das Recht, mir etwas anzuhören und mir etwas nicht anzuhören. Unbekümmert darum, ob es einer Besucherin danach vielleicht besser geht.«
»Ich –«
»Nein.«
»Aber ich will dich nicht belasten, Sarima, ich will dich mit der Wahrheit entlasten. Du bist, wenn ich das sagen darf, kräftiger als ich, weniger gedrückt. Vergebung erleichtert den Spender ebenso wie den Empfänger.«
»Ich will die Bemerkung überhört haben, dass ich kräftiger bin«, sagte Sarima. »Dennoch habe ich das Recht, mich frei zu entscheiden. Und ich denke, du willst mich verletzen. Du willst mich verletzen, und du weißt es nicht einmal. Du willst mich für irgendetwas bestrafen. Vielleicht dafür, dass ich Fiyero keine gute Frau war. Du willst mich verletzen, und du redest dir ein, es wäre eigentlich eine heilsame Kur.«
»Weißt du wenigstens, wie er gestorben ist?«, fragte Elphaba.
»Ich weiß, dass er eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Ich weiß, dass die Leiche niemals gefunden wurde. Ich weiß, dass es in einem kleinen Liebesnest geschah.« Einen Moment lang verlor Sarima ihre Festigkeit. »Ich will gar nicht so genau wissen, wer es war, aber nach allem, was ich von diesem üblen Caspar von Paltos gehört habe, habe ich den Eind–«
»Caspar von Paltos!«
»Ich habe nein gesagt. Kein Wort mehr! So, jetzt habe ich dir ein Angebot zu machen, Tante, und du kannst es annehmen oder nicht. Du und der Junge, ihr könnt in den Südostturm ziehen, wenn ihr mögt. Es gibt dort große runde Räume mit hohen Decken und gutem Licht, und ihr seid aus der zugigen Schusterwerkstatt heraus und habt es wärmer. Ihr habt eure eigene Treppe in den Hauptsaal und stört die Mädels beim Kommen und Gehen nicht, und sie stören euch nicht. Ihr könnt nicht den ganzen Winter in dieser Werkstatt bleiben. Der Junge sieht schon seit einiger Zeit blass und verschnupft aus, vermutlich weil er ständig friert. Ihr könnt dort unter der Bedingung einziehen, dass du meine unumstößliche Entscheidung in dieser Angelegenheit akzeptierst. Ich habe nicht vor, mit dir über meinen Mann oder die Umstände seines Todes zu sprechen.«
Elphaba sah entsetzt und niedergeschlagen aus. »Mir bleibt keine andere Wahl«, sagte sie, »wenigstens fürs Erste. Aber ich warne dich, ich habe vor, so innige Freundschaft mit dir zu schließen, dass du deine Meinung änderst. Und ich glaube wirklich, dass du bestimmte Dinge hören musst, dass du sie besprechen musst, genau wie ich. Ich kann nicht eher in die Wildnis aufbrechen, als bis ich dein festes Versprechen habe –«
»Genug!«, sagte Sarima. »Hol dir den Wächter aus dem Pförtnerhaus und lass dir von ihm dein Gepäck in den Turm bringen. Komm, ich zeige ihn dir. Du hast ja deinen Kaffee gar nicht angerührt.« Sie stand auf. Einen peinlichen Moment lang flimmerte genauso deutlich Respekt und Misstrauen im Raum wie der Staub in den Sonnenstrahlen. »Komm«, sagte Sarima, sanfter diesmal. »Wenigstens warm sollst du es haben. Das immerhin soll man von uns Landpomeranzen hier in Kiamo Ko sagen können.«
3
In Elphabas Augen war es ein Hexenzimmer, und sie genoss es in vollen Zügen. Wie alle guten Hexenzimmer in Kindermärchen hatte es im Großen und Ganzen die krummen Wände eines Turms. Es gab ein einziges breites Fenster, und da es nach Osten ging, der windabgewandten Seite, konnte man es gelegentlich öffnen, ohne dass alles ins verschneite Tal hinaus wehte. Dahinter ragten die Großen Kallen wie eine Reihe von Wachposten auf – schwarzviolett, wenn die Wintersonne über ihnen aufging, zu blauweißen Wänden ausblutend, wenn die Sonne hoch darüber hinwegzog, und gegen Abend schließlich golden und rötlich. Manchmal polterten Eis- und Gerölllawinen zu Tal.
Die Faust des Winters packte das Haus. Elphaba lernte bald, dass sie lieber auf ihrem Zimmer blieb, sofern sie nicht sicher war, dass anderswo ein wärmeres Feuer brannte. Und außer an Sarima war ihr an der menschlichen Gesellschaft, die das Haus bot, nichts gelegen. Sarima wohnte im Westflügel mit den Kindern: den Jungen Irji und Manek und dem Mädchen Nor. Sarimas fünf Schwestern wohnten im Ostflügel; sie wurden mit den Zahlen Zwei bis Sechs gerufen, und falls sie jemals andere Namen gehabt hatten, waren diese in Vergessenheit geraten. Zum Ausgleich für das Heiratsverbot, dem sie unterlagen, beanspruchten die Schwestern die besten Räume im Haus, allerdings hatte Sarima den Solar. Wo Liir zum Schlafen unterkroch, wusste Elphaba nicht, doch er erschien jeden Morgen, um die Lumpen unter der Krähenstange zu wechseln. Er brachte ihr auch Kakao.
Die Lurlinalien rückten näher, und alter Zierat wurde hervorgekramt, von dem das Gold fast völlig abgeblättert war. Die Kinder verbrachten einen ganzen Tag damit, Nippes und Spielzeug an die Türbögen zu binden, so dass die Erwachsenen sich den Kopf daran stießen und fluchten. Manek und Irji nahmen sich eine Säge und verließen ohne Erlaubnis die Burg, um sich ein paar Fichten- und Stechpalmenzweige zu holen. Nor blieb zu Hause und malte Szenen glücklichen Burglebens auf Blätter, die sie und Liir im Zimmer der Tante Hexe gefunden hatten. Liir meinte, er könne nicht zeichnen, und trollte sich, vielleicht um Manek und Irji nicht in die Quere zu kommen. Stille legte sich über das Haus, bis aus der Küche ein lautes Geschepper von Kupferpfannen ertönte. Nor lief hin, um nachzuschauen, und auch Liir kam aus irgendeinem verborgenen Winkel hervor.
Es war Plapperaff. Der Affe hatte einen Anfall, und alle Schwestern, die gerade Lebkuchen backten, bewarfen ihn mit Teigbatzen, um ihn von dem Rad mit Küchengeräten über dem Arbeitstisch zu scheuchen, wo er einen Heidenlärm veranstaltete.
»Wie ist er hier reingekommen?«, fragte Nor.
»Schaff ihn raus, Liir! Ruf ihn!«, sagte Zwei, doch auf Liir hörte Plapperaff so wenig wie auf die Schwestern. Der Affe schwang sich auf den Schrank und von dort zum Trockenobst, wo er einen großen Behälter mit den kostbaren Rosinenvorräten aufriss und sie sich ins Maul stopfte. »Holt die Leiter aus dem Saal, ihr zwei!«, sagte Sechs, doch als sie damit ankamen, hockte Plapperaff wieder auf dem Rad und drehte es mit viel Getöse im Kreis wie ein Karussell auf dem Jahrmarkt.
Vier gab einen Klacks pürierte Melone in eine Schale. Fünf und Drei zogen ihren Schürzen aus und machten sich bereit, ihn zu überrumpeln, wenn er herabkam. Plapperaff war noch dabei, das Obsthäufchen zu beäugen, als die Tür an die Wand knallte und Elphaba hereingestampft kam. »Bei diesem Radau versteht man ja sein eigenes Wort nicht mehr!«, rief sie, da bot sich ihr das Bild des mit einem Mal lammfrommen Plapperaff und der Schwestern, die gerade ansetzten, ihn mit ihren bemehlten Schürzen zu fangen. »Was zum Teufel ist hier los?«
»Du musst nicht gleich losbrüllen«, murrte Zwei leise, doch die beiden anderen ließen ihre Schürzen sinken.
»Und was soll das? Was wird hier eigentlich gespielt? Ihr seht alle aus wie Mordefroh, wenn er im Blutrausch ist. Ihr seid ganz weiß vor Zorn auf dieses arme Ding!«
»Das ist kein Zorn, das ist Mehl«, sagte Fünf, und alle mussten kichern.
»Ihr elenden Wilden!«, sagte Elphaba. »Plapperaff, komm her, komm hierher! Sofort! Ihr Weiber habt es wirklich verdient, unverheiratet zu bleiben, da setzt ihr wenigstens keine widerlichen wilden Kinder in die Welt. Dass mir ja keine von euch diesen Affen anrührt, habt ihr mich verstanden? Und wie ist er überhaupt aus meinem Zimmer gekommen? Ich war bei eurer Schwester im Solar.«
»O weh«, sagte Nor, die sich plötzlich erinnerte. »O weh, Tante, entschuldige. Wir waren das.«
»Ihr?« Sie drehte sich um und blickte Nor an, als sähe sie sie zum ersten Mal, was Nor gar nicht gefiel. Sie wich an die Tür des Kartoffelkellers zurück. »Was habt ihr in meinem Zimmer zu suchen?«, herrschte Elphaba sie an.
»Bloß Papier«, sagte Nor kläglich, und in einem verzweifelten Rettungsversuch setzte sie hinzu: »Ich habe Bilder für alle gemalt. Willst du sie mal sehen? Komm mit!«
Mit Plapperaff auf dem Arm folgte Elphaba den Kindern in den zugigen Saal, wo der Wind unter der Haustür hindurchblies und die Blätter gegen die Steinwände wehte. Die Schwestern kamen in sicherem Abstand hinterdrein.
Elphabas Stimme wurde eisig. »Das ist mein Papier«, sagte sie. »Ich habe dir nicht erlaubt, es zu nehmen. Sieh her, hintendrauf stehen Wörter. Weißt du, was Wörter sind?«
»Na klar weiß ich das, denkst du, ich bin dumm?«, erwiderte Nor kess.
»Du lässt gefälligst meine Papiere in Ruhe!«, sagte Elphaba. Dann sausten sie und Plapperaff die Treppe hinauf, und die Tür zum Turm knallte hinter ihnen zu.
»Wer will Lebkuchen ausrollen helfen?«, fragte Zwei, die froh war, dass es nicht richtig gekracht hatte. »Und dieser Saal sieht sehr nett aus, ihr Knirpse. Ich bin sicher, Prinella und Lurlina werden heute Nacht beeindruckt sein.« Die Kinder gingen mit in die Küche zurück und machten Lebkuchenmenschen, Lebkuchenkrähen, Lebkuchenaffen und Lebkuchenhunde, aber Lebkuchenbienen gingen nicht, die waren zu klein. Als Irji und Manek hereinkamen und verschneite Zweige auf den Schieferboden schmissen, halfen auch sie beim Backen mit, aber sie machten unanständige Figuren, die sie den beiden kleineren Kindern nicht zeigten, und sie naschten in einem fort den rohen Teig und lachten hysterisch darüber, was allen anderen auf die Nerven ging.
Als die Kinder am Morgen aufwachten, liefen sie nach unten und sahen nach, ob Lurlina und Prinella dagewesen waren. Jawohl, da stand ein brauner Weidenkorb mit einem grüngoldenen Band daran (den Korb und das Band kannten Sarimas Kinder schon seit Jahren), und darin lagen drei kleine bunte Schachteln mit je einer Orange, einer Puppe, einem Beutelchen Murmeln und einer Lebkuchenmaus.
»Wo ist meine?«, fragte Liir.
»Ich sehe keine mit deinem Namen drauf«, sagte Irji. »Guck: Irji. Manek. Nor. Wahrscheinlich hat Prinella sie in euerm alten Haus für dich abgegeben. Wo hast du früher gewohnt?«
»Ich weiß nicht«, sagte Liir und fing an zu weinen.
»Hier, du kannst den Schwanz von meiner Maus haben, nur den Schwanz«, sagte Nor freundlich. »Aber erst musst du sagen: Darf ich bitte den Schwanz von deiner Maus haben?«
»Darf ich bitte den Schwanz von deiner Maus haben?«, sagte Liir, obwohl die Worte kaum zu verstehen waren.
»Und ich verspreche, dir zu gehorchen.«
Liir murmelte es nach. Schließlich war der Handel getätigt. Aus Scham erwähnte Liir das Versäumnis nicht. Sarima und die Schwestern merkten es gar nicht.
Elphaba ließ sich den ganzen Tag nicht blicken, doch sie ließ ausrichten, dass die Lurlinalien sie immer krank machten und sie ein paar Tage allein sein wolle. Sie wünsche, weder mit Essen, Besuch noch irgendwelchem Lärm gestört zu werden.
Und während Sarima sich in ihre kleine Kapelle begab, um an diesem Tag ihres Mannes zu gedenken, sangen die Schwestern und die Kinder, so laut sie konnten, Festtagslieder.
4
Einige Wochen später, als die Kinder sich gerade eine Schneeballschlacht lieferten und Sarima in der Küche eine Art Heilgrog kochte, verließ Elphaba schließlich ihr Zimmer, schlich die Treppe hinunter und klopfte bei den Schwestern an die Tür.
Sie taten es ungern, doch sie fühlten sich gezwungen, die Besucherin willkommen zu heißen. Das Silbertablett mit Flaschen voll hochprozentiger Getränke, die kostbaren Kristallwaren, auf Eselsrücken aus dem fernen Dixxi-Haus in Gillikin importiert, die schönsten und rotleuchtendsten einheimischen Teppiche auf dem Fußboden, der Luxus zweier gegenüberliegender Kamine, beide mit einem munter brennenden Feuer – die Szene wäre wohl etwas dezenter gewesen, wenn Elphaba sich vorher angekündigt hätte. Jetzt konnte Vier nur noch den Lederband, aus dem sie gerade vorgelesen hatte, unter den Sofapolstern verstecken, die pikante Geschichte einer armen jungen Frau, die sich vor schönen Freiern kaum zu retten weiß. Es war einst ein Geschenk von Fiyero gewesen, das beste Geschenk, das er den Schwestern je gemacht hatte – und das einzige.
»Möchtest du etwas Zitronengerstenwasser?«, fragte Sechs, zum Dienerinnendasein verurteilt bis zum Tag ihres Todes, sofern es der glückliche Zufall nicht wollte, dass alle anderen vor ihr starben.
»Nimm doch Platz – hier bitte, den Platz wirst du sehr gemütlich finden.«
Elphaba sah nicht so aus, als wollte sie es gemütlich haben, aber sie setzte sich trotzdem, so steif und beklommen sie sich in dieser plüschigen Polsterhöhle auch fühlte.
Sie nahm den kleinstmöglichen Schluck ihres Getränks, als befürchtete sie, mit Nieswurz vergiftet zu werden.
»Ich muss mich wohl dafür entschuldigen, dass ich wegen Plapperaff neulich ausfällig geworden bin«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich hier in Kiamo Ko nur zu Gast bin. Ich bin einfach an die Decke gegangen.«
»Das kann man wohl sagen«, fing Fünf an, doch die anderen unterbrachen sie. »Ach, denk dir nichts dabei, wir haben alle solche Tage, ja, uns passiert das gewöhnlich an ein und demselben Tag, und das schon seit Jahren …«
»Es ist sehr anstrengend«, sagte Elphaba mit einiger Mühe. »Ich habe jahrelang ein Schweigegelübde gehalten, und ich habe nicht immer das richtige Gefühl dafür, wie … laut man werden darf. Außerdem ist das hier für mich in gewisser Weise eine fremde Kultur.«
»Wir Arjikis sind von jeher stolz darauf gewesen, dass wir uns mit allen anderen Ozianern verständigen können«, sagte Zwei, »mit dem abgerissenen Vagabunden der Schrähen im Süden ebenso wie mit der Elite der Smaragdstadt im Osten.« Nicht dass sie je aus dem Winkus herausgekommen wären.
»Ein Häppchen vielleicht?«, sagte Drei und bot eine Dose mit Marzipanfrüchten an.
»Nein«, sagte Elphaba. »Aber ich wüsste gern, was ihr mir über den Kummer eurer Schwester erzählen könnt.«
Sie stockten, zwischen Verlockung und Argwohn hin- und hergerissen.
»Ich genieße die Gespräche mit ihr im Solar«, fuhr Elphaba fort, »aber immer wenn die Rede auf ihren verstorbenen Mann kommt – den ich persönlich kannte, wie ihr vielleicht wisst –, weigert sie sich, das Thema weiterzuverfolgen.«
»Ach ja, war das traurig«, sagte Zwei.
»Eine Tragödie«, sagte Drei.
»Für sie«, sagte Vier.
»Für uns«, sagte Fünf.
»Tante, nimm doch einen Schuss Orangenlikör in deine Zitronengerste«, sagte Sechs. »Er kommt von den sonnigen Hängen der Kleinen Kallen und ist ein ziemlicher Luxus.«
»Na gut, ein Tröpfchen.« Doch Elphaba trank nicht davon. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie, beugte sich vor und sagte: »Bitte erzählt mir, wie sie von Fiyeros Tod erfahren hat.«
Schweigen trat ein. Die Schwestern vermieden es, sich Blicke zuzuwerfen, und zupften eifrig die Falten ihrer Röcke zurecht. Nach einer Weile ergriff Zwei das Wort: »So ein trauriger Tag. Die Erinnerung daran tut heute noch weh.«
Die anderen wechselten ihre Sitzhaltung und wandten sich ihr etwas zu. Elphaba blinzelte zweimal und sah wie eine von ihren Krähen aus.
Zwei erzählte die Geschichte ohne Sentimentalität oder Dramatik. Einer von Fiyeros Geschäftspartnern, ein arjikischer Händler, war zur Zeit der ersten Frühlingsschmelze auf einem Bergschnark über den Gebirgspass gekommen. Er habe, sagte er, Sarima eine traurige Nachricht zu überbringen, und ihre Schwestern sollten mit zugegen sein, um ihr in der Stunde der Not beizustehen. Er erzählte, dass er an den Lurlinalien in seinem Club die anonyme Mitteilung erhalten hatte, Fiyero sei ermordet worden. Angegeben war eine Adresse in einem verrufenen Viertel, das nicht einmal eine Wohngegend war. Der Stammesgenosse hatte ein paar Schläger angeheuert und die Tür des Lagerhauses aufgebrochen. Im obersten Stock war eine konspirative Wohnung, in der offensichtlich eine Gewalttat geschehen war, denn es gab Spuren eines Kampfes und viel Blut überall, stellenweise so dick, dass es noch klebte. Die Leiche war weggeschafft worden und wurde niemals gefunden.
Elphaba reagierte auf diese Schilderung nur mit einem grimmigen Nicken.
»Ein ganzes Jahr lang«, fuhr Zwei fort, »weigerte sich unsere liebe untröstliche Sarima zu glauben, dass er wirklich tot war. Es hätte uns nicht überrascht, wenn eine Lösegeldforderung eingetroffen wäre. Aber als die nächsten Lurlinalien kamen und wir immer noch nichts gehört hatten, mussten wir uns in das Unvermeidliche schicken. Außerdem war dem Stamm die gemeinschaftliche Interimsführung nicht länger zuzumuten; ein einzelner Anführer wurde gefordert und gefunden, und er macht seine Sache gut. Wenn Irji volljährig wird, kann er seinen erblichen Führungsanspruch anmelden, falls er den Mut dazu hat – im Moment ist er alles andere als mutig. Manek käme weitaus eher in Frage, aber er ist nur der Zweitgeborene.«
»Und was glaubt Sarima, was passiert ist?«, fragte Elphaba. »Und ihr?«
Jetzt, wo der schlimmste Teil der Geschichte erzählt war, mochten sich auch die anderen Schwestern zu Wort melden. Es kam heraus, dass Sarima einige Jahre lang Fiyero verdächtigt hatte, eine Affäre mit einer Kommilitonin namens Glinda gehabt zu haben, einem sagenhaft schönen gillikinesischen Mädchen.
»Sagenhaft schön?«, fragte Elphaba nach.
»Er erzählte uns allen, wie bezaubernd sie sei, wie taktvoll, wie viel Anmut und Glanz –«
»Ist es glaubhaft, dass er dermaßen von einer Frau geschwärmt hätte, mit der er ein ehebrecherisches Verhältnis hatte?«
»Männer«, sagte Zwei, »sind, wie wir alle wissen, sowohl grausam als auch verschlagen. Gäbe es eine bessere List, als inbrünstig und häufig zu bekennen, dass er sie bewunderte? Sarima hatte überhaupt keinen Anlass, ihm Heimtücke und Betrug vorzuwerfen. Er hörte nie auf, sie mit Aufmerksamkeiten zu bedenken –«
»In seiner kalten, unfreundlichen, verschlossenen, galligen Art«, warf Drei ein.
»Nicht gerade so, wie man es in Romanen liest«, sagte Vier.
»Wenn man Romane lesen würde«, sagte Fünf.
»Was wir nicht tun«, sagte Sechs und schloss die Lippen über einer Marzipanbirne.
»Demnach glaubt Sarima, ihr Mann hätte ein Verhältnis gehabt mit dieser … dieser …«
»Dieser Traumfrau«, sagte Zwei. »Du musst sie doch gekannt haben. Warst du nicht auch in Shiz?«
»Ich kannte sie flüchtig«, gab Elphaba widerwillig zu. Es fiel ihr schwer, im Sturm der vielen Stimmen die Ruhe zu bewahren. »Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Für Sarima ist klar, was vorgefallen ist«, sagte Zwei. »Glinda war – und ist wahrscheinlich immer noch – mit einem reichen älteren Adeligen namens Caspar von Paltos verheiratet. Er muss Verdacht geschöpft haben, ließ sie beschatten und fand so heraus, was gespielt wurde. Dann hetzte er dem Kerl – ich meine, dem armen Fiyero – ein paar gedungene Mörder auf den Hals. Klingt das nicht plausibel?«
»Vollkommen«, sagte Elphaba zögernd. »Aber gibt es Beweise?«
»Nicht den geringsten«, erwiderte Vier. »Wenn es welche gäbe, hätte die Familienehre die Blutrache an diesem Paltos verlangt. Aber der dürfte sich weiterhin bester Gesundheit erfreuen. Nein, es ist nur eine Annahme, aber Sarima glaubt daran.«
»Klammert sich daran«, sagte Sechs.
»Warum auch nicht?«, sagte Fünf.
»Es ist ihr gutes Recht«, sagte Drei.
»Alles ist ihr gutes Recht«, fügte Zwei kummervoll hinzu. »Außerdem, denk doch mal nach! Wenn dein Mann ermordet worden wäre, würdest du das nicht leichter ertragen, wenn du glauben könntest, er hätte es verdient, und sei es nur ein klein wenig?«
»Nein«, sagte Elphaba, »würde ich nicht.«
»Wir auch nicht«, räumte Zwei ein, »aber wir glauben, dass sie das glaubt.«
»Soso.« Elphaba betrachtete das Teppichmuster, die blutroten Rauten, die zackigen Ränder, die Tiere und Akanthusblätter und Rosenmedaillons. »Und was glaubt ihr?«
»Es ist unwahrscheinlich, dass wir in der Sache alle einer Meinung sind«, sagte Zwei, was sie jedoch nicht von weiteren Spekulationen abhielt. »Die Vermutung liegt nahe, dass Fiyero in der Smaragdstadt ohne unser Wissen in irgendwelche politischen Verwicklungen geriet.«
»Ein Aufenthalt, der sich von einem Monat zu vieren ausdehnte«, sagte Vier.
»Hatte er politische … Sympathien?«, fragte Elphaba.
»Er war der Fürst der Arjikis«, gab Fünf zu bedenken. »Es gab Verbindungen, Verantwortungen, Treuepflichten, von denen wir keine Ahnung hatten. Es war seine Pflicht, Ansichten zu Dingen zu haben, von denen wir nichts zu wissen brauchten.«
»Hat er mit dem Zauberer sympathisiert?«, fragte Elphaba direkt.
»Willst du damit andeuten, er wäre an einer von diesen Kampagnen beteiligt gewesen? Erst gegen die Quadlinger, dann gegen die Tiere?«, sagte Drei. »Du guckst überrascht, dass wir etwas davon wissen. Meinst du, wir leben hier derart hinter dem Mond?«
»Wir leben allerdings hinter dem Mond«, sagte Zwei. »Aber wir machen die Ohren auf, wenn wir können. Wir bewirten gern Reisende, die hier Station machen. Wir wissen, dass das Leben draußen im Land schlimm sein kann.«
»Der Zauberer ist ein Despot«, sagte Vier.
»Unsere heimische Burg schützt uns«, fiel Fünf ihr ins Wort. »Ein gewisser Abstand von alledem ist von Vorteil. So bleibt unsere moralische Reinheit unbefleckt.«
Alle setzten gleichzeitig ein künstliches Lächeln auf.
»Aber glaubt ihr, dass Fiyero eine Meinung über den Zauberer hatte?«, bohrte Elphaba hartnäckig nach.
»Er hat seine Meinungen immer für sich behalten.« Zwei winkte ab. »Bei der lieben Lurlina, Tante, er war ein Fürst und ein Mann! Und wir waren bloß seine jüngeren, von ihm abhängigen Schwägerinnen! Meinst du, er hätte sich uns anvertraut? Er hätte ein hochrangiger Verbündeter des Zauberers sein können, ohne dass wir das mitgekriegt hätten. Verbindungen zum Palast wird er auf jeden Fall gepflegt haben, er war schließlich ein Fürst. Wenn auch nur von unserem kleinen Stamm. Was er mit diesen Verbindungen anfing – woher sollen wir das wissen? Aber wir glauben allerdings nicht, dass er das Opfer eines gehörnten Ehemanns wurde. Vielleicht sind wir naiv, aber das glauben wir nicht. Wir vermuten, dass er irgendwie in das Kreuzfeuer eines Richtungsstreits geriet. Oder er wurde von der einen oder anderen extremistischen Gruppe bei einer verräterischen Tat ertappt. Er war ein gutaussehender Mann.« Zwei seufzte. »Keine von uns hat das je geleugnet. Aber er war hart und unzugänglich, und wir bezweifeln, dass er locker genug wurde, um sich eine Affäre zu gestatten.« Mit einer minimalen Haltungsänderung – einem Baucheinziehen und Schulternstraffen – verriet Zwei die Grundlage für diese Aussage: Wie konnte er den Reizen dieser Glinda erlegen sein, wenn er imstande gewesen war, seinen eigenen Schwägerinnen zu widerstehen?
»Aber«, fragte Elphaba kleinlaut, »meint ihr wirklich, dass er für irgendjemanden spioniert hat?«
»Warum ist seine Leiche nie gefunden worden?«, fragte Zwei zurück. »Wenn er aus Eifersucht ermordet wurde, hätte die Leiche nicht beseitigt werden müssen. Vielleicht war er noch gar nicht tot. Vielleicht wurde er fortgeschafft und irgendwo gefoltert. Nein, nach unserer begrenzten Erfahrung sieht es eher nach einem politischen Treuebruch aus als nach einem ehelichen.«
»Ich –«, setzte Elphaba an.
»Du bist ja ganz blass. Sechs, einen Krug Wasser.«
»Nein«, sagte Elphaba. »Es ist bloß … Man hätte damals doch nie gedacht … ich jedenfalls … Soll ich euch das Wenige erzählen, was ich darüber weiß? Und vielleicht könnt ihr es an Sarima weitergeben.« Sie stand auf und begann, auf und ab zu gehen. »Ich sah Fiyero –«
Doch da setzte im unwahrscheinlichsten Moment die Familiensolidarität ein. »Liebe Tante«, sagte Zwei in verantwortungsbewusstem Ton, »wir haben die Anweisung von unserer Schwester, ja nicht zuzulassen, dass du dich mit Erzählungen über Fiyero und die traurigen Umstände seines Todes belastest.« Zwei musste sich sichtlich zwingen, das über die Lippen zu bringen, so groß war die Neugier zu hören, was Elphaba zu sagen hatte. Das Fleisch der Geschichte brachte die Mägen zum Knurren. Doch die Schicklichkeit siegte – oder die Furcht vor Sarimas Zorn, der ihnen blühte, falls sie es herausfand. »Nein«, bekräftigte Zwei, »nein, wir müssen uns leider jedes Interesse versagen. Wir dürfen dir nicht zuhören, und wir werden Sarima nichts ausrichten.«
Schließlich musste Elphaba sich geschlagen geben. »Ein andermal«, sagte sie, als sie ging, »wenn ihr so weit seid, wenn sie so weit ist. Es ist so wichtig, versteht ihr? So viel Leid könnte ihr abgenommen werden … und könnte sie ihrerseits abnehmen …«
»Auf Wiedersehen«, sagten sie und machten die Tür hinter ihr zu. Im Schein der beiden brennenden Kaminfeuer bezogen sie wieder ihre Plätze – würdevoll, und verbittert, weil sie ihrer älteren Schwester gehorchen mussten. Der Teufel sollte sie holen.
5
Eis verkrustete die Dächer, verschob die Ziegel und tropfte schmutzig schmelzend in die Privatgemächer, das Musikzimmer, die Türme. Elphaba ging dazu über, ihren Hut auch im Haus zu tragen, damit sie nicht zufällig einen Eiszapfen auf den Schädel bekam. Die Krähen waren ganz schimmelig um den Schnabel und hatten Algen zwischen den Klauen. Die Schwestern lasen ihren einen Roman fertig, seufzten wie aus einem Munde – wenn man doch leben dürfte! – und fingen wieder von vorne an, wie sie es schon seit acht Jahren machten. Im heftigen Aufwind vom Tal schien der Schnee häufig zu steigen statt zu fallen. Die Kinder waren begeistert.
Eines düsteren Nachmittags hüllte sich Sarima in wollene rote Gewänder und streifte aus Langeweile durch muffige, unbewohnte Räume. Sie kam an einen Treppenschacht, der sich nach oben zu verengte – vielleicht klebte er ja an dem Giebel, den man von außen nicht sah, Sarima hatte keine räumliche Vorstellungskraft. Sie stieg die Treppe hinauf. Oben sah sie durch ein rohes Holzgitter eine Gestalt in dem trüben Licht sitzen. Sarima hüstelte, um sie nicht zu erschrecken.
Weit vorgebeugt hing Elphaba über einem dicken Folianten, der auf einer Werkbank lag. Überrascht, wenn auch nicht sehr, drehte sie sich um und sagte: »Wir hatten dieselbe Eingebung, wie eigentümlich.«
»Du hast Bücher gefunden, die ich völlig vergessen hatte«, sagte Sarima. Sie konnte mittlerweile zwar lesen, aber nicht gut, und Bücher gaben ihr immer Minderwertigkeitsgefühle. »Ich kann dir nicht einmal sagen, wovon sie handeln. So viele Wörter, man kann sich kaum vorstellen, dass die Welt einer solch eingehenden Betrachtung wert ist.«
»Hier drüben ist ein uralter Atlas«, sagte Elphaba, »und Urkunden von Nutzungsverträgen zwischen verschiedenen arjikischen Familien – ich wette, es gibt Stammesführer, die sich darüber sehr freuen würden. Sofern sie nicht veraltet sind. Einige Schriften, die Fiyero in Shiz hatte, als er Biowissenschaft studierte, erkenne ich wieder.«
»Und dieser große Wälzer? Purpurne Seiten und silberne Tinte – wie prachtvoll!«
»Den habe ich in diesem Schrank auf dem Boden gefunden. Es scheint ein Grimorium zu sein.« Elphaba fuhr mit der Hand über eine vor Feuchtigkeit leicht gewellte Seite. Ihre Hand auf dem Pergament gab einen schönen Kontrast.
»Was ist das, außer prachtvoll?«
»Wenn ich es recht verstehe«, antwortete Elphaba, »so etwas wie eine Enzyklopädie der Magie. Ein Buch über Zauberei und die Geisterwelt und über Sichtbares und Unsichtbares und Vergangenes und Zukünftiges. Ich kann nur hier und da eine Zeile entziffern. Sieh nur, wie der Text beim Hinschauen zerfährt.« Sie deutete auf einen handgeschriebenen Absatz. Sarima sah genau hin. Obwohl es mit ihrer Lesekunst nicht weit her war, staunte sie mit offenem Mund. Die Buchstaben bewegten und verschoben sich auf der Seite, als wären sie plötzlich lebendig geworden. Die Seite schien sich vor ihren Augen für einen anderen Sinn zu entscheiden. Die Buchstaben zogen sich zu einem großen schwarzen Knäuel zusammen. Elphaba blätterte um. »Hier, dieser Abschnitt ist ein Bestiarium.« Auf der Vorder- und Hinteransicht eines Wesens, das offenbar einen Engel darstellte, waren feingezeichnete Figuren in Blutrot und Gold zu sehen, dazu Bemerkungen in Schönschrift über die aerodynamischen Aspekte der Vergeistigung. Die Flügel gingen auf und nieder, und der Engel lächelte mit einer gewissen provokanten Heiligkeit. »Und da steht ein Rezept auf der Seite: ›Von weißfleischigen Äpfeln, mit schwarzer Haut umhüllet: Davon der Magen mit tödlicher Gier sich füllet.‹«
»Jetzt erinnere ich mich an dieses Buch«, sagte Sarima. »Ja, ich weiß wieder, wie es hergekommen ist – ich habe es selbst hierhingestellt. Das hatte ich ganz vergessen. Ach ja, Bücher sind schnell aus den Augen und aus dem Sinn.«
Unter der glatten, unbewegten Stirn schoss Elphaba einen pfeilgeraden Blick auf sie ab. »Erzähle mir davon, Sarima. Bitte.«
Die Fürstinwitwe von Kiamo Ko war nervös. Sie trat an ein kleines Fenster und versuchte es zu öffnen, doch die Eiskruste war zu dick. Also ließ sie sich auf eine Packkiste plumpsen und erzählte Elphaba die Geschichte. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann sie sich zugetragen hatte, auf jeden Fall vor langer Zeit, als alle noch jung und schlank gewesen waren. Der herzallerliebste Fiyero war noch am Leben, aber mit dem Stamm irgendwo im Grasland unterwegs. Wegen Kopfschmerzen war sie ganz allein in der Burg geblieben. Die Glocke an der Zugbrücke ertönte, und sie ging nachsehen, wer es war.
»Madame Akaber«, sagte Elphaba. »Irgendeine kumbrische Hexe.«
»Nein, keine Hexe. Es war ein älterer Mann in einem Mantel, der die Hand einer Näherin dringend nötig gehabt hätte. Er sagte, er sei ein Zauberer, aber vielleicht war er auch bloß verrückt. Er bat darum, etwas zu essen zu bekommen und baden zu dürfen, was ihm gewährt wurde, und daraufhin sagte er, er wolle es mir mit diesem Buch entgelten. Ich erklärte ihm, ich hätte einen Burghaushalt zu führen und keine Zeit für müßigen Zeitvertreib wie Lesen und so weiter. Er meinte, das mache nichts.«
Sarima zog ihre Gewänder fester um sich und verwischte dabei den kalten Staub auf einem Stapel von Kodizes. »Er erzählte mir eine phantastische Geschichte und überredete mich, dieses Ding anzunehmen. Er sagte, es sei eine Schatzgrube des Wissens, und es gehöre eigentlich in eine andere Welt, sei aber dort nicht sicher. Deshalb habe er es hierhergebracht, um es zu verstecken und vor Schaden zu bewahren.«
»So ein Blödsinn«, sagte Elphaba. »Wenn es aus einer anderen Welt käme, dürfte ich nichts davon lesen können. Aber ein bisschen kann ich verstehen.«
»Auch wenn es so magisch ist, wie er sagt?« Sarima war skeptisch. »Wie auch immer, ich habe ihm geglaubt. Er sagte, es gebe mehr Verkehr zwischen den Welten, als man für möglich hielte, und unsere Welt habe gewisse Eigenschaften von seiner und seine von unserer, die Folge einer Art Undichte oder Ansteckung vielleicht. Er hatte einen langen, fransigen weißgrauen Bart und eine sehr freundliche und zerstreute Art, und er roch nach Knoblauch und saurer Sahne.«
»Ein unwiderleglicher Beweis für eine anderweltliche Herkunft.«
»Verspotte mich nicht«, sagte Sarima ruhig. »Du hast mich gebeten zu erzählen, und ich tue dir den Gefallen. Er sagte, das Buch sei zu mächtig, um zerstört zu werden, aber zu bedrohlich – für diese andere Welt –, um dort aufbewahrt zu werden. Also habe er eine magische Reise unternommen oder so ähnlich und sei hergekommen.«
»Kiamo Ko hat ihn gerufen, und er konnte der Lockung nicht widerstehen.«
»Er sagte, wir seien hier abgelegen und gut befestigt«, erzählte Sarima weiter, »und dem konnte ich nicht widersprechen. Und was bedeutete mir schon ein Buch mehr! Wir haben es einfach hier oben zu den übrigen gestellt. Ich weiß nicht einmal, ob ich es jemandem gesagt habe. Dann segnete er mich und ging. Er marschierte mit einem Eichdornstock über den Krampfenpass.«
»Willst du wirklich behaupten, du dachtest, der Mann, der dir dieses Buch gab, wäre ein Zauberer?«, fragte Elphaba. »Und dieses Buch käme aus … einer anderen Welt? Glaubst du etwa an andere Welten?«
»Ich muss mich anstrengen, um an diese hier zu glauben«, sagte Sarima, »und doch scheint es sie zu geben, warum also sollte ich meiner Skepsis in Bezug auf andere Welten trauen? Glaubst du nicht daran?«
»Als Kind habe ich es versucht«, sagte Elphaba. »Ich habe mir Mühe gegeben. Die fadenscheinige, hirnlose, verschwommene Vorstellung der strahlenden Heilswelt, des Anderen Landes, ich habe sie einfach nicht übernehmen können. Heute glaube ich, dass es schlicht unser eigenes Leben ist, was uns verborgen bleibt. Das Geheimnis: Wer ist diese Person da im Spiegel?, ist mir erschreckend und unergründlich genug.«
»Na, jedenfalls war er ein sehr netter Zauberer oder Verrückter oder was weiß ich.«
»Vielleicht war er ein treuer Gefolgsmann des Ozma-Regenten«, überlegte Elphaba, »der hier irgendeinen alten lurlinistischen Traktat versteckt hat. Mit der Hoffnung auf eine Restauration der Monarchie, eine Palastrevolution, und auf das Erwachen der entführten und eingeschläferten Ozma Tippetarius zog er gut getarnt los, um dieses Dokument irgendwo zu verbergen, weit entfernt und doch wieder auffindbar.«
»Du steckst voller Verschwörungstheorien«, sagte Sarima. »Das ist mir schon an dir aufgefallen. Es war ein älterer Herr, ziemlich alt. Und er sprach mit einem Akzent. Er war bestimmt ein wandernder Magier aus einem fernen Land. Und hat er nicht recht gehabt? Das Ding liegt hier schon – wie lange? – zehn Jahre und mehr vergessen herum.«
»Darf ich es mitnehmen und anschauen?«
»Von mir aus. Er hat nichts davon gesagt, dass man es nicht lesen dürfte«, sagte Sarima. »Zu dem Zeitpunkt konnte ich vielleicht noch gar nicht lesen – ich weiß es nicht mehr. Aber sieh dir nur diesen schönen Engel an! Und du glaubst wirklich nicht an das Andere Land? An ein Leben nach dem Tod?«
»Das hat uns gerade noch gefehlt.« Elphaba schnaubte, während sie sich den Wälzer unter den Arm klemmte. »Dass nach diesem Jammertal alles noch mal von vorne anfängt.«
Eines Morgens, nachdem Sechs wieder einmal vergeblich versucht hatte, den Kindern so etwas wie einen Unterricht zu geben, schlug Irji vor, im Haus Verstecken zu spielen. Sie zogen Strohhalme, und da Nor den kürzesten zog, musste sie sich die Augen zuhalten und zählen. Als es ihr zu langweilig wurde, rief sie laut: »Einhundert!« und fing an zu suchen.
Als Ersten schlug sie Liir ab. Obwohl er sonst gern stundenlang allein irgendwohin verschwand, war er ungeschickt im Verstecken, wenn es von ihm verlangt war. Gemeinsam gingen sie auf die Suche nach den älteren Jungen und fanden Irji in Sarimas Solar, hinter das Samttuch geduckt, das vom Sitz eines ausgestopften Greifen zu Boden hing.
Aber Manek, der Geschickteste im Verstecken, war nirgends zu finden. Nicht in der Küche, nicht im Musikzimmer, nicht in den Türmen. Als ihnen gar nichts mehr einfallen wollte, trauten sich die Kinder sogar, in den moderigen Keller zu gehen.
»Von hier führen Tunnel bis zur Hölle«, sagte Irji.
»Wo? Warum?«, fragte Nor, und Liir wiederholte es wie ein Echo.
»Sie sind geheim. Ich weiß nicht, wo sie sind. Aber alle sagen, es gibt sie. Fragt Sechs. Ich glaube deshalb, weil das früher mal eine Wasserwerkszentrale war – wirklich! Die Hölle ist so heiß, dass sie dort Wasser brauchen, und da haben die Teufel einen Tunnel hierher gegraben.«
Nor sagte: »Schau, Liir, da ist der Fischbrunnen!«
In der Mitte eines Gewölbekellers, an dessen steinernen Wänden sich die Feuchtigkeit in dicken Tropfen niederschlug, befand sich ein niedriger Brunnen mit einem hölzernen Deckel. Eine einfache Vorrichtung mit einer Kette und einem Stein diente dazu, den Deckel zur Seite zu schieben. Es war kinderleicht, den Brunnen abzudecken.
»Von dort unten«, sagte Irji, »holen wir die Fische, die wir essen. Niemand weiß, ob da unten ein richtiger See ist oder ob es bodenlos ist oder ob man auf dem Weg direkt zur Hölle kommt.« Er schwenkte das Binsenlicht, und tief unten warf ein schwarzer Wasserkreis ein tanzendes Spiegelbild des kühlen weißen Lichts zurück.
»Sechs sagt, da drin gibt’s einen goldenen Karpfen«, sagte Nor. »Sie hat ihn einmal gesehen. Ein Riesenvieh. Sie dachte, es wäre ein schwimmender Kupferkessel, und dann hat er sich gedreht und zu ihr hochgeschaut.«
»Vielleicht war es ja ein Kupferkessel«, sagte Liir.
»Kessel haben keine Augen«, widersprach Nor.
»Jedenfalls ist Manek nicht hier«, stellte Irji fest. »Oder?« Er rief: »Hallo, Manek!«, und das Echo dröhnte und verhallte in der feuchten Dunkelheit.
»Vielleicht ist Manek durch einen von diesen Tunneln zur Hölle gefahren«, sagte Liir.
Irji schwenkte den Deckel auf den Fischbrunnen zurück. »Du bist, Nor. Ich habe keine Lust, hier unten weiterzusuchen.«
Sie jagten sich gegenseitig Angst ein und rasten wie wild die Treppe hinauf. Vier schrie sie an, weil sie so einen Lärm machten.
Nor fand Manek schließlich auf der Treppe vor der Tür der Tante. »Pst!«, machte er, als sie näherkamen, aber Nor tippte ihn trotzdem an und sagte: »Du bist aus.«
»Pssst!«, wiederholte er energischer.
Abwechselnd schauten sie durch den Spalt in der verwitterten Holztür.
Die Tante hatte den Finger in einem Buch, und sie murmelte etwas vor sich hin, sprach es mal so und mal so aus. Neben ihr auf der Kommode hockte still und gehorsam ein sichtlich beklommener Plapperaff.
»Was macht sie?«, fragte Nor.
»Sie versucht, ihm Sprechen beizubringen«, antwortete Manek.
»Lass mich mal schauen«, sagte Liir.
»Sag ›ich weiß‹!«, forderte die Tante ihn freundlich auf. »Sag ›ich weiß‹! ›Ich weiß‹! ›Ich weiß!‹«
Plapperaff zog das Maul schief, als dächte er darüber nach.
»Es gibt keinen Unterschied«, sagte die Tante zu sich selbst, vielleicht auch zu Plapperaff. »Die Fasern sind gleich, die Stränge sind gleich, der Stein erinnert sich, das Wasser hat ein Gedächtnis, die Luft hat eine Vergangenheit, für die sie zur Rechenschaft gezogen werden kann, die Flamme erneuert sich wie ein Phönix. Aus was besteht ein Tier sonst als aus Stein und Wasser und Feuer und Äther? Erinnere dich, wie man spricht, Plapperaff! Du bist ein Tier, aber die Tiere sind deine nächsten Verwandten, verdammt noch mal! Sag ›ich weiß‹!«
Plapperaff klaubte sich eine Laus von der Brust und verzehrte sie.
»›Ich weiß‹!«, beschwor ihn die Tante. »Du kannst es, ich weiß es. ›Ich weiß‹!«
»Schweiß«, sagte Plapperaff, oder etwas in der Art.
Irji schob Manek beiseite, und die drängelnden Kinder stießen beinahe die Tür auf, weil jeder die Tante lachen, tanzen und singen sehen wollte. Sie nahm Plapperaff auf den Arm, drückte ihn und rief: »Du weißt, ja, du weißt es, Plapperaff! Du kannst es! Sag ›ich weiß‹!«
»Schweiß, Schweiß, Schweiß«, sagte Plapperaff ohne erkennbaren Stolz auf seine Leistung. »Geschmeiß.«
Beim Klang der neuen Stimme wachte Mordefroh aus seinem Mittagsschläfchen auf.
»›Ich weiß‹«, sagte die Tante.
»Schmeiß«, machte Plapperaff geduldig. »Ischbeiß. Speis. Speisspeisspeis. Beschmeiß beweis bescheiß. Verschleiß leis Geleis.«
»›Ich weiß‹«, sagte die Tante. »O Plapperaff, wir schaffen doch noch eine Verbindung zu Doktor Dillamonds Arbeit von damals! Es gibt einen allgemeingültigen Bauplan für uns alle, wir müssen nur tief genug dringen, um ihn zu erkennen! Es ist nicht alles vergeblich! ›Ich weiß‹, mein Freund, ›ich weiß‹!«
»Scheiß«, sagte Plapperaff.
Die Kinder konnten sich vor Lachen nicht mehr halten. Sie polterten die Treppe hinunter, stürmten in das Jungenzimmer und prusteten in die Bettdecken.
Sie sagten Sarima und den Schwestern kein Wort davon, was sie gesehen hatten. Sie befürchteten, der Tante könnte sonst Einhalt geboten werden, und alle wünschten sich, dass Plapperaff gut genug sprechen lernte, um mit ihnen spielen zu können.
Eines windstillen Tages, als alle das Gefühl hatten, dass sie dringend einmal ins Freie mussten, wenn sie nicht vor Langeweile vergehen wollten, kam Sarima auf den Gedanken, sie könnten auf einem nahen Teich Schlittschuhlaufen gehen. Die Schwestern waren einverstanden, und sie gruben die vor sich hin rostenden Schlittschuhe aus, die Fiyero ihnen einmal aus der Smaragdstadt mitgebracht hatte. Die Schwestern machten Karamellbonbons und füllten Flaschen mit Kakao und schmückten sie sogar mit grüngoldenen Bändern, als wollten sie ein zweites Mal die Lurlinalien feiern. Sarima warf sich in ein braunes Samtgewand mit Pelzkragen, die Kinder zogen ein zweites Paar Hosen und Jacken über, und selbst Elphaba kam mit, bekleidet mit einem dicken tiefroten Brokatmantel, schweren arjikischen Ziegenfellstiefeln und Fäustlingen, den Besen unter den Arm geklemmt. Plapperaff schleppte einen Korb mit Dörraprikosen. In praktische Männermäntel verpackt bildeten die Schwestern die Nachhut.
Die Dorfbewohner hatten die Mitte des Teichs vom Schnee freigefegt. Es war eine ballsaalgroße silberne Spiegelfläche, verziert mit tausend schwungvollen Arabesken und rings mit Schneehaufen gesichert, damit Schlittschuhläufer, die vergessen hatten, wie man bremst oder wendet, weich fielen. Im grellen Sonnenschein stachen die Berge rasiermesserscharf gegen das Blau ab. Große Schmuckreiher und Eisgreife kreisten in den Lüften. Die Eisbahn war bereits bevölkert von kreischenden Kleinen und torkelnden Halbwüchsigen (die jede Gelegenheit nutzten, um aufeinanderzupurzeln und sich in zweideutigen Positionen genüsslich zu verknäueln). Ihre Eltern drehten in gemächlicherem Tempo stetige Runden am Rand. Alle verstummten, als die Bewohner von Kiamo Ko sich nahten, aber da Kinder nun einmal Kinder waren, hielt die Stille nicht lange an.
Sarima wagte sich auf das Eis, umgeben vom Haufen ihrer untergehakten Schwestern. Wegen ihrer Fülligkeit befürchtete sie zu stürzen, zumal sie keine kräftigen Fesseln hatte. Doch nach einer Weile wusste sie wieder, wie es ging – erst dieser Fuß, dann jener, lange, langsame Bewegungen –, und das schwierige Nacheinander war vollbracht. Elphaba sah aus wie eine ihrer Krähen: ausgestellte Knie und Ellbogen, flatternde Mantelschöße, um Gleichgewicht fuchtelnde Hände.
Nachdem die Erwachsenen genug Aufregung gehabt hatten (obwohl die Kinder erst noch am Aufwärmen waren), ließen sich Sarima, die Schwestern und Elphaba auf Bärenfelle fallen, die das Dorf indessen für sie ausgebreitet hatte.
»Im Sommer«, erzählte Sarima, »machen wir ein großes Feuer und schlachten ein paar Schweine, bevor die Männer in die Ebene hinuntersteigen und die Jungen mit den Schafen und Ziegen in die höheren Lagen ziehen. Alle kommen auf ein Stück Fleisch und ein paar Humpen Bier in die Burg. Und wenn ein Berglöwe oder ein besonders gefährlicher Bär auftaucht, dürfen sie natürlich hinter die schützenden Mauern kommen, bis die Bestie erlegt ist oder sich trollt.« Sie verzog das Gesicht zu einem huldvollen Lächeln, den Blick auf die Dörfler gerichtet, doch diese ignorierten die Herrschaft inzwischen wieder. »Liebe Tante, du warst ein köstlicher Anblick, wie du eben in diesem Mantel und deinen Besen schwingend dahingesaust bist.«
»Liir sagt, es ist ein magischer Besen«, rief Nor, die angelaufen kam, um ihrer Mutter eine Handvoll körniger Schneeflocken ins Gesicht zu werfen. Elphaba wandte hastig den Kopf ab und zog den Kragen hoch, um nichts von der Schneewolke abzubekommen. Nor ließ ein schadenfrohes melodisches Lachen hören und flitzte davon.
»Erzähl uns doch, wie es kommt, dass dein Besen magisch ist«, sagte Sarima.
»Ich habe nie behauptet, er wäre magisch. Ich habe ihn von einer alten Nonne, die Mutter Schackel hieß. Sie nahm mich unter ihre Fittiche, wenn sie einigermaßen auf dem Posten war, und …, wies mir den Weg, muss ich wohl sagen.«
»Wies dir den Weg«, sagte Sarima.
»Die alte Nonne sagte, der Besen sei das Zeichen meiner Bestimmung«, erzählte Elphaba. »Wahrscheinlich meinte sie damit, dass meine Bestimmung die Hausarbeit ist. Nicht die Magie.«
»Da bist du nicht die Einzige.« Sarima gähnte.
»Ich bin mir nie darüber klargeworden, ob Mutter Schackel komplett wahnsinnig oder eine weise, prophetische Alte war«, fuhr Elphaba fort, doch die anderen hörten schon nicht mehr hin, und sie verstummte.
Nach einer Weile kam Nor wieder an und warf sich ihrer Mutter in den Schoß. »Erzähl mir eine Geschichte, Mama«, sagte sie. »Die Jungen sind gemein.«
»Jungen sind lästige Geschöpfe«, pflichtete ihre Mutter bei. »Manchmal. Soll ich dir erzählen, wie du auf die Welt gekommen bist?«
»Nein, nicht das.« Nor gähnte. »Eine richtige Geschichte. Erzähl mir noch mal das Märchen von der Hexe und den Fuchskindern.«
Sarima wollte nicht, denn sie wusste wohl, dass die Kinder die Tante für eine Hexe hielten. Aber Nor blieb stur, und schließlich gab Sarima nach und erzählte das Märchen. Elphaba lauschte. Ihr Vater hatte ihr Moralvorschriften beigebracht und Vorträge über Verantwortung gehalten, Ämmchen hatte getratscht, Nessarose hatte gequengelt. Aber niemand hatte ihr Geschichten erzählt, als sie klein gewesen war. Sie rutschte ein Stückchen vor, damit sie über das Lärmen ringsum etwas verstehen konnte.
Sarima betete das Märchen ohne große innere Beteiligung herunter, aber dennoch versetzte der Schluss Elphaba einen Stich. »Und dort musste die böse alte Hexe lange, lange bleiben.«
»Ist sie je wieder rausgekommen?« Nors Augen glänzten vor Freude, als sie ihren Spruch aufsagte.
»Bis jetzt nicht«, antwortete Sarima, beugte sich vor und tat so, als wollte sie Nor in den Hals beißen. Nor quiekte und entwand sich und lief zu den Jungen zurück.
»Ich finde es übel, selbst wenn es nur ein Märchen ist, das Böse in irgendeinem Jenseits fortleben zu lassen«, sagte Elphaba. »Alles Jenseitsgerede dient nur dazu, die Leute zu täuschen und einzulullen. Es ist eine Schande, wie sowohl die Unionisten als auch die Heiden uns mit der Hölle einschüchtern und mit dem nebulösen Anderen Land ködern wollen.«
»Hör auf«, sagte Sarima. »Auch deshalb, weil Fiyero dort auf mich wartet. Und das weißt du genau.«
Elphaba blieb der Mund offen stehen. Immer wenn sie am wenigsten damit rechnete, kam Sarima mit einem Überraschungsangriff. »Im Jenseits?«, sagte sie.
»Ach, du bist einfach gegen alles«, sagte Sarima. »Mir tut die Gemeinde im Jenseits jetzt schon leid, die dich einmal aufnehmen soll. Was für ein saurer Apfel!«
7
»Sie ist verrückt«, erklärte Manek fachmännisch. »Jeder weiß, dass man einem Tier nicht Sprechen beibringen kann.«
Sie waren dabei, vom Heuboden der Scheune zu springen, so dass in dem gesprenkelten Licht Heu- und Schneeschwaden aufstoben.
»So? Und was macht sie dann mit Plapperaff?«, fragte Irji. »Wenn du dir da so sicher bist?«
»Sie bringt ihm bei, Sachen nachzusprechen, wie ein Papagei«, sagte Manek.
»Ich glaube, sie ist magisch«, sagte Nor.
»Du, du glaubst doch, dass alles magisch ist«, sagte Manek. »Dumme Trine.«
»Ist es auch.« Mit einem Sprung setzte Nor sich von den Jungen ab und unterstrich damit, was sie von deren Skepsis hielt.
»Glaubst du auch, dass sie magisch ist?«, fragte Manek Liir. »Du kennst sie besser als wir. Sie ist deine Mutter.«
»Sie ist meine Tante, oder?«, sagte Liir.
»Sie ist unsere Tante, sie ist deine Mutter.«
»Jetzt weiß ich’s«, sagte Irji. Er tat so, als fesselte ihn das Thema, um nicht noch einmal springen zu müssen. »Liir ist Plapperaffs Bruder. Liir ist genauso, wie Plapperaff war, ehe er Reden lernte. Du bist ein Affe, Liir.«
»Ich bin kein Affe«, sagte Liir. »Und ich bin nicht verzaubert.«
»Gehen wir doch Plapperaff fragen«, schlug Manek vor. »Ist heute nicht der Tag, wo die Tante bei Mama zum Kaffee ist? Schauen wir mal, ob Plapperaff genug Wörter gelernt hat, um ein paar Fragen zu beantworten.«
Sie rannten die steinerne Wendeltreppe zum Zimmer der Tante Hexe hinauf.
Sie war in der Tat nicht da. Plapperaff knabberte an ein paar Nussschalen, Mordefroh döste am Feuer und knurrte im Schlaf, und die Bienen summten ihr ewiges Lied. Die Kinder mochten Bienen nicht besonders, und Mordefroh war auch nicht ihr bester Freund. Selbst Liir hatte das Interesse an dem Hund verloren, nachdem er Kinder zum Spielen gefunden hatte. Aber Plapperaff mochten sie alle. »Du Süßer, du! Oh, mein kleiner Liebling!«, sagte Nor. »Hier, du kleiner Racker, komm zu Tante Nor!« Der Affe guckte skeptisch, doch dann hoppelte er auf Knöcheln und Füßen durchs Zimmer und sprang in ihre Arme. Er inspizierte ihre Ohren nach Leckereien, lugte über ihre Schultern nach den Jungen.
»Komm, erzähl, Plapperäffchen, kann die Tante Hexe wirklich zaubern?«, sagte Nor. »Erzähl uns alles über die Tante Hexe.«
»Heg se, heg se«, sagte Plapperaff und spielte dabei mit den Fingern. »Hätt se Hickse, Hexe?« Es klang wie eine Frage, zumal er dabei die Stirn in Falten legte.
»Bist du verhext?«, fragte Manek.
»Frägst Text, v’rhext«, antwortete Plapperaff. »V’rreckst!«
»Welchen Text fragen? Ist es gefährlich?«, hakte Irji nach, der zwar der Älteste war, aber genauso gebannt wie die anderen. »Können wir dich so wieder zum Menschen machen?«
»Männchen manschen«, sagte Plapperaff. »Manche Maschen. Mädchen matschen.«
»Igitt!«, sagte Nor, die sich angesprochen fühlte. Sie streichelte ihn. »Sag uns lieber, was wir tun sollen. Und ob uns dabei Gefahr droht.«
»Droht Tod«, sagte Plapperaff.
»Toll«, sagte Irji. »Das heißt, wir können dich nicht zurückverwandeln?«
»Er brabbelt nur dummes Zeug«, sagte Elphaba, die plötzlich in der Tür stand. »Sieh mal an, ich habe unangemeldeten Besuch.«
»Oh, hallo, Tante«, sagten sie. Sie wussten, dass sie nicht dort sein durften. »Er spricht ein bisschen mit uns. Er ist verzaubert.«
»Meistens wiederholt er bloß, was man ihm vorsagt.« Elphaba trat auf sie zu. »Lasst ihn in Ruhe! Ihr habt hier nichts zu suchen.«
Sie sagten: »Entschuldigung« und gingen. Unten im Jungenzimmer warfen sie sich auf die Matratze und brüllten, bis ihnen die Tränen kamen. Sie hätten nicht sagen können, was so komisch war. Vielleicht waren sie einfach froh, dass sie ohne Strafe aus dem Zimmer der Hexe entkommen waren, obwohl sie gegen ein Verbot verstoßen hatten. Die Kinder entschieden, dass sie keine Angst mehr vor der Tante Hexe hatten.
8
Sie waren es leid, nicht aus dem Haus zu kommen, aber schließlich regnete es draußen, statt zu schneien. Sie spielten viel Verstecken und warteten darauf, dass der Regen abzog, damit sie hinauskonnten.
Eines Morgens war Nor wieder mit Suchen dran. Sie entdeckte Manek jetzt leicht, weil Liir sich immer in seiner Nähe versteckte und ihn so verriet. Manek riss der Geduldsfaden. »Ständig werde ich geschnappt, weil du dich so dämlich anstellst«, murrte er vor sich hin. »Kannst du dich nicht mal verstecken, wo sie dich nicht erwischen.«
Liir hatte nicht richtig zugehört. »Ich kann mich nicht bei den Fischen verstecken«, sagte er.
»O doch, dass kannst du!« Manek war sofort Feuer und Flamme.
Als die nächste Runde begann, ging Manek mit Liir die Kellertreppe hinunter. Der Keller war noch feuchter als sonst, weil das Grundwasser durch die Bodenritzen drang. Als sie den Deckel vom Fischbrunnen abnahmen, sahen sie, dass der Wasserpegel gestiegen war. Aber bis unten waren es immer noch vier, fünf Meter.
»Das kommt gut hin«, sagte Manek. »Schau, wenn wir das Seil über diesen Haken führen, wackelt der Eimer kaum, und du kannst einsteigen. Wenn ich dann die Kurbel löse, wird der Eimer langsam am Brunnenrand nach unten sinken. Ich halte ihn an, bevor er das Wasser erreicht, keine Bange. Dann mache ich den Deckel wieder drauf, und Nor wird sich dumm und dämlich suchen. Die findet dich nie.«
Liir spähte in den nassen Schacht. »Und wenn da Spinnen sind?«
»Spinnen mögen kein Wasser«, erklärte Manek entschieden. »Mach dir wegen Spinnen keine Gedanken.«
»Warum machst du es nicht?«
»Du bist nicht stark genug, um mich abzulassen, deshalb«, sagte Manek geduldig.
»Versteck dich nicht so weit weg«, sagte Liir. »Lass mich nicht zu weit ab. Mach den Deckel nicht ganz zu. Ich mag es nicht, wenn es dunkel ist.«
»Du hast immer was zu maulen«, sagte Manek, während er ihm einsteigen half. »Deshalb mögen wir dich nicht, verstehst du?«
»Alle sind gemein zu mir«, sagte Liir.
»Hock dich jetzt hin. Halt dich mit beiden Händen an den Seilen fest. Wenn der Eimer an der Wand scheuert, stoß dich einfach ab. Ich lasse ihn langsam runter.«
»Wo versteckst du dich?«, fragte Liir. »Hier unten gibt es sonst kein Versteck.«
»Ich verstecke mich unter der Treppe. Da im Dunkeln findet sie mich nie. Nor kann Spinnen nicht ausstehen.«
»Du hast gesagt, es gäbe hier keine Spinnen!«
»Sie glaubt, es gäbe welche«, sagte Manek. »Eins, zwei, drei. Das war wirklich eine gute Idee, Liir. Du bist so tapfer.« Er ächzte vor Anstrengung. Liir war in dem Eimer schwerer, als er gedacht hatte, und das Seil spulte sich zu rasch ab. Es verklemmte sich zwischen Winde und Halterung, und der Eimer stockte und krachte mit einem dumpf hallenden Schlag gegen die Wand.
»Das war zu schnell«, tönte Liirs Stimme gespenstisch von unten herauf.
»Ach, sei keine Memme«, sagte Manek. »Und jetzt still, ich tu den Deckel ein Stück weit wieder drauf, damit sie keinen Verdacht schöpft. Mach ja keinen Mucks!«
»Ich glaube, hier unten sind Fische.«
»Natürlich, es ist ein Fischbrunnen.«
»Ich bin furchtbar nahe am Wasser dran. Springen die?«
»Na klar springen die, und sie haben scharfe Zähne, du Schisser, und auf dicke kleinen Jungen haben sie es besonders abgesehen«, sagte Manek. »Natürlich springen sie nicht. Würde ich dich etwa in so eine Gefahr bringen, wenn sie springen würden? Du traust mir echt überhaupt nicht, stimmt’s?« Er seufzte, als wäre er maßlos enttäuscht, und als der Deckel doch ganz zuglitt und nicht nur ein Stück weit, registrierte er nüchtern, dass Liir zu beleidigt war, um zu maulen.
Manek versteckte sich ein Weilchen unter der Treppe. Als Nor nicht auftauchte, beschloss er, dass hinter dem Altarbehang in der alten Kapelle ein noch besseres Versteck wäre. »Bin gleich wieder da, Liir«, zischte er, doch da Liir keine Antwort gab, wollte er wohl, vermutete Manek, weiter den Gekränkten spielen.
Sarima hatte sich ausnahmsweise einmal in die Küche verirrt und versuchte sich an einem Eintopf von schlaffem Gemüse aus dem Vorratskeller. Die Schwestern veranstalteten im Musikzimmer darüber eine private Tanzmatinee. »Hört sich an wie eine Herde Elefanten«, sagte Sarima, als die Tante auf der Suche nach einem Happen zu essen hereinkam.
»Ich hatte nicht erwartet, dich hier anzutreffen«, sagte Elphaba. »Ich muss mich nämlich über deine Kinder beschweren.«
»Die lieben kleinen Wüstlinge, was jetzt wieder?«, sagte Sarima, während sie rührte. »Haben sie dir Spinnen ins Bett getan?«
»Spinnen würden mich nicht stören. Die könnten die Krähen fressen. Nein, Sarima, die Kinder wühlen in meinen Sachen herum, sie quälen Plapperaff unbarmherzig, und sie hören nicht, wenn ich mit ihnen rede. Kannst du nicht etwas unternehmen?«
»Was soll ich schon unternehmen?«, sagte Sarima. »Hier, probier mal diese Steckrüben. Sind die noch gut?«
»Nicht mal Mordefroh würde die anrühren«, befand Elphaba. »Bleib lieber bei den Mohrrüben. Ich finde, deine Kinder sind ungezogen, Sarima. Sollten sie nicht auf die Schule geschickt werden?«
»O ja, in einem besseren Leben gewiss, aber wie soll das hier gehen?«, entgegnete ihre Mutter seelenruhig. »Ich habe dir ja gesagt, dass sie wandelnde Zielscheiben für Stammesgenossen mit Herrscherambitionen sind. Es ist schon riskant genug, sie im Sommer an den Hängen um Kiamo Ko herumlaufen zu lassen. Ich muss immer damit rechnen, dass jemand sie mit durchgeschnittenen Kehlen findet und mir zur Beerdigung heimbringt. Das ist der Preis der Witwenschaft, Tante. Wir müssen uns durchschlagen, so gut wir können.«
»Ich war ein braves Kind«, sagte Elphaba mit Nachdruck. »Ich habe mich um meine kleine Schwester gekümmert, die von Geburt an schwer behindert war. Ich habe meinem Vater gehorcht – und meiner Mutter, bis sie starb. Ich bin als Missionarskind herumgezogen und habe Zeugnis für den Namenlosen Gott abgelegt, obwohl ich im Grunde nicht an ihn glaubte. Ich war gehorsam, und ich glaube nicht, dass es mir geschadet hat.«
»Was hat dir dann geschadet?«, fragte Sarima schlagfertig.
»Du willst nicht hören«, sagte Elphaba, »da kann ich mir alles weitere Reden sparen. Aber warum auch immer, deine Kinder sind ungezogen. Ich halte nichts von deiner laxen Erziehung.«
»Ach, im Herzen sind alle Kinder gut.« Sarima schabte eifrig die Mohrrüben. »Sie sind so unschuldig und fröhlich. Es heitert mich auf, wenn ich sie spielend durchs Haus tollen sehe. Nur zu schnell werden diese schönen Tage vorbei sein, liebe Tante, und dann werden wir uns nach der Zeit zurücksehnen, als das Haus noch widerhallte von kindlichem Gelächter.«
»Kinder sind von Natur aus gut«, erklärte Sarima entschieden und mit wachsender Begeisterung für das Thema. »Du hast doch sicher von der kleinen Ozma gehört, die vor vielen Jahren vom Zauberer verschleppt wurde, nicht wahr? Es heißt, dass sie irgendwo in einer Höhle eingefroren ist, vielleicht sogar in den Kallen, wer weiß. Dort lebt sie in kindlicher Unschuld fort, weil der Zauberer nicht den Mut hat, sie umzubringen. Eines Tages wird sie zurückkehren und über Oz herrschen, und sie wird die beste und weiseste Herrscherin sein, die wir je hatten, weil sie die Weisheit der Jugend besitzt.«
»Ich habe noch nie an kindliche Retter der Welt geglaubt«, sagte Elphaba. »Meiner Meinung nach sind die Kinder diejenigen, die gerettet werden müssen.«
»Du ärgerst dich einfach, weil die Kinder so lebendig sind.«
»Deine Kinder sind böse kleine Teufel«, sagte Elphaba hocherregt.
»Meine Kinder sind nicht böse, und weder meine Schwestern noch ich waren böse Kinder.«
»Deine Kinder sind nicht brav«, sagte Elphaba.
»Und wie beurteilst du dann Liir, was das betrifft?«
»Ach, Liir«, sagte Elphaba, schnitt eine Grimasse und machte mit Mund und Händen pfff. Sarima wollte gerade nachbohren – die Sache interessierte sie schon seit langem –, als Drei in die Küche gestürzt kam.
»Die Pässe unter uns müssen früher als sonst wieder frei sein«, sagte sie, »denn wir haben eine Karawane gesichtet, die sich von Norden über den Krampfenpass kämpft. Sie wird morgen hier sein.«
»Na, großartig«, sagte Sarima, »und die Burg ein einziger Saustall. Immer dasselbe! Warum lernen wir nie daraus? Rasch, ruf die Kinder zusammen, dann machen wir uns daran, alles herzurichten. Man weiß nie, Tante, ob nicht jemand Besonderes kommt. Man muss vorbereitet sein.«
Manek, Nor und Irji kamen von ihrem Spiel angelaufen. Drei erzählte ihnen die Neuigkeit, und sie mussten sofort auf den höchsten Turm flitzen, um im nachlassenden Regen mit eigenen Augen zu sehen, was zu sehen war, und mit Schürzen und Taschentüchern zu winken. Ja, es war eine Karawane. Fünf oder sechs Schnarken und ein kleiner Wagen pflügten sich durch Schnee und Schlamm, überquerten mühsam die Furt eines Baches, hielten an, um ein gebrochenes Rad zu reparieren, hielten an, um die Schnarken zu füttern. Es war eine tolle Abwechslung, und während sie bei Tisch ihren Eintopf löffelten, schwadronierten die Kinder unentwegt darüber, was für überraschende Gäste die Karawane wohl bringen mochte. »Sie haben nie aufgehört zu hoffen, dass ihr Vater eines Tages heimkehrt«, flüsterte Sarima Elphaba zu. »Diese Aufregung kommt von der Hoffnung, auch wenn ihnen das gar nicht bewusst ist.«
»Wo ist Liir?«, fragte Vier. »Er versäumt einen köstlichen Eintopf, wenn er nicht rechtzeitig erscheint. Falls er hinterher angequengelt kommt, kriegt er keinen mehr. Kinder, wo ist Liir?«
»Vorhin hat er noch mit uns gespielt. Vielleicht ist er eingeschlafen«, sagte Irji.
»Kommt, wir machen ein großes Feuer und senden den Reisenden zur Begrüßung ein Rauchzeichen«, rief Manek und sprang vom Tisch auf.
9
Zur Mittagszeit des nächsten Tages nahmen die Schnarken und der Wagen den letzten, schwierigen Anstieg zur Burg mit ihrem Jaspis- und Eichentor in Angriff. Die Dörfler kamen aus ihren Hütten und stemmten sich mit aller Kraft hinter den Wagen, damit er durch die tiefen Schlamm- und Eisfurchen kam und schließlich über die heruntergelassene Zugbrücke rumpelte. Elphaba, deren Neugier genauso geweckt war wie die aller anderen, stand mit der Fürstinwitwe der Arjikis und ihren Schwestern auf der Mauer über dem klobigen Eingangstor. Die Kinder warteten unten im gepflasterten Hof, alle außer Liir.
Der Anführer, ein grauhaariger junger Mann, deutete eine Verbeugung vor Sarima an. Die Schnarken entleerten sich mit geräuschvollem Pladdern auf dem Kopfsteinpflaster – sehr zum Vergnügen der Kinder, die vorher noch nie Schnarkenfladen gesehen hatten. Dann trat der Anführer an den Wagen, öffnete die Tür und stieg hinein. Sie hörten, wie er die Stimme erhob, als redete er mit jemand Schwerhörigem.
Sie warteten. Der Himmel war strahlend blau, beinahe frühlingshaft, und die Eiszapfen hingen als gefährliche Dolche an den Traufen und schmolzen vor sich hin. Die Schwestern zogen alle den Bauch ein und verwünschten das über den Hunger verzehrte Stück Lebkuchen, die gesüßte Sahne im Kaffee, und gelobten Besserung. Bitte, liebe Lurlina, mach, dass es ein Mann ist!
Der Karawanenführer kam wieder heraus und bot jemandem hilfreich die Hand. Aus dem Wagen stieg eine alte, steifknochige Gestalt in tristem dunklen Rock und einer – selbst für provinzielle Maßstäbe – grauenhaft altmodischen Haube.
Elphaba jedoch beugte sich vor, Kinn und Nase spitzer denn je, und schnüffelte wie ein Hund. Die Besucherin drehte sich um, und die Sonne schien ihr ins Gesicht.
»Das gibt’s nicht«, hauchte Elphaba. »Es ist meine alte Amme!« Und eilends verließ sie die Mauer, um die alte Frau in die Arme zu schließen.
»Eine menschliche Regung, wer hätte das gedacht?«, sagte Vier naserümpfend. »Das hätte ich ihr niemals zugetraut.« Denn die Tante schluchzte beinahe vor Glück.
Der Karawanenführer wollte nicht zum Essen bleiben, aber Ämmchen mit ihren Koffern und Truhen hatte offensichtlich nicht vor, weiterzufahren. Sie bezog ein kleines Zimmer direkt unter dem von Elphaba und brauchte nach Art alter Leute endlos lange für ihre Toilette. Als sie sich endlich für gesellschaftsfähig hielt, wurde das Essen serviert. Ein angegangen schmeckendes altes Huhn, mehr Sehnen als Fleisch, lag in einer dünnen Pfeffersoße auf einer der guten Platten. Die Kinder waren festtäglich gekleidet und durften dieses eine Mal im Saal mitessen. Ämmchen kam an Elphabas Arm und ließ sich zu ihrer Rechten nieder. Weil dieser Besuch der Tante galt, hatten die Schwestern ihren Serviettenring freundlicherweise an das untere Ende der Tafel gelegt, gegenüber von Sarima, obwohl es Brauch war, diesen Platz zu Ehren des armen toten Fiyero freizulassen. Das war ein großer Fehler, und sie erkannten es beinahe augenblicklich, denn Elphaba gab diesen Ehrenplatz fürderhin nicht mehr auf. Aber erst einmal überboten sich alle mit warmem Lächeln und herzlicher Gastlichkeit. Das einzige kleine Ärgernis (abgesehen davon, dass Ämmchen nicht als junger Fürstensohn auf Brautschau gelten konnte) war, dass Liir weiterhin sein bockiges Versteckspiel trieb. Die Kinder wussten nicht, wo er sich aufhielt.
Ämmchen war eine müde, versponnene alte Frau, die Haut so rissig wie ausgedörrte Seife, die Haare dünn und gelblich weiß, die Adern an den Händen vorstehend wie die Schnüre um einen arjikischen Ziegenkäse. Mit japsender Stimme und vielen Pausen zum Atemholen und Überlegen berichtete sie, sie habe in der Smaragdstadt über jemanden namens Krapp erfahren, dass ihre einstige Schutzbefohlene Elphaba im Kloster der heiligen Glinda vor den Toren der Stadt einen gewissen Timmel in seinen letzten Tagen gepflegt hatte. Seit langen Jahren hatte niemand aus der Familie mehr etwas von Elphaba gehört, und irgendwann hatte Ämmchen beschlossen, sich auf die Suche nach ihr zu machen. Die Nonnen wollten zuerst nichts preisgeben, aber Ämmchen war hartnäckig geblieben, und dann hatte sie gewartet, bis eine Karawane zum Aufbruch rüstete. Die Nonnen hatten ihr von Elphabas Anliegen in Kiamo Ko erzählt, und Ämmchen hatte für das Frühjahr einen Wagenplatz gebucht. Und jetzt war sie hier.
»Und was ist in der Welt so los?«, erkundigte sich Zwei neugierig vor allen anderen.
»Was soll da los sein?«, sagte Ämmchen.
»Politik, Wissenschaft, Mode, Kunst, die neuesten Entwicklungen!«, sagte Zwei.
»Nun ja, unser großmächtiger Zauberer hat sich selbst zum Kaiser gekrönt«, sagte Ämmchen. »Wusstet ihr das nicht?«
Woher sollten sie? »Wer hat ihn dazu ermächtig?«, fragte Fünf missbilligend. »Und außerdem: Kaiser wovon?«
»Es gibt niemand Höheren, der ihn dazu ermächtigen könnte, war seine Begründung«, antwortete Ämmchen gelassen. »Wer könnte dem widersprechen? Wenn jemand Titel verleiht, dann er. Er hat sich einfach einen weiteren an die eigene Brust geheftet. Aber wovon er Kaiser ist, kann ich nicht sagen. Einige Leute flüstern etwas von expansionistischen Bestrebungen. Aber wohin er expandieren könnte? – keine Ahnung, wirklich nicht. In die Wüste? In die Nachbarländer, nach Quox oder Ix oder Fliaan?«
»Oder will er vielleicht Gebiete, die ihm bis jetzt nur lose unterstehen, mit härterer Hand regieren?«, fragte Elphaba. »Den Winkus zum Beispiel?« Ein Schmerz durchzuckte sie wie von einer alten Wunde tief in der Brust.
»Niemand ist besonders glücklich darüber«, sagte Ämmchen. »Es finden Zwangsaushebungen statt, und die Sturmtruppe wird bald stärker sein als die Königliche Armee. Man weiß nicht, ob es einen internen Machtkampf geben könnte, und der Zauberer rüstet sich gegen einen möglichen Putschversuch. Wie sollen wir in solchen Dingen Partei ergreifen? Alte Frauen, die wir sind?« Mit einem Lächeln in die Runde bezog sie alle ein. Die Schwestern und Sarima erwiderten den Blick so jugendlich funkelnd wie möglich.
10
Der nächste Tag brach praktisch gar nicht an, sondern verhängte sich mit Regen und einer düsteren Wolkendecke.
Während sie im Salon darauf warteten, dass Ämmchen sich zeigte und ihrer Unterhaltungspflicht nachkam, besprachen die Schwestern und Sarima untereinander, was sie Neues über die bei ihnen gastierende Tante erfahren hatten. »Elphaba«, sinnierte Zwei. »Eigentlich ein ganz hübscher Name. Woher kommt er?«
»Ich weiß es«, sagte Fünf, die früher einmal eine religiöse Phase durchlaufen hatte, als ihr klarwurde, dass die Heiratsaussichten schwanden. »Ich hatte einmal einen Heiligenkalender. St. Aelphaba vom Wasserfall – sie war eine munchkinsche Mystikerin vor sechs- oder siebenhundert Jahren. Kennt ihr die Geschichte nicht? Sie wollte nur beten, doch sie war von einer solchen Schönheit, dass die Männer nicht aufhörten, ihr Anträge zu machen.«
Sie seufzten alle.
»Um ihr frommes Leben führen zu können, ging sie mit ihren heiligen Schriften und einer einzigen Traube Weinbeeren in die Wildnis. Wilde Tiere bedrohten sie, und wilde Männer stellten ihr nach, und sie war in arger Bedrängnis. Da kam sie an einen großen Wasserfall, der eine Steilwand hinunterrauschte. ›Das ist meine Höhle‹, sagte sie, legte alle Kleider ab und schritt geradewegs durch die niederdonnernde Wasserwand. Dahinter befand sich eine vom Wasser ausgewaschene Höhle. Dort setzte sie sich hin, und in dem spärlich durchdringenden Licht las sie ihr heiliges Buch und sann über geistliche Dinge nach. Hin und wieder aß sie eine Weinbeere. Als sie die Beeren schließlich aufgegessen hatte, kam sie wieder aus der Höhle hervor. Jahrhunderte waren vergangen. Am Ufer des Flusses war ein Dorf entstanden, und sogar ein Mühlwehr war in der Nähe. Die Leute wichen entsetzt vor ihr zurück, denn als Kinder hatten sie alle in der Höhle hinter dem Wasserfall gespielt, Verliebte hatten sich dort zum Stelldichein getroffen, Morde und Missetaten waren dort verübt worden, Schätze waren dort vergraben worden, und nie hatte irgendjemand St. Aelphaba in ihrer nackten Schönheit erblickt. Aber die Heilige musste nur den Mund aufmachen und sie in der alten Sprache anreden, und schon wussten alle, dass sie es sein musste, und sie bauten ihr zu Ehren eine Kapelle. Sie segnete die Kinder und die Alten, sie nahm den mitten im Leben Stehenden die Beichte ab, und sie heilte Kranke und speiste Hungernde, und dann verschwand sie mit einer neuen Weintraube wieder hinter dem Wasserfall. Die war diesmal noch größer. Und seitdem hat niemand sie je wieder zu Gesicht bekommen.«
»Es kann also doch sein, dass jemand verschwindet und nicht tot ist«, sagte Sarima und sah ein wenig verträumt zum Fenster hinaus in den Regen.
»Wenn man eine Heilige ist«, betonte Zwei.
»Wenn man dran glauben will«, sagte Elphaba, die gegen Ende der Geschichte in den Salon getreten war. »Die wiederaufgetauchte St. Aelphaba könnte genauso gut ein leichtlebiges Mädchen aus der Stadt gewesen sein, die den leichtgläubigen Bauern einmal einen ordentlichen Streich spielen wollte.«
»Wenn du nur jede Hoffnung zunichte machen kannst mit deiner ewigen Zweifelsucht«, sagte Sarima und winkte ab. »Wirklich, Tante, du machst mich manchmal völlig fertig.«
»Ich fände es schön, dich Elphaba zu nennen«, sagte Sechs, »weil es so eine schöne Geschichte ist. Und es ist nett, deinen richtigen Namen von Ämmchens Lippen zu hören.«
»Untersteh dich!«, sagte Elphaba. »Wenn Ämmchen nicht anders kann, sei’s drum, sie ist alt und kann sich nicht mehr umstellen. Aber ihr nicht.«
Sechs schob die Lippen vor, als wollte sie widersprechen, doch da erscholl von unten lautes Schrittegetrappel, und Nor und Irji platzten ins Zimmer.
»Wir haben Liir gefunden!«, riefen sie. »Kommt mit, wir glauben, er ist tot! Er ist in den Fischbrunnen gefallen.«
Sie eilten alle die Treppe hinunter in den Keller. Gefunden hatte ihn Plapperaff. Der Schneeaffe hatte die Nase gerümpft, als er mit den Jungen am Fischbrunnen vorbeigekommen war, und er hatte gekeckert und gewinselt und an dem schweren Deckel gezerrt. Nor und Irji waren auf die Idee gekommen, ihn im Eimer hinunterzulassen, aber als sie den Deckel zur Seite schoben, hatte der fahle Lichtschein auf bleichem menschlichen Fleisch ihnen einen furchtbaren Schreck eingejagt.
Manek kam angerannt, als er die Ausrufe seiner Mutter und der anderen am Brunnen hörte. Sie zogen Liir nach oben. Durch das andauernde Tauwetter und den vielen Regen war das Wasser gestiegen. Liir war aufgedunsen wie eine Wasserleiche. »Ach, da hat er also gesteckt«, sagte Manek mit einer merkwürdigen Stimme. »Stimmt, er hat mal gesagt, dass er in den Fischbrunnen hinunter wollte.«
»Geht weg, Kinder, ihr solltet das nicht sehen. Geht nach oben!«, sagte Sarima streng. »Auf jetzt, gehorcht! Weg mit euch!« Sie wussten nicht, womit sie es zu tun hatten, und sie trauten sich nicht, allzu genau hinzuschauen.
»Ich kann’s gar nicht fassen, das ist so schrecklich«, sagte Manek aufgeregt, und Elphaba warf ihm einen scharfen, hasserfüllten Blick zu.
»Gehorch deiner Mutter!«, fuhr sie ihn an, und Manek schnitt eine Grimasse, doch dann stapften er und Irji und Nor die Treppe hinauf und scharten sich oben um die offene Tür, um zu lauschen und zu lugen.
»Wer kennt sich mit Heilkunst aus? Du, Tante, nicht wahr?«, sagte Sarima. »Rasch jetzt, es ist vielleicht noch nicht zu spät. Du kennst dich doch damit aus, es stimmt doch, du hast Biowissenschaft studiert! Was ist zu tun?«
»Irji, geh Ämmchen holen, sag ihr, wir haben einen Notfall!«, schrie Elphaba. »Wir tragen ihn in die Küche hinauf. Vorsichtig! Nein, Sarima, ich weiß nicht genug.«
»Wende doch deine Zaubersprüche an, deine Magie!«, rief Fünf.
»Hol ihn ins Leben zurück!«, beschwor Sechs sie, und Drei fügte hinzu: »Du kannst es! Du darfst dich jetzt nicht mehr zieren und heimlichtun!«
»Ich kann es eben nicht«, sagte Elphaba, »ich kann’s nicht! Ich habe kein Talent für die Zauberei! Nie gehabt! Das war nur eine fixe Idee von Madame Akaber, gegen die ich mich immer gewehrt habe!« Die sechs Schwestern sahen sie befremdet an.
Irji geleitete Ämmchen in die Küche, Nor brachte den Besen, Manek brachte das Grimorium, und die Schwestern und Sarima schleppten Liirs triefenden und aufgedunsenen Körper und legten ihn auf den Küchentisch. »So, wen haben wir denn da?«, murmelte Ämmchen, ging aber sofort daran, Beine und Arme auf und ab zu bewegen, und wies Sarima an, auf den Unterleib zu drücken.
Elphaba blätterte hektisch im Grimorium. Sie verzog das Gesicht, schlug sich mit den Fäusten an den Kopf und jammerte: »Aber ich habe keinerlei eigene Erfahrung mit einer Seele! Wie soll ich seine finden, wenn ich nicht weiß, wie eine aussieht?«
»Er ist noch dicker als sonst«, bemerkte Irji.
»Wenn man ihm mit einem Strohhalm vom magischen Besen die Augen aussticht, kommt seine Seele wieder«, sagte Manek.
»Ich frage mich, warum er in den Fischbrunnen gestiegen ist«, sagte Nor. »Ich würde das nie tun.«
»Heilige Lurlina, erbarme dich unser!«, sagte Sarima weinend, und die Schwestern begannen, das Totenamt zu murmeln und dem Namenlosen Gott das entflohene Leben anzubefehlen.
»Das Ämmchen kann nicht alles alleine machen«, schimpfte Ämmchen. »Elphaba, hilf doch mal mit! Du bist genau wie deine Mutter in einer Krise! Leg deinen Mund auf seinen und blase ihm Luft in die Lungen! Los!«
Elphaba wischte Liirs teigiges Gesicht mit dem Ärmel ab. Stellen, die sie eindrückte, blieben so. Sie zog eine Grimasse und hätte sich fast erbrochen, dann spuckte sie in einen Eimer, presste ihren Mund auf den des Jungen und blies ihren eigenen säuerlichen Atem in dessen säuerlich riechende Luftröhre. Ihre Finger verkrallten sich an den Tischkanten wie in Ekstase. Plapperaff atmete mit ihr aus, Luftstoß um Luftstoß.
»Er riecht nach Fisch«, wisperte Nor.
»Wenn man so aussieht, wenn man ertrinkt, dann verbrenne ich lieber«, meinte Irji.
»Ich sterbe gar nicht«, sagte Manek, »und niemand kann mich dazu zwingen.«
Plötzlich begann Liir zu würgen. Zuerst hielten sie es für eine unwillkürliche Reaktion, Luft von Elphaba, die sich irgendwo gesammelt hatte und jetzt wieder ausgestoßen wurde. Dann kam ein kleiner Strom gelblichen Schnodders. Liirs Lider flatterten, und seine Hand zuckte unwillkürlich.
»O lieber Himmel«, raunte Sarima. »Ein Wunder! Danke, Lurlina! Gesegnet sollst du sein!«
»Wir sind noch nicht über den Berg«, sagte Ämmchen. »Er kann immer noch an Unterkühlung sterben. Rasch jetzt, herunter mit seinen Sachen!«
Den Kindern bot sich das unwürdige Schauspiel erwachsener Frauen, die dem dummen Liir Hemd und Hose vom Leib zerrten. Sie rieben ihn von oben bis unten mit Schmalz ein. Das löste in den Kindern Kicheranfälle aus, und Irji hatte zum ersten Mal im Leben ein ganz merkwürdiges Gefühl in der Hose. Dann wickelten sie Liir in eine Wolldecke ein, die sofort völlig besudelt war, und machten Anstalten, ihn ins Bett zu stecken.
»Wo schläft er?«, fragte Sarima.
Alle sahen sich an. Die Schwestern sahen Elphaba an, und Elphaba sah die Kinder an.
»Och, manchmal bei uns im Zimmer auf dem Boden, manchmal bei Nor«, sagte Manek.
»Er will immer bei mir im Bett schlafen, aber ich stoße ihn raus«, sagte Nor. »Er ist zu dick, da wäre kein Platz mehr für mich und meine Puppen.«
»Er hat nicht einmal ein Bett?« Sarima musterte Elphaba kalt.
»Was fragst du mich? Das ist dein Haus«, erwiderte diese.
Da regte sich Liir und sagte: »Die Fische haben mit mir geredet. Ich habe mit den Fischen geredet. Der Goldfisch hat mit mir geredet. Er hat gesagt, er –«
»Still, mein Kleiner!«, sagte Ämmchen. »Dafür ist ein andermal Zeit.« Sie musterte die Frauen und Kinder in der Küche finster. »Es sollte eigentlich nicht die Sache des Ämmchens sein, ein ordentliches Bett für ihn zu finden, aber wenn er sonst keins bekommt, nehme ich ihn mit auf mein Zimmer und schlafe selbst auf dem Boden!«
»Auf keinen Fall! Was für ein Gedanke!«, wehrte Sarima ab und lief voraus.
»Barbaren, allesamt!«, schimpfte Ämmchen.
Was ihr niemand in Kiamo Ko jemals verzieh.
Sarima stellte die Tante für das, was Liir widerfahren war, streng zur Rede. Elphaba versuchte sich damit zu entschuldigen, dass sie nichts getan hatte, dass es nicht ihre Schuld war. »Es war irgendein Jungenstreich, ein Spiel, eine Mutprobe«, sagte sie. Als sie sich gegenseitig genug Beschuldigungen an den Kopf geworfen hatten, fingen sie an, über die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen zu reden.
Sarima erzählte der Tante, was sie vom Initiationsritus der Jungen wusste. »Sie werden irgendwo draußen im Grasland ausgesetzt, nur mit einem Lendenschurz und einem Musikinstrument. Sie sollen Geister und Tiere aus der Nacht herbeirufen, sich mit ihnen bereden, von ihnen lernen, sie beschwichtigen, wenn sie beschwichtigt werden müssen, sie bekämpfen, wenn sie bekämpft werden müssen. Wer in einer solchen Nacht stirbt, besitzt eindeutig nicht die Einsicht zu entscheiden, ob sein Gegenüber bekämpft oder beschwichtigt werden muss. Es ist daher richtig, dass er jung stirbt und dem Stamm mit seiner Unfähigkeit nicht zur Last fällt.«
»Was erzählen die Jungen von den Geistern, die ihnen nahen?«, fragte die Tante.
»Jungen erzählen im Allgemeinen sehr wenig, zumal über die Geisterwelt«, antwortete Sarima. »Trotzdem schnappt man natürlich dies und das auf. Und ich glaube, einige der Geister sind sehr hartnäckig, sehr zermürbend, sehr stur. Im gängigen Verständnis sollte es Konflikt, Feindschaft, Kampf geben, aber ich frage mich, ob ein Junge, der mit Geistern in Berührung kommt, nicht eher einen ordentlichen Schuss kalten Zorn bräuchte.«
»Kalten Zorn?«
»O ja. Kennst du die Unterscheidung nicht? Bei uns erzählen die Mütter ihren Kindern immer, dass es zweierlei Zorn gibt: heißen und kalten. Jungen und Mädchen kennen beide, aber wenn sie älter werden, teilt sich der Zorn nach den Geschlechtern auf. Jungen brauchen heißen Zorn, um zu überleben. Sie brauchen den Drang, zu kämpfen, den Trieb, das Messer ins Fleisch zu stoßen, die Kraft und das jähe Feuer der Wut. Das ist etwas, was die Jagd verlangt, die Verteidigung, der Stolz. Vielleicht auch der Sex.«
»Ja, ich weiß«, sagte Elphaba und erinnerte sich.
Sarima errötete und blickte unglücklich, fuhr aber fort: »Und Mädchen brauchen kalten Zorn. Sie brauchen das kalte Gären, den dauernden Groll, die Unversöhnlichkeit, die Kompromisslosigkeit. Wenn sie etwas sagen, müssen sie wissen, dass sie niemals davon abgehen werden, unter keinen Umständen. Das ist der Ausgleich für einen beschränkteren Handlungsspielraum im Leben. Wenn du dich mit einem Mann anlegst, bedeutet das Kampf, und entweder du gewinnst, oder du regelst es gütlich, oder du liegst tot am Boden. Wenn du dich mit einer Frau anlegst, verändert sich die Welt unwiderruflich, denn kalter Zorn verlangt unausgesetzte Wachsamkeit in allem, was kränken und beleidigen könnte.« Ihr Blick durchbohrte Elphaba mit unausgesprochenen Beschuldigungen in Bezug auf Fiyero, auf Liir.
Elphaba dachte darüber nach. Sie dachte darüber nach, was heißer und was kalter Zorn sein mochte und ob er geschlechtsspezifisch war und welchen sie empfand, falls überhaupt einen. Sie dachte über ihre jung verstorbene Mutter nach und über ihren Vater mit seinen Obsessionen. Sie dachte über den Zorn nach, den Doktor Dillamond gehabt hatte – einen Zorn, der ihn zum Studieren und Forschen getrieben hatte. Sie dachte über den Zorn nach, den Madame Akaber kaum verhehlen konnte, als sie versucht hatte, die Studentinnen zum geheimen Dienst für die Regierung zu verlocken.
Sie dachte am nächsten Morgen darüber nach, als sie dasaß und zusah, wie die langsam erstarkende Sonne auf die dick verschneiten Dachschrägen unter ihr einbrannte. Sie beobachtete, wie die Sonne einen Eiszapfen verflüssigte. Warm und Kalt zusammen formten einen Eiszapfen. Warm und Kalt zusammen formten einen Zorn, einen Zorn, der bestens zur Waffe gegen die alten Dinge taugte, die noch bekämpft werden mussten.
Es war natürlich nicht zu beweisen, doch in gewisser Weise hatte sie sich stets zum heißen Zorn ebenso fähig gefühlt wie ein Mann. Aber um Erfolg zu haben, musste man über beide Arten verfügen …
Liir überlebte, Manek nicht. Der Eiszapfen, auf den Elphaba ihren Blick gerichtet hatte, während sie über die Waffen nachdachte, die man zum Kampf gegen eine solche Missetat brauchte – er löste sich wie ein Speer von der Traufe, zischte nach unten und erwischte ihn am Kopf, als er gerade hinausging, um sich eine neue Möglichkeit zu überlegen, wie er Liir quälen konnte.