Ning 寧
Mutter sagte, die Welt erwuchs aus der Dunkelheit. Aus dem großen uranfänglichen Nichts formte sich Bewusstheit, und die ersten Götter erwachten aus ihrem Schlummer. Die große Göttin trat hervor und spaltete die Dunkelheit auf wie ein Ei. Gemeinsam mit ihrem Bruder trennte sie Himmel und Erde.
Vergesst es niemals , sagte sie uns. Die Welt begann mit einem Traum. Mit dem Leben ist es genauso. Haltet an euren Träumen fest, meine Töchter. Die Welt ist größer, als ihr ahnt.
Sonnenlicht strömt durch das Blattwerk über mir, das Laub raschelt leise im Wind. Die Luft riecht nach Sommer, und ich bin irgendwo zwischen Schlafen und Wachsein gefangen. Ich habe das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Mein Körper wird durch eine Bewegung unter mir durchgerüttelt, und ich setze mich zu schnell auf, mir schwindelt der Kopf.
Bäume fliegen an mir vorbei. Meine Hände streichen über rauen Stoff, eine Decke, die von mir heruntergerutscht ist, als ich mich bewegt habe. Ich drehe den Kopf und stelle fest, dass ich mich in einem Fuhrwerk befinde. Meine Schwester sitzt mir gegenüber, die Augen geschlossen, ihre Lippen bewegen sich. Ich kenne diesen Ausdruck an ihr: Sie grübelt über ein besonders kniffliges Problem nach. Vermutlich über irgendein Stickmuster oder über Rechnungen zu Wirkstoffen in Vaters Vorratskammer. Aber dann springen ihre Lider auf, und ihr Blick trifft auf meinen. Sie krabbelt zu mir herüber und hockt sich neben mich.
»Du bist wach«, sagt Shu erleichtert, und bevor ich sie davon abhalten kann, ruft sie den zwei Gestalten vorne auf der Kutschbank zu: »Sie ist wach!«
Ich kann nicht anders – ich ergreife ihren Arm, um mich zu vergewissern, dass sie real ist. Ich muss sicher sein, dass ich nicht immer noch träume, während ich schlafend auf einem Boot den Jadefluss hinunterschippere, auf der Suche nach einem Weg nach Hause. Oder noch schlimmer, während ich zusammengerollt auf dem Boden des Palastkerkers liege und auf meine Hinrichtung am nächsten Morgen warte. Diese beunruhigenden Gedanken vertreiben die Hitze des Tages und lassen nur ein Frösteln zurück. Shu schaut auf meine Hand, dann legt sie ihre auf meine.
Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor sie auch nur ein Wort herausbringen kann, kommt der Wagen ruckartig zum Stehen, und wir werden nach vorne geschleudert. Eine der beiden Gestalten schwingt sich über die Kutschbank nach hinten und landet neben uns, die Krempe ihres breiten Hutes wirft einen Schatten auf ihr Gesicht. Erst als sie aufblickt, erkenne ich sie – ihre markanten Züge, von Dichtern in blumigen Versen gepriesen, die mir inzwischen so wohlvertraut sind. Jemand, den ich vielleicht sogar eine Freundin zu nennen wage.
Zhen, die Prinzessin von Dàxī, trägt eine schlichte braune Tunika, ihr Haar ist zu einem langen Zopf zurückgebunden. Hinter ihr ragt die Kutscherin auf, jemand, den ich ebenfalls wiedererkenne – Ruyi, ihre Dienstmagd, in identischer brauner Kleidung. Sie sehen aus wie Bauern, die von einem Tag auf den Feldern zurückkehren.
Ruyi nickt mir zu, bevor sie sich abwendet und das Pferd mit einem Zungenschnalzen wieder antreibt.
»Wie geht es dir?«, fragt Zhen. Auch Shu sieht mich durchdringend an, und mein banges Gefühl verstärkt sich.
Immer noch leicht benommen schüttele ich den Kopf, in dem Versuch, mich zu erinnern. »Ihr werdet mir sagen müssen, was passiert ist.«
Ungebetene Bilder steigen in mir auf. Das imposante Gesicht des Kanzlers, der mich zum Tode verurteilt. Die leuchtenden Blütenblätter der Pfingstrose, die auf Shus Stickerei erblühen. Ich, wie ich meine Schwester durch den dunklen Wald jage. Mein Vater, weinend über ihren Körper gebeugt. Die herabsteigende Gestalt der Goldenen Schlange und das Aufblitzen ihrer bösartigen Fangzähne … ihre blutroten Augen.
Ein jäher Schmerz sticht mir in die Stirn, und ich krümme mich keuchend zusammen.
Ein beinahe unerträgliches Brennen breitet sich wie ein Lauffeuer über meinen Körper aus und macht jeden anderen Gedanken zunichte. Wie durch Wolken nehme ich Hände wahr, die mir helfen, mich hinzulegen, während der Schmerz wieder und wieder über mich hereinbricht. Ich treibe eine Weile lang durch ihn hindurch. Es könnten Minuten sein oder Stunden, ich weiß es nicht. Bis schließlich, Stück für Stück, der Schmerz verebbt. Bis ich langsam wieder zu mir selbst zurückfinde und mich in eine aufrechtere Position stemme.
»Hier. Trink einen Schluck Wasser.« Man drückt mir eine Flasche in die Hand, und ich lasse das kühle Wasser in meinen Mund laufen.
»Du hast drei Tage und drei Nächte lang geschlafen.« Shu reicht mir ein Taschentuch, mit dem ich mir das Gesicht abwische, ihr Blick strahlt Besorgnis aus. »Du hattest hohes Fieber, und Vater hat, so gut er konnte, versucht, die Infektion aus deinem Körper zu ziehen. Etwas davon ist wohl noch vorhanden …«
Ich zog Shu aus der Dunkelheit, nur um selbst hineinzufallen, und ich erinnere mich an nichts, was danach geschah.
»Vater … wo ist er?« Wir legten unsere Differenzen bei, um Shu zu retten – gemeinsam. Aber ich habe noch so viele Fragen, die ich ihm stellen will. Über ihn und Mutter im Palast. Darüber, was er aufgab, um ein neues Leben in Xīnyì zu beginnen. All das habe ich nie verstanden, bis ich nach Jia ging.
Shu antwortet nur widerwillig. »Nachdem du das Bewusstsein verloren hattest, schickte Vater die Nachricht ins Dorf, dass mein Zustand sich verschlechtert habe und er nicht seine tägliche Visite machen könne. Hauptmann Wu kam, um nach mir zu sehen, und auch, um uns zu warnen.«
Unser Vater hat dem Hauptmann einst nach einem schlimmen Sturz das Leben gerettet. Seitdem ist er uns freundlich gesinnt und immer darum bemüht, uns heimlich zusätzliche Rationen zukommen zu lassen, auch wenn Vater sie zumeist ablehnt.
»Er warnte uns, dass bald Soldaten aus Nánjiāng kommen würden, um auf Befehl des Gouverneurs nach dir zu suchen. Vater gestattete ihm, im Haus nachzusehen, während ich mich mit dir im Bett versteckte.« Bei der Erinnerung zittern Shus Lippen. Ich greife nach der Hand meiner Schwester, denn ich kann mir lebhaft vorstellen, wie beängstigend das Erlebte gewesen sein muss.
»Später ist dein Vater dann zu uns gekommen«, erzählt Zhen. »Er sagte, dass wir uns auf den Weg machen sollen. Er hat uns mit Kleidung und einem Wagen versorgt und versprach, er würde die Soldaten, wenn sie kämen, in die andere Richtung schicken.«
»Warum ist er nicht bei uns?«, frage ich. »Er begibt sich in Gefahr!«
Zhen tauscht einen Blick mit Shu. Die Vertrautheit darin lässt mich aufmerken. Es gibt da etwas, das sie wissen und ich nicht. Was glauben sie verheimlichen zu müssen?
»Er wollte nicht«, erklärt Zhen schließlich. »Er sagte, er habe noch Patienten unter seiner Obhut.«
Natürlich. Seine Patienten. Seine Verpflichtungen.
»Ich habe versucht, ihn zum Mitkommen zu überreden«, sagt Shu, um mich zu trösten, aber stattdessen bringt es mich nur noch mehr auf. Wie sie stets versucht, das Beste in den Menschen zu sehen, selbst wenn sie uns in einem fort enttäuschen. Meine Wut sollte sich nicht gegen sie richten, und doch …
»Dorf voraus!«, ruft Ruyi vorne auf dem Wagen und durchbricht die angespannte Atmosphäre.
Zhen klettert wieder neben Ruyi auf die Kutschbank, während Shu neugierig nach vorne blickt und mich mit meinen Fragen und düsteren Gedanken allein lässt.
Die schräg einfallende Nachmittagssonne scheint auf ein nicht gerade geschäftiges Dorf. Stattdessen laufen uns nur ein paar versprengte Hühner über den Weg, als wir die Tore passieren. Wir kommen an Lehmziegelhäusern vorbei, die um kleine Höfe gebaut und von der Hauptstraße durch niedrige Holzzäune getrennt sind. Eine Frau hängt Wäsche auf eine Leine, und Ruyi geht zu ihr, um mit ihr zu sprechen. Sie kehrt mit der Adresse eines Gasthauses zurück. Als ich vom Wagen zurückschaue, sehe ich, wie die Frau uns hinterherstarrt und sich erst abwendet, als sie merkt, dass ich sie beobachte.
Ruyi führt das Pferd eine weitere Straße hinunter, und wir gelangen durch ein offenes Tor in einen weitläufigen Hof, auf dem sich ein einzelnes Gebäude befindet. Ein an der Außenwand angebrachtes Schild verrät lediglich, dass es sich um ein Gasthaus handelt, nicht aber den Namen des Etablissements. Zur Begrüßung kommt ein älterer Mann herausgeeilt und nimmt Ruyi lächelnd die Zügel des Pferdes aus der Hand.
Ich rutsche vorsichtig hinten von der Ladefläche des Fuhrwerks herunter, aber unter dem Gewicht meines Körpers sacken mir fast die Knie weg. Halt suchend lehne ich mich gegen die Seite. Wenn ich wirklich drei Tage und Nächte lang geschlafen habe, würde das die Schwäche in meinen Gliedern erklären … sowie meinen knurrenden Magen. Zhen plaudert fröhlich mit der älteren Frau, die mit einem Teller Süßigkeiten herausgekommen ist, um uns willkommen zu heißen. Ich höre, wie Zhen die Geschichte spinnt, dass wir Pilger auf dem Weg nach Yěliǔ seien, um der Smaragdschildkröte des Westens unseren Respekt zu erweisen.
Ich erkenne jetzt, dass wir in Xìngyuán sind, einem Dorf vor dem Bergpass, der nach Yěliǔ führt. Wir befinden uns zwei Tagesreisen nördlich meiner Heimat. Offenbar folgt Zhen den Anweisungen in Wenyis Brief, so, wie sie es ursprünglich vorhatte. Sie wird um Hilfe bitten. Ich bin ihr dankbar, dass sie mir half, in mein Dorf zu kommen, und ihre Pläne änderte, damit ich Shu retten konnte. Sie hat uns nicht zurückgelassen, obwohl sie es ohne weiteres hätte tun können.
»Lass mich deine Wunde ansehen.« Ruyi tritt zu mir und stützt mich, als sie bemerkt, dass ich kaum laufen kann. »Wir sollten den Wickel wechseln.«
Bei der Erwähnung des Wickels beginnt prompt mein Arm zu schmerzen. Ich humpele zur Tür, durch die Zhen und Shu bereits verschwunden sind. Drinnen ist ein großer Raum mit mehreren Holztischen und Bänken. Mit Ruyis Hilfe lasse ich mich schwerfällig auf einer der Bänke nieder.
»Ich bringe euch etwas Tee, werte Gäste.« Die ältere Frau zieht den Kopf zwischen die Schultern, und Ruyi folgt ihr durch die andere Tür auf der gegenüberliegenden Seite.
Ich starre auf den Verband und erinnere mich daran, wie die Schlange mir ihre Fangzähne in den Arm schlug, und an den Schauder, in meinen Körper zurückzukehren, mit diesen Bissspuren auf meiner Haut. In mir regt sich ein seltsames Verlangen nachzuschauen, wie sie jetzt aussehen.
Shu steht neben mir und will sich nützlich machen, aber ich spüre ihre Anspannung.
»Du musst dir das nicht anschauen. Ruyi wird mir helfen«, sage ich zu ihr, wohl wissend, dass meiner Schwester der Anblick von Blut nicht behagt.
Sie setzt zum Protest an, aber da ruft Zhen nach ihrer Hilfe, und sie wirft mir einen widerwilligen Blick zu, bevor sie geht.
Als Ruyi schließlich mit einer großen Schüssel voll dampfenden Wassers und einigen sauberen Tüchern zurückkehrt, habe ich den Verband bereits so weit entfernt, dass die Wunde frei liegt.
Ein Teil meines Arms ist rosa und geschwollen, die Haut fühlt sich warm an. Da sind zwei dünne Schlitze, wo die Fangzähne meine Haut durchbohrten und wieder herausglitten, als ich in der Welt des Shifts vom Baum herunter- und zurück in meinen Körper fiel. Ich war immer der Meinung, dass es keine Magie gäbe, die einen Menschen durch Zeit und Raum schicken kann. Diese Spuren erzählen jedoch eine andere Geschichte. Es gibt Magie da draußen, die dunkler ist, als wir ahnen, und davon mehr, als wir bisher gesehen haben.
Ruyi hilft mir, die Wunde zu säubern. Ich beiße die Zähne zusammen und kämpfe gegen den scharfen, stechenden Schmerz an. Einer zweiten Schüssel entnimmt sie eingeweichte Kräuter und verteilt sie auf meinen Arm. Der beißende Arzneigeruch, den sie verströmen, ist mir vertraut – er erinnert mich an meinen Vater. Ich schlucke meine aufsteigende Traurigkeit hinunter und sage mir, dass er sich dazu entschlossen hat, zurückzubleiben.
Nachdem der Kräuterumschlag aufgelegt und befestigt ist, lindert seine wohltuende Wärme den Schmerz ein wenig. Ich öffne und schließe meine Hand, spüre, wie die Haut sich dehnt und zusammenzieht.
Wir sind gerade rechtzeitig zum Abendessen fertig, das unsere Gastgeber im Garten servieren, wo wir von zauberhaften Rosen in verschiedenen Farben umgeben sind, die am Zaun entlang und um das Spalier über unseren Köpfen ranken. Blasse weiße Blüten mit zartrosa Rändern, leuchtend gelbe von der Größe meiner Faust, und pfirsichfarbene Kletterrosen, mit vielen kleinen, filigranen Köpfchen. Der betörend blumige Duft rundet unsere Mahlzeit vorzüglich ab, während wir Schalen mit Nudeln in würziger Chilisoße essen, garniert mit knusprigem Schweinedarm und Sojasprossen. Zu den Nudeln werden kleine Schalen mit eingelegtem Kohl und Rettich gereicht. Außerdem teilen wir uns einen Teller mit Zhéěrgēn, einer weißen, in Öl eingelegten Knolle, deren Süße in köstlichem Kontrast steht zu der salzigen gepökelten Wurst, mit der sie zusammen gebraten wurde. Die Gerichte aus dieser Region sind sehr viel schärfer als das, was ich gewohnt bin, was kein Wunder ist, grenzt dieser Landstrich doch an die Präfektur Huá, die für ihre Liebe zu Chilis bekannt ist. Hu-yi und Hu-buo, die freundlichen Wirtsleute, sorgen dafür, dass unsere Tassen immer mit Chrysanthementee gefüllt sind, und sie lehnen die respektvollere Form der Anrede ab, die unseren Älteren gebührt.
Satt und zufrieden ziehen wir uns frühzeitig auf unsere Zimmer zurück, wohl wissend, dass der morgige Marsch den Berg von Yěliǔ hinauf den Großteil des Tages in Anspruch nehmen wird.
Shu hilft mir, meinen Verband straff zu ziehen, damit er über Nacht nicht verrutscht, und schaut dabei mit gerunzelter Stirn auf meinen Arm, als hätte er sie irgendwie beleidigt.
»Stimmt etwas nicht?«, frage ich vorsichtig.
Sie zieht ein letztes Mal an der Bandage, damit sie wirklich fest genug sitzt, sieht mir aber nicht in die Augen. »Es … es gefällt mir nicht, dass du wegen mir verletzt wurdest«, flüstert sie.
Beim Anblick ihres Gesichtsausdrucks krampft mein Herz sich zusammen. Meine weichherzige Schwester, die immer hilfsbereit ist, die nie jemanden leiden sehen will. Ich hätte wissen müssen, dass sie sich grämen würde. Wir müssen noch darüber sprechen, was vor meiner Rückkehr passierte, und darüber, was seitdem geschehen ist. Aber ich weiß nicht, ob ich schon zum Reden bereit bin.
»Ich bin jetzt wieder da.« Ich zucke mit den Schultern und versuche, einen beiläufigen Ton anzuschlagen. »Und du bist da, und das ist alles, was für mich zählt.«
Sie seufzt. »Ich hasse es, dass ich nicht in der Lage war, dir zu helfen, dass ich nicht einmal Vater richtig helfen konnte, als er dich behandelt hat.«
Ich verstehe ihr Gefühl der Hilflosigkeit, denn ich habe es selbst schon empfunden. Es betrübt mich, dass ich ihr das nicht ersparen konnte.
»Ohne deine Stickerei wäre ich nie auf das Gegenmittel gekommen«, rufe ich ihr in Erinnerung. »Kluges Mädchen.« Ich strecke die Hand aus, um ihr das Haar zu zerzausen, so wie früher, als wir jünger waren. Doch sie duckt sich weg, lächelt dabei aber wenigstens ein bisschen.
Ich puste die Kerze aus, und wir legen uns schlafen, lassen die Sorgen für diese Nacht ruhen. Doch anstelle von erholsamen Träumen und glücklichen Erinnerungen ereilen mich Bilder von roten Augen, die mich in der Dunkelheit beobachten.