Kapitel 3

Kang

Als seine Mutter starb, glaubte Kang, er würde auch seinen Vater verlieren. Drei Tage und drei Nächte lang hielt der General beim Leichnam seiner Frau Wache und weigerte sich, den Raum zu verlassen, ungeachtet aller Bemühungen seitens ihrer Familie, ihn zum Essen und Ausruhen zu bewegen. Also baten sie Kang, in ihrem Namen mit seinem Vater zu reden, aber es war vergebens. Er wollte mit niemandem sprechen. Kang konnte nichts anderes tun, als vor der Tür zu knien und dem Weinen und Wüten seines Vaters auf der anderen Seite zuzuhören. Am vierten Morgen der Totenwache kam ein Brief aus der Hauptstadt, der nur für die Augen des Generals bestimmt war und unter der Tür hindurchgeschoben wurde.

Bald darauf verließ der General das Totenbett seiner Frau, schnappte sich ein Boot sowie ausreichend Vorräte für eine Woche und verschwand. Er sagte nichts darüber, wohin er ging oder wann er zurückkommen würde. Kang vollzog die restlichen Bestattungsrituale allein. Die Gebete. Die endlosen Zeremonien, die Prozessionen durchs Dorf. Die Ehrerweisungen durch das Volk seiner Mutter und die Soldaten seines Vaters. Er beobachtete, wie die Flammen des Scheiterhaufens die Nacht erhellten, und er trug die Knochen seiner Mutter die Klippen hinab, um sie dem Meer darzubieten.

Kang war davon überzeugt, dass sein Vater auf eine Reise gegangen war, um zu sterben. Doch dann tauchte knapp hundert Tage nach der Beisetzung seiner Mutter das Segel seines Bootes am Horizont auf. Er empfing seinen Vater an den Ufern unterhalb der Smaragdklippen, immer noch in Trauerweiß gekleidet.

Sein Vater sah ausgemergelt aus und war von der Sonne gebräunt, aber in seinen Augen glomm ein verzweifeltes Feuer. Kang erfuhr vom Inhalt des Briefes, vom Jagdunfall, der gar kein Unfall gewesen war, und vom Zutun des Kaisers am Tod seiner Mutter.

Da verstand er das neue Ziel seines Vaters.

Rache.

Zwei Tage nachdem der General mit seinen Truppen in die Hauptstadt einmarschiert ist, wird Kang in die Ratskammer seines Vaters gerufen. Während er darauf wartet, zum Inneren Palast vorgelassen zu werden, denkt Kang flüchtig darüber nach, dass alles so aussieht wie immer und sich doch alles verändert hat. Der Wachposten vor seiner Residenz wurde durch die Privatwache seines Vaters ersetzt, es sind vertraute, aber keine sehr freundlichen Gesichter. Die Beamten, die noch vor einer Woche auf den Fluren an ihm vorbeigeeilt sind, bedenken ihn jetzt mit einem Nicken oder gar einer ehrfürchtigen Verbeugung. Auch die Diener scheinen verunsichert, wie sie ihm begegnen sollen, und gehen ihm stattdessen lieber aus dem Weg, wenn sie ihn von weitem kommen sehen. Aber diejenigen, die ihm dienen, tun dies nun mit Ehrerbietung und einem Hauch von Angst, denn das Justizministerium hat auf Geheiß des Generals damit begonnen, den Palast zu durchkämmen, auf der Suche nach denen, die im Verdacht stehen, an dem Komplott beteiligt gewesen zu sein, das der Prinzessin die Flucht ermöglichte.

Abgesehen von der Zeit, als man ihn als Gefangenen durch die verborgenen Tunnel in die Privatgärten der Prinzessin gebracht hatte, ist dies seit Jahren das erste Mal, dass er den Inneren Palast zu sehen bekommt. An den mit Bemalungen verzierten Fluren hat sich nicht viel verändert, soweit er sich noch erinnern kann, aber die Wände der Ratskammer sind gähnend leer. Sämtliche Spuren des früheren Kaisers wurden entfernt, damit der neue Herrscher selbst entscheiden kann, was sein Auge erfreut. In dem Raum befinden sich nur sein Vater, der hinter dem prächtigen Rotholzschreibtisch sitzt, und der Kanzler, der links von ihm an einer Tasse Tee nippt.

»Vater.« Kang verbeugt sich. »Kanzler.«

Sein Vater deutet auf den freien Platz gegenüber dem Kanzler, der ihm zur Begrüßung zunickt. Kang lässt sich auf dem harten Holzstuhl nieder, als ein Diener mit einem Tablett voll Leckereien und Tee hereinkommt. Er hatte auf ein Gespräch unter vier Augen mit seinem Vater gehofft, doch anscheinend gibt es einen anderen Grund für dieses Treffen. Einen, der über Familienangelegenheiten hinausgeht.

Nachdem sein Vater von seiner Reise über das Meer zurückgekehrt war, sprach er mit Kang nie wieder ein Wort über den Tod der Mutter. Nie erläuterte er seine Pläne. In der Öffentlichkeit behandelte er Kang stets wie einen seiner Soldaten, ohne ihn in irgendeiner Weise zu bevorzugen, wofür Kang dankbar war. Doch zu Hause in ihren eigenen vier Wänden wurde sein Vater immer mehr zum Eigenbrötler.

Er erinnert sich daran, wie der Kanzler zum ersten Mal in Lǜzhou auftauchte, verkleidet als Kaufmann auf einem kleineren Frachtschiff, zusammen mit anderen Leuten vom Festland. Er und der General unterhielten sich bis spät in die Nacht hinein, hielten Beratungen ab, an denen Kang nicht teilnehmen durfte, bis er sich eines Tages Zugang zum Arbeitszimmer seines Vaters verschaffte. Ein Ort, der ihm bis dahin verwehrt gewesen war. Mit Inbrunst trug er vor, dass man ihn wie ein Kind behandeln würde statt wie einen fähigen Soldaten. Er benutzte eine Sprache, die sein Vater verstand, auch wenn Kang niemals zugab, welche Angst alldem zugrunde lag: Er wollte nicht auch noch seinen Vater verlieren.

Letztlich war es der Kanzler gewesen, der sich für ihn einsetzte, der den General davon überzeugte, ihn mit der Aufgabe zu betrauen, die Hauptstadt zu infiltrieren.

»Unsere Pläne sind aufgegangen.« Der General legt seinen Tuschepinsel auf der Ablage vor sich ab und unterbricht Kangs Erinnerungen. Er schiebt das Schriftstück an den rechten Rand des Tisches, damit es trocken kann. Von seiner Position aus erkennt Kang nur wenige Schriftzeichen. Irgendetwas über Kornkammern und Ānhé.

»Es hätte nicht besser laufen können«, kommentiert Kanzler Zhao und stellt seine Tasse ab. »Wir haben zahlenmäßig geringe Verluste erlitten. Jetzt müssen wir nur noch die Unterstützung des Hofes gewinnen, um sicherzustellen, dass Eure Thronbesteigung erfolgreich ist.«

Kang sollte dem Kanzler dankbar sein, dass er vor vielen Monaten an seinen Vater appelliert hatte, ihn an der Mission teilhaben zu lassen. Aber er hat miterlebt, wie schnell der Kanzler sich gegen die Prinzessin wandte, hat die Gerüchte gehört, dass niemand den Thron besteigt ohne die Zustimmung des Kanzlers. Um seine Position in der Regentschaft von zwei Kaisern beizubehalten, und jetzt nähert sich der dritte … Kanzler Zhou ist kein dummer Mann, und je mehr Kang über ihn erfährt, desto größer wird sein Misstrauen.

»Das Kriegs- und das Justizministerium haben sich schon immer den zahlenmäßig Stärkeren gebeugt«, sagt der General. »Ich habe die Rekruten aus Lǜzhou, meine loyalen Bataillone in der Region und führungsbereite Kommandeure, die mein Banner tragen. Ich würde vermuten, dass wir zusammen mit der Reserve von Gouverneur Wang mindestens die Hälfte der militärischen Kräfte von Dàxī kontrollieren, und weitere könnten überzeugt werden, indem man ihnen entsprechende Anreize bietet. Es sind das Ministerium für Rituale, die Sterndeuter und diejenigen, die an der Verwaltung des Reiches mitwirken, die ich überzeugen muss.« Kangs Vater spricht voller Zuversicht über seine militärische Stärke, und erst als er den Hofstaat erwähnt, runzelt er die Stirn.

»Minister Song liebt seine Symbole und hehre Ziele.« Der Kanzler lächelt süffisant. »Ich denke, der von mir vorgeschlagene Plan wird Eurer Hoheit den gewünschten Rückhalt aller Ministerien verschaffen.«

Aus seiner Hand dringt ein Klirren, wie von aneinanderschlagenden Steinen. Kangs Blick fällt auf die zwei Kugeln, die der Kanzler geschickt auf seiner rechten Handfläche umeinanderrollen lässt. Sie sind von einem satten, dunklen Grün, ein Merkmal hochwertiger Jade. Diese Kleinode, gefertigt aus den verschiedensten polierten Edelsteinen, erfreuten sich großer Beliebtheit, als er noch ein Kind war. Sie sollen die Konzentration fördern, sind in den letzten Jahren allerdings aus der Mode geraten.

»Ja, ich habe den Plan überdacht.« Kangs Vater wirkt nicht so überzeugt.

»Wir müssen rasch handeln«, sagt der Kanzler. »Eine schnelle Abrechnung mit denjenigen, die gegen Euch opponierten, um zu demonstrieren, dass Ihr nicht zögern werdet, die Euch zur Verfügung stehenden Kräfte einzusetzen. Aber …« Sein Blick gleitet zu Kang, und er neigt den Kopf. Kang spürt ein kurzes Aufflackern von Ärger, auch wenn er sich bemüht, es zu verbergen. Es ist ein offenkundiger Versuch, die Höflichkeit zu wahren, ein alter Hofbeamter, der seine Rolle spielt. Kang kennt das bereits zur Genüge. Die Armeekommandeure haben ihr eigenes Gebaren; die Hofbeamten bedienen sich subtiler Gesten und verschleierter Worte. Doch am Ende sind sie alle gleich. Sie schieben die Figuren auf dem Spielbrett hin und her, um sicherzustellen, dass sie profitieren.

»Es gibt einen Grund, warum ich dich zu diesem Rat hinzugebeten habe«, sagt der General und richtet das Wort direkt an seinen Sohn. Wie ein schweres Gewicht spürt Kang die Bedeutung dessen, was ihm gleich zuteilwird. »Deine Mutter wollte immer, dass du Zeit bekommst, um deine eigene Persönlichkeit zu entfalten, bevor du die Verantwortung übernehmen musst, die Familie Li und deren Namen hochzuhalten. Doch jetzt ist es so weit, dass du deinen Platz einnimmst.«

»Ich habe deine Anweisungen befolgt, Vater«, sagt Kang leise. »Ich kam in deinem Namen in den Palast.«

»Und du hast deine Aufgabe erfüllt, so, wie ich es erwartet hatte.« Sein Vater schenkt ihm ein Lächeln. Für Kang ist das ein großes Lob. Dass er den Auftrag erfüllt hat, dass ihm die Anerkennung zuteilwird, nach der er sich so verzehrt.

»Deine Anwesenheit im Palast vor meiner Ankunft hatte einen bestimmten Zweck«, fährt der General fort. »Sie war nicht nur dazu gedacht, die Aufmerksamkeit des Hofes abzulenken, während ich meine Pläne ausführte. Sie war nötig, um den Hof auf die Rolle vorzubereiten, die du zukünftig übernehmen sollst, um den Samen der Legitimität auszusäen.«

Die Wärme des Lobes schwindet so schnell dahin, wie sie gekommen war, und macht einem kühlen Frösteln Platz. Das Zögern seines Vaters hat eine andere Bedeutung als das des Kanzlers. Kang weiß, dass ihn nichts Angenehmes erwartet. »Was soll ich für dich tun?«, fragt Kang.

»Du wirst nach meinem Thronantritt zum Prinzen ernannt, denn ein Herrscher mit einem geeigneten Erben bietet mehr Stabilität. Es entspricht der natürlichen Ordnung der Dinge. Allerdings hast du nie irgendwelche Ambitionen in diese Richtung erkennen lassen, und so muss ich dich fragen: Akzeptierst du diese Rolle?«

Hier ist sie also. Die Frage, die in Lǜzhou immer über ihren Köpfen geschwebt hatte. Die Frage, um die alle Berater herumlavierten, die Frage, die seine Mutter nie beantworten wollte, da Kang es nie gewagt hätte, seinen Vater direkt nach seinen Ambitionen auf den Thron zu fragen. Einem ersten Impuls folgend will Kang tun, was von ihm erwartet wird, und sich fügen. Gehorchen, ohne Fragen zu stellen, und doch … Kang ist dazu nicht in der Lage. Er muss fragen. Er muss es wissen.

Kang erhebt sich aus seinem Stuhl, kniet nieder und neigt das Haupt. Er weiß, dass ihn diese Frage alles kosten könnte. Unzählige Male hat er in Gedanken durchgespielt, wie er sie formulieren könnte. Er hat seinen Vater vor Ning verteidigt, selbst als sie ihm die schreckliche Erkenntnis über die Quelle des Giftes anvertraute. Nun, da der Thron zum Greifen nah ist, sollte es für seinen Vater keinen Grund mehr geben, die Wahrheit vor ihm zu verschleiern.

»Vater, wenn du mir wohl gestattest, eine Frage zu stellen, die mich schon während meiner ganzen Zeit in der Hauptstadt quält … Ich bitte dich darum, dass du sie anhörst und mir eine Antwort gewährst.«

Der Kanzler stößt einen pikierten Laut aus, aber Kang schert sich nicht darum. Er schert sich nur um die Antwort seines Vaters. Das war ihm schon immer am wichtigsten gewesen: seine Anerkennung. Sie ist mehr wert als jedes Gold.

»Sprich.«

»Es betrifft die vergifteten … die vergifteten Teeziegel, die letztes Jahr im Reich verteilt wurden«, sagt Kang. Er hat stets das Gefühl, einen Schritt hinterherzuhinken; erst vor kurzem zum Rat zugelassen, ist er noch immer weit entfernt vom inneren Kreis. »Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass die Ärzte und Shénnóng-shī das Gift in seine Bestandteile zerlegt haben, und ein Bestandteil ist gelber k ānbù . Aus Lǜzhou.«

»Was willst du wissen?« Die Stimme seines Vaters ist ruhig. Er wirkt nicht alarmiert, nur neugierig interessiert.

»Ich will wissen, warum … Warum hast du den Tee vergiftet?« Kang wählt seine Worte mit Bedacht, denn er denkt an die Weisheit seiner Mutter, die sie ihm einst mit auf den Weg gab. Sie pflegte stets zu sagen, dass mit den richtigen Worten die Schlacht halb gewonnen sei, mit dem, was gesagt und ungesagt bleibt, gewiss und ungewiss. Und manchmal ist es besser vorzupreschen, anstatt zurückzuweichen.

Kang zwingt sich dazu, dem forschenden Blick seines Vaters ruhig standzuhalten. Er hat in den letzten Wochen gelernt, seine eigene Traurigkeit und Wut hinunterzuschlucken.

»Ich habe Euch gewarnt!« Der Kanzler knallt mit der Hand auf den Tisch neben ihm, das Geräusch ist so laut wie ein Donnerschlag. Er schnellt von seinem Sitz hoch, stellt sich neben Kang und verbeugt sich ebenfalls. »Er hat zu viel Zeit mit der Prinzessin und dieser Shénnóng-tú verbracht. Sie haben ihm Argwohn eingeflüstert, der sein Urteilsvermögen trübt und seine Loyalität beeinträchtigt.«

Statt eines Fröstelns jagt Kang ein eisiger Schauer über den Rücken. Während er noch mit seinen eigenen Zweifeln kämpfte, haben andere bereits entsprechend vorgesorgt. Der Kanzler zielt darauf ab, seinen Platz am Hof zu sichern. Wenn er die Loyalität seines Vaters gewinnt und alle anderen in seinem Umfeld unter Verdacht stellt, selbst die eigene Familie des Generals …

»Vater, ich bitte dich, nicht zu –«

»Hinsetzen, alle beide«, stößt der General hervor und unterbricht sein Bitten. »Genug davon.«

»Bald wirst du verstehen, wie die Welt funktioniert und dass wir die Waffen nutzen müssen, die uns zur Verfügung stehen«, sagt der General schließlich, nachdem sich alle wieder auf ihre Plätze gesetzt haben. »Ich habe mich zu lange auf das Schwert verlassen und geglaubt, dass Loyalität und familiäre Bande ausreichen würden, um jene zu schützen, die mir lieb und teuer sind. Aber selbst die Entfernung reichte nicht aus. Meinem Bruder missfiel es, dass ich im felsigen Lǜzhou ein erfolgreiches Leben aufbaute. Er wollte mich leiden sehen, und jetzt habe ich die Qualen an seine Türschwelle gebracht.« Die stille Intensität in seinem Blick ist beunruhigend, und für einen Moment wird Kang angst und bange.

Kanzler Zhou neben ihm nickt.

»Du kannst dem Kanzler persönlich danken, dass er mich vor vielen Monaten darauf aufmerksam gemacht hat. Ohne ihn hätten wir nie die Wahrheit über den Tod deiner Mutter in Erfahrung gebracht.«

Ah. Darum geht es. Um den Ursprung des Komplotts. Wie gerissen der Anschlag ausgeführt wurde, durch einen in das Umfeld seiner Mutter eingeschleusten Spion. Des Kaisers Messer in der Dunkelheit. Wie teuer hat der Kanzler sich die Herausgabe dieser Information bezahlen lassen?

»Ich habe lediglich meine Pflicht getan, Hoheit.« Der Kanzler lächelt. Wieder ist das leise Klirren der Steine zu hören, als er sie in seiner Hand umeinanderkreisen lässt. »Es ist kein Dank erforderlich.«

Dann schaut er zu Kang hinüber, und Kang versteht die unausgesprochene Warnung: Nimm dich in Acht.

»Gift ist ein Werkzeug«, sagt sein Vater ernst und starrt dabei in die Ferne, als würde er über die Zeilen eines alten Textes nachsinnen. »Wie der Gebrauch eines Schwerts, eines Pferdes oder eines Pfeils. Es kann schlimmste Verheerungen anrichten, aber es kann auch zu unserem Vorteil eingesetzt werden, um unsere Feinde zu schwächen, langsam und diskret.«

»Selbst wenn diese Feinde unbescholtene Einwohner von Dàxī sind?«, fragt Kang. Hunderte, vielleicht Tausende Tote. Alles Bürgerliche, die voller Angst sind.

»Würdest du einen opfern, um viele zu retten? Und wie ist es mit hundert Leben gegen Tausende? Das Leben aller in Dàxī?«, entgegnet sein Vater.

Kang weiß nicht, was er darauf antworten soll.

Er weiß nur, dass es der Verlust eines einzigen Menschen war, der diesen ganzen Plan in Gang setzte. Es war der Tod von Kangs Mutter, der den einen Stein ins Rollen brachte, und nun wird eine ganze Lawine herabstürzen.

Die Züge seines Vaters werden weich. »Ich vergesse es immer wieder; du hegst wie deine Mutter große Sympathie für die einfachen Leute.«

Nachdem er seinem Vater und dem Kanzler zugesichert hat, dass er seine Rolle spielen wird, ist Kang entlassen. Die Hände noch an der Tür, hört er, wie sein Name geflüstert wird. Er hält inne und lauscht durch den Spalt.

»Glaubt Ihr, das er tun wird, was er soll?« Der Kanzler ist immer noch skeptisch.

Kang spürt, wie sein Mund sich zu einer harten Linie verzieht. Er wird auf der Hut sein müssen.

»Ich glaube, dass er am Ende erkennen wird, was ich alles für das Reich getan habe.« Der General sieht mit einem Mal müde aus und stützt seinen Kopf in eine Hand. »Was ich alles für ihn getan habe.«

»Ich hoffe, Ihr behaltet recht«, erwidert der Kanzler und erhebt sich zum Gehen.

Es mag nur eine Täuschung des Lichts sein, aber als der Kanzler sich umdreht, könnte Kang schwören, dass dessen Augen im Schein der Laterne rot leuchten.