Kapitel 5

Ning

»Sieh nicht hin!«, flüstere ich Shu noch einmal zu. Ihre Hand schließt sich fester um meine. »Kannst du die Zügel festhalten?«, frage ich sie.

Sie nickt mit geschlossenen Augen, und ich reiche ihr den Strick meines Ponys. »Ich bin gleich wieder da.«

»Geh … geh nicht zu weit weg«, sagt sie, ihre Stimme zittert.

»Das werde ich nicht.«

Ich nähere mich der ersten Leiche. Mit dem Fuß drehe ich den auf der Seite liegenden Mann vorsichtig auf den Rücken und verziehe bei seinem Anblick das Gesicht. Seine Kehle ist aufgeschlitzt, eine klaffende, rote Wunde. Seine Augen starren gen Himmel, ohne zu sehen. Er trägt die Robe eines Gelehrten, eine lange schwarze Tunika mit einer weißen Schärpe, deren Ränder blutbefleckt sind. Neben ihm liegt ein Anhänger, der mir vertraut vorkommt. Es ist dasselbe Symbol wie das, das Wenyi stets bei sich trug.

So viele Leichen liegen wie Müll auf den Steinen ringsherum verstreut. Ich sehe keinerlei Waffen, weder neben ihnen auf dem Boden noch irgendwo in ihrer Reichweite. Sie wurden wehrlos niedergestreckt, dort, wo immer sie gerade standen. Ihre Arme sind blutüberströmt vom Versuch, sich zu schützen.

»Das ist Mord«, sage ich zu mir selbst, aber es kommt lauter als erwartet hervor und schallt durch die Luft.

»Wir wissen nicht, wer möglicherweise noch hier ist.« Ruyi nähert sich zusammen mit Zhen; beide blicken grimmig drein. »Wir sollten von hier verschwinden.«

Die beiden Frauen flankieren uns mit gezogenen Schwertern. Shu und ich setzen die Ponys in Gang; an ihren Zügeln zerrend, versuchen die Tiere hastig dem Gestank von Blut und Rauch zu entkommen.

»Da, zu dem kleineren Haus dort.« Zhen zeigt in Richtung eines Gebäudes, das ein Stück abseits des Hauptwegs steht, umgeben von einer kleinen Baumgruppe. Wir eilen an dem niedrigen Zaun entlang, wachsam Ausschau haltend nach allem, was möglicherweise noch in den Schatten lauert. Wenn ich doch nur einen Tee aufbrühen könnte, um mein Bewusstsein für die Gefahr zu schärfen und meine Sinne mit Gojibeeren und Chrysanthemen zu stärken. Erneut werde ich schmerzlich daran erinnert, wie schwierig es ist, meine Magie auszuüben, wie eingeschränkt ich ohne meine Utensilien bin.

Nachdem wir die Ponys an einem Pfahl festgebunden haben, gehen wir zu einer steinernen Flügeltür in der Mitte des Gebäudes. Beide Türen sind mit kunstvoll geschnitzten Steinfiguren versehen, geharnischte Krieger mit gebogenen Doas auf sich aufbäumenden Pferden, deren Hufe sich an der Stelle berühren, wo die Türflügel sich treffen.

Es bedarf der vereinten Kräfte von Ruyi und Zhen, um auch nur eine der schweren Türen aufzuschieben. Scharrend gleitet sie über den Boden und gibt den Blick frei auf einen höhlenartigen Raum. Die Decken scheinen zu niedrig, die Wände zu dunkel. Zwei imposante Säulen ragen in der Mitte auf, umgeben von aus Stein gehauenen Drachen, beide mit hervorquellenden, furchterregenden Augen. Einer lugt von oben, der andere späht von unten.

Zwischen ihnen steht eine riesige, bronzene Feuerschale. Mit der Spitze eines Stocks stochert Ruyi in der Asche nach Glut.

»Sie ist kalt«, sagt sie. »Es muss also mindestens einen Tag her sein, dass sie gestorben sind. Die Zhīcáng-sī würden niemals erlauben, dass die Feuer verlöschen.«

Die Zhīcáng-sī von Yěliǔ sind ihre Elder, ihre Geheimnisbewahrer, so, wie die Shénnóng-shī die Meister der Teekunst sind. Sie verehren die Schildkröte der Weisheit, Bìxì, auf deren Rücken das Reich errichtet wurde, und verbreiten ihre göttliche Weisung. Ich bin zum ersten Mal in einem Tempel – die Herrin der Weisheit wird in den Bäumen verehrt, und ihre Botschaften offenbaren sich im Wind und nicht in den Mauern eines Tempels. Shénnóng war ein umherschweifender Gott, der nur in die Zivilisation zurückkehrte, um Wissen weiterzugeben – in Hánxiá werden seine Lehren dokumentiert, aber dort war kein ihm geweihter Tempel.

In einer Nische an der hinteren Wand stehen drei Statuen. Der Philosoph Mengzhi sinniert mit einem Buch in der Hand über Fragen der Regierungsführung und über die Natur der Moral. General Tang steht mit hinter dem Rücken verschränkten Armen da, sein Schwert steckt in der Scheide an seiner Seite. Er war ein berühmter Soldat, der einst allein durch die Kraft seiner Worte eine ganze Stadt dazu brachte, die Waffen niederzulegen und sich ihm anzuschließen. Zwischen ihnen ragt das steinerne Abbild der Großen Schildkröte auf, mit einer behauenen Stele auf dem Rücken, in welche die sechs Tugenden eingemeißelt sind: Harmonie, Ehrlichkeit, Demut, Weisheit, Mitgefühl und Hingabe.

Über unseren Köpfen befindet sich ein Loch in der Tempeldecke, so dass das einfallende Licht je nach Stand der Sonne verschiedene Zeichen auf der Stele beleuchtet. Im Moment fängt die Demut das Licht ein.

Der Shennóng-tú-Wettbewerb sollte diesen sechs Tugenden huldigen, aber stattdessen offenbarte er verräterische Machenschaften bei Hofe. Ich erinnere mich an die Rede des Kanzlers, voller leerer Worte und Finessen. Mir wird übel bei dem Gedanken, dass ich früher an seine Lügen glaubte.

»Nein!«

Der Schrei hallt durch den Tempel und lässt meinen Puls in die Höhe schnellen. Zhen kniet weinend in der Ecke. Mein Blick sucht nach einem Angreifer, denn ich bin sicher, dass das ein Schmerzensschrei war, aber dann sehe ich eine ausgestreckte Hand vor ihr. Einen Fuß. Einen Körper in Rüstung, und dann noch einen – vier insgesamt. Sie liegen auf den Stufen, auf denen sonst diejenigen knien, die den Göttern den gebotenen Respekt entbieten wollen. Das hier sind keine Gelehrten wie die Toten dort draußen. Es sind Soldaten, die ihre Waffen nie wieder benutzen werden, gestorben, um den Mann, der in ihrer Mitte liegt, zu schützen. Ihre Mission ist gescheitert.

Die vielen Toten sind eine unübersehbare Warnung vor dem Schicksal, das uns droht, wenn wir vom General gefangen genommen werden, und vor den Gefahren des Weges, der vor uns liegt.

»Herzog Liang«, stößt Zhen hervor und rappelt sich schwankend hoch. Sie wischt sich ihre Tränen mit dem Ärmel weg.

»Bist du ganz sicher?«, fragt Ruyi, die neben ihr steht und sie stützt. Zhen nickt, dann dreht sie sich zur Seite und legt ihre Wange auf die Schulter ihrer Dienerin. Ruyis Arm umschlingt sie, ihre Gesichter sind beide von Müdigkeit gezeichnet.

»Ich erinnere mich an ihn, er gehörte zu Vaters Privatkonzil«, flüstert die Prinzessin. »Aber es ist Jahre her, seit er als Konsulent Yěliǔs fortgegangen ist.«

Ein knirschendes Geräusch erfüllt den Tempel. Von jäher Angst erfasst, fahre ich herum. Wo ist Shu? Sie steht auf der anderen Seite des Raums und starrt auf die Wand hinter den Philosophenstatuen. Dort bewegt sich etwas, eine Platte, die zur Seite gleitet.

»Zurück!«, schreie ich, bereit, sie gegen alles zu verteidigen, was zum Vorschein kommen könnte.

Ruyi ist schneller als ich und mit gezücktem Schwert bereits zur Stelle. Die Klinge schimmert im matten Licht. »Hast du etwas angefasst?«

Shu schüttelt den Kopf. »Nein, die Platte hat sich von allein bewegt.«

»Bitte … tut uns nichts …«, fleht eine junge Stimme aus den Schatten. Zwei schmale Gestalten treten aus dem verborgenen Raum hinein ins Licht, das die steinerne Schildkröte umflort. Ein Junge, allem Anschein nach etwas jünger als Shu, etwa zehn Jahre alt, und dann ein Mädchen, das sogar noch jünger wirkt, vielleicht sechs oder sieben. Sie sehen leicht gräulich aus, mit verhärmten Zügen, und sind mit einer Schicht aus Staub und Schmutz bedeckt.

»Ich sagte doch, ich habe sie erkannt!« Das Mädchen schießt hinter dem Jungen hervor und reißt sich aus seinem Griff los.

»Fei, nein!«, schreit er.

Das Mädchen wirft sich vor Zhen auf die Knie und berührt mit seiner Stirn den Boden. »Bitte, Prinzessin!«, fleht es. »Ihr müsst uns helfen!«

In seiner Hast gerät der Junge auf den Stufen ins Straucheln und schlägt beinah mit dem Kopf auf. Er versucht, das Mädchen hoch- und wegzuziehen.

»Sie ist es«, zischt das kleine Mädchen und rührt sich nicht vom Fleck. »Du solltest dich auch verbeugen.«

»Wer seid ihr?«, fragt Zhen in gebieterischem Ton.

Der Junge zögert. Das Mädchen neigt wieder den Kopf und erhebt sich. Was für ein Duo – die eine hoffnungsvoll, der andere trotzig. Er macht den Anschein, als wäre er bereit, sie mit bloßen Händen zu verteidigen, auch wenn die Chancen nicht zu seinen Gunsten stehen.

»Wir gehören dem Waisenhaus von Yěliǔ an«, sagt er und reckt sein Kinn empor. »Die Elder nahmen uns auf, als wir unsere Familien verloren.«

»Wir wollen euch nichts Böses«, erwidert Zhen, und ihre Stimme klingt jetzt sanfter. »Erzählt uns, was hier passiert ist.«

Die Kinder tauschen einen Blick, dann hebt der Junge wieder an zu sprechen. »Herzog Liang erhielt letzte Woche eine Nachricht, Neuigkeiten über Unruhen im Osten. Er schloss die Akademie und schickte die Studierenden nach Hause. Nur die Mönche blieben da, und wir beide. Wir konnten nirgendwo sonst hin.«

Zhen runzelt die Stirn, unzufrieden mit seiner Antwort. »Was ist mit den Wachen? Es hätte wenigstens eine Kompanie Soldaten hier sein müssen.«

»Der Herzog schickte sie zusammen mit dem Kommandeur in den Norden.«

»Mit dem Kommandeur?«, fragt Ruyi.

Der Junge schluckt mühsam, bevor er fortfährt. »Ja, Kommandeur Fan.«

»Warum sollte er Yěliǔ schutzlos zurücklassen?« Die Prinzessin verschränkt die Arme, ihre Miene drückt Verwirrung aus.

»Sie stritten eine Weile, bevor er fortging. Ich hörte es draußen, als ich den Weg fegte.« Die Lippen des Jungen zittern, seine kämpferische Haltung bröckelt. »Bald darauf kamen dann die anderen Soldaten. Der Herzog befahl uns, uns im hinteren Teil des Tempels zu verstecken.«

»Sind noch mehr von euch in diesem Raum?«, fragt Ruyi.

Das Mädchen schreckt jählings hoch. »Ihr müsst mit uns kommen! Ihr müsst Elder Tai helfen!«

»Bringt uns zu ihr«, sagt Zhen mit einem Schwung ihres Ärmels.

»Lass mich zuerst gehen.« Ruyi tritt vor, denn sie ist sich vollauf der Gefahren bewusst, die hinter diesen Mauern lauern könnten. Sie verschwindet durch die Öffnung, und nach einige Augenblicken ruft sie von drinnen meinen Namen.

»Bleib hier«, sage ich zu Shu, um sie um jeden Preis von jeder möglichen Gefahr fernzuhalten. Ihre Miene trübt sich, und ich rufe mir wieder in Erinnerung, was sie mir neulich Nacht über das quälende Gefühl der Hilflosigkeit sagte.

»Könntest du Wache halten?«, frage ich sie. »Pass auf die Kinder auf und rufe uns, falls du irgendetwas Ungewöhnliches bemerkst oder jemanden kommen hörst.«

Shu nickt und stellt sich sogleich ein wenig aufrechter hin, froh darüber, eine Aufgabe zu haben.

Ich betrete die verborgene Kammer, und sofort überfällt mich ein beißender Geruch. Der Gestank von Verwesung. Irgendetwas oder irgendwer ist hier drinnen gestorben.

Meine Augen passen sich an das Licht an, das zu dieser Tageszeit schnell verblasst.

Ruyi kauert in der hintersten Ecke und winkt mich näher heran.

»Ist sie das?«, frage ich und bedecke meine Nase mit meinem Ärmel, doch der Fäulnisgeruch dringt noch immer hindurch.

»Nein, aber da drüben liegen zwei Tote.« Ruyi deutet auf die Wand, wo ich zwei in Rüstungen gekleidete Leichen sehe.

»Sie hier lebt noch, wenn auch nur knapp.«

Eine Frau ruht auf einem steinernen Podest, das als eine Art Bett fungiert. Ich sehe, dass die Kinder versucht haben, es ihr bequem zu machen, indem sie Matten unter sie geschoben und sie in Umhänge gewickelt haben. Ich bemerke ihren fahlen Teint und das flache Heben und Senken ihrer Brust.

Ihre Lider sind geschlossen, ihre Lippen bewegen sich wie zum Gebet, aber kein Laut dringt aus ihnen hervor.

»Können Sie mich hören?« Ruyi legt ihr eine Hand auf den Arm. Die Frau erschauert unter der Berührung und schreckt zurück. Es folgt ein scharrendes Geräusch. Einer der Umhänge verrutscht und gibt den Blick frei auf das, was sich darunter befindet.

Ich schnappe nach Luft. Ihre Handgelenke liegen in Ketten, die an Ringen an der Wand befestigt sind. Die Frau stöhnt auf und rollt sich zur Seite.

Ich muss wissen, was mit ihr passiert ist. Ich bitte Ruyi, mir zu helfen, die Umhänge zu entfernen, damit ich mir ein besseres Bild machen kann, womit ich es zu tun habe. Ruyi entzündet die Fackeln in den Wandleuchtern, um gegen das schwindende Licht anzukämpfen. Ich führe der Reihe nach die Abklärungsschritte durch, so, wie ich es meinen Vater habe tun sehen. Ich überprüfe ihre Temperatur – etwas zu niedrig. Messe ihren Puls – flattrig und schwach. Ich ziehe ihren Mund auf und inspiziere ihre Zunge, untersuche den weißen Ring um ihre spröden Lippen.

Alle Zeichen deuten auf Gift hin, da bin ich mir sicher. Auf dasselbe, das durch die Karawanen des Reiches verteilt wurde.

Dasselbe, das meine Mutter getötet hat.