Kang 康
Der General beruft eine Versammlung des Hofes ein, fünf Tage nach seinem Marsch auf den Palast. Beamte in vollem Ornat stehen wieder einmal im Hof der Vielversprechenden Zukunft, während die heiße Sonne auf ihre Köpfe prallt. Sie tupfen sich mit ihren Taschentüchern den Schweiß von der Stirn, und jene, die etwas vorausschauender denken, haben Papierfächer mitgebracht, um sich ein wenig Abkühlung zu verschaffen.
In den letzten Tagen hat Kangs Vater bis spätabends mit Beratern und Beamten zusammengesessen, um Schriften zur Herrschaftsführung und Regierungsakten zu wälzen. Das, was sie bei ihrem privaten Treffen mit dem Kanzler besprochen hatten, fand keine weitere Erwähnung mehr. Kang wurde damit beauftragt, bei der Ausbildung der Rekruten der Palastwache zu helfen, aber er fühlt sich immer noch fehl am Platz angesichts seines Wissens um die baldige Änderung seines Status. Die anderen Kommandeure halten Abstand, sie schwanken zwischen übermäßiger Ehrerbietung und subtiler Feindseligkeit, während die Beamten – vermutlich angespornt vom Kanzler – begonnen haben, ihm Geschenke in seine Residenz schicken zu lassen. Kang hat die Einladung zu einem Treffen noch nicht angenommen, aber er weiß, dass bald die Zeit gekommen ist, diese Rolle zu übernehmen.
Er wünschte, er könnte in die Stadt gehen. So tun, als wäre er einer von vielen, in die Menge eintauchen und seine Gedanken klären. Aber es ist ihm nicht gestattet, das Palastgelände zu verlassen. Manchmal holt ihn die Erinnerung an jenen Nachmittag auf dem Markt ein. Als er für einen Moment so tat, als wäre er nur der Sohn eines Gelehrten, der die Bekanntschaft einer Fremden machte, aber die Erinnerung währt nicht lange. Am Ende läuft unweigerlich alles stets zu demselben Bild zusammen, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hat: Ning, die ihn mit zerrissener Miene in der Halle des Ewigen Lichts anstarrt.
Der Herold kündigt die Ankunft des Generals an, des kaiserlichen Regenten. Kangs Vater strahlt eine Aura von Kraft und Würde aus – dass dieser sein Äußeres mit Bedacht ausgewählt hat, weiß Kang. Der General trägt eine zeremonielle Rüstung, um die Beamten an seinen Werdegang zu erinnern sowie an die Macht, über die er verfügt. Er schimmert im Licht, glänzt golden von Kopf bis Fuß – fast zu hell strahlend, als dass man ihn direkt anschauen könnte, scheint er mit der Sonne selbst zu konkurrieren. Kang ertappt sich dabei, wie er strammsteht, sein Körper reagiert automatisch auf die Ankunft eines Höherrangigen. Daran sollte er denken, an seine Aufgabe: auf Befehle warten, Disziplin wahren, genau wie die Soldaten, die die Mauern des Hofes säumen, mit auf dem Boden aufgepflanzten Lanzen, deren funkelnde Spitzen an ihr tödliches Potenzial gemahnen.
»Ich habe euch Gerechtigkeit versprochen«, dröhnt der General und spricht zu dem versammelten Hofstaat, so, wie er es auch mit seinen Soldaten tut. »Das Ministerium hat diejenigen für schuldig befunden, die der ehemaligen Prinzessin und ihren Mitverschwörern geholfen haben. Ihr werdet Zeugen ihrer Bestrafung werden als Erinnerung daran, dass Dàxī sich nicht einschüchtern lässt von Kräften, die den kommenden Frieden stören wollen.«
Unter den Beamten macht sich ein Raunen breit, und sie tauschen beunruhigte Blicke.
Aus Richtung des Tores erscheint ein hünenhafter Mann, der ein langes Beil schwingt. Hinter ihm folgt eine in Ketten gelegte Gestalt, die von Soldaten der Palastwache über den Platz gezerrt wird.
Der General beabsichtigt, ein Exempel seiner Macht zu statuieren, so viel ist klar. Um alle wissen zu lassen, dass er die Mittel hat, jede Art von Drohung umzusetzen. Ein Sieger zögert nicht , hat sein Vater ihm eingebläut. Seine Mutter war jedoch geschickter in Sachen Diplomatie. Sein Vater bezeichnete sie als die andere Schneidenseite seiner Klinge. Die eine verkörpert Stärke, die andere Barmherzigkeit.
Und jetzt werden Kang und ganz Dàxī zu sehen bekommen, wie sein Vater herrscht – und zwar mit nur einer Seite der Schneide.
Kang richtet seine Aufmerksamkeit auf die Beamten und beobachtet ihre Reaktionen, als der Scharfrichter sein Beil an einem Stein wetzt. Einige verziehen das Gesicht, während andere wie erstarrt sind, aber alle scheinen unangenehm berührt von dieser demonstrativen Zurschaustellung.
»Hu Zixuan«, liest der Herold den Namen des Mannes vor, der vor dem kaiserlichen Regenten gewaltsam auf die Knie gezwungen wird. »Du hast deine ehrenvolle Position als Palastwächter besudelt. Du hast der Prinzessin bei ihrer Flucht aus der Stadt geholfen und wirst dafür zum Tod durch Enthaupten verurteilt.«
Der Mann blickt den kaiserlichen Regenten mit leerer Miene an. Er zeigt keinerlei Gefühlsregungen, keine Angst oder Traurigkeit oder Zorn. Es ist eine andere Art inbrünstigen Glaubens. Die Bereitschaft, sein Leben für die Sache hinzugeben, ohne Bedauern. Kang spürt einen Stich der Bewunderung angesichts der Hingabe, die der Mann demonstriert.
Er zwingt sich dazu, sich an sein Versprechen zu erinnern. Er wird der würdige Nachfolger sein, den sein Vater in Zeiten wie diesen braucht, auch wenn er mit einigen seiner Methoden nicht einverstanden ist.
Das Beil fällt herab. Kang zuckt nicht mit der Wimper, während einige der Hofbeamten mit den Händen ihre Gesichter verdecken, um ihr Entsetzen und ihre Abscheu zu verbergen. Die Abrechnung, die sein Vater versprach, hat begonnen.
Am Abend werden die führenden Köpfe der Ministerien zu einer Ratssitzung mit dem Kaiser einberufen. Kang sitzt rechts neben seinem Vater, auf einem Ehrenplatz gegenüber dem Kanzler. Er fühlt sich unwohl in seiner neuen, steifen Robe in Purpur, der Farbe, die einem Mitglied der königlichen Familie gebührt. Im Rücken seines Vaters steht ein kleiner grüner Paravent, hinter dem, vor Blicken verborgen, der Hofarzt und die Vorkoster sitzen. Ihnen obliegt es, von allem, was dem kaiserlichen Regenten über die Lippen kommen soll, einen Bissen zu nehmen, damit dieser vorgewarnt ist, sollte sich Gift darin befinden.
Der neue Leiter der Palastabteilung, der sich unbedingt gegenüber seinem glücklosen Vorgänger beweisen will, hat dem General versichert, dass jedwede Vorsichtsmaßnahme getroffen worden sei. Alle wurden einer genauen Prüfung unterzogen – die Mitglieder des Küchenpersonals, die Diener im Inneren Palast und die Familien der Hofärzte. Aber wer weiß schon, welcher Diener sich als Loyalist erweisen wird? Und welcher Beamter immer noch den Wunsch hegt, dass die Prinzessin auf ihre frühere Position zurückkehrt?
Kang starrt die vier Minister der Reihe nach an und wünschte, er hätte die Fähigkeiten der Shénnóng-shī und könnte in ihre Gedanken eindringen. Der neue Hof-Shénnóng-shī muss nach den Todesfällen beim Festbankett noch offiziell eingeführt werden, und die Minister warten auf seine Entscheidung, ob er das Amt immer noch annehmen will. Kang hat Ning die Wahrheit gesagt, als sie im Dämmerlicht im Innenhof des Palastes standen. Shénnóng-shī haben sich nie für Lǜzhou interessiert, denn welchen Nutzen hätte eine Insel voller Verbannter und Banditen für Wünschelrutengänger und Wahrsager?
Nach einer Mahlzeit mit gebratener Gans und Kohl, heruntergespült mit reichlich Osmanthuswein, werden die Teller abgeräumt, und Kang muss feststellen, dass er immer noch nervös ist, trotz seines Versuchs, seinen Magen mit Alkohol zu beruhigen. Denn seit der Zusammenkunft mit seinem Vater und dem Kanzler graut es ihn vor der bevorstehenden Verlautbarung. Ein geeigneter Erbe.
Er starrt auf den bestickten Ärmel seiner Robe hinunter. Purpur durchwirkt mit silbernen und blauen Fäden, sich kräuselnde Muster in der Anmutung von Wellen. Sie bewegen sich und schwanken unter seinem Blick, Kang schwindelt leicht. Er hatte zu viel von dem Wein.
Der Kanzler klatscht in die Hände, und die Musik verstummt, der Raum versinkt in Stille. Die Musiker gehen hinaus, genau wie die Diener und Vorkoster, und lassen den Rat seine Sitzung fortsetzen.
»Ich habe Sie heute hier zusammengerufen, um über die Zukunft des Reiches zu sprechen. Darüber, wie wir eine rasche und widerstandslose Thronbesteigung sicherstellen können«, sagt Kanzler Zhou an die Minister gewandt.
Minister Hu ergreift als Erster das Wort. »Das Justizministerium möchte vermelden, dass unsere Ermittlungen gegen das Palastpersonal andauern.« Er erinnert Kang an einen nervösen, pickenden Vogel, der ständig über seine Schulter blickt. »Morgen werden fünf weitere Diener dem Urteil des kaiserlichen Regenten entgegensehen.«
»Weitere Hinrichtungen?« Minister Songs Nasenlöcher blähen sich, seine Miene spiegelt Abscheu.
»Ich erwarte von einem Gelehrtenbeamten nicht, dass er versteht, wie die Disziplin unter der breiten Masse der Bevölkerung aufrechtzuerhalten ist«, knurrt der Kriegsminister.
»Und ich erwarte nicht, dass ein Barbar die Komplexität des Regierens versteht«, kontert der Minister für Rituale, unbeeindruckt von der Kritik.
»Sie –«
»Genug!« Der General bringt sie mit einem einzigen Wort zum Schweigen. Seine Wangen sind gerötet, aber der Blick seiner Augen ist klar. »Ich habe unter Mitwirkung des Ministers sowie seiner verschiedenen Abteilungen das Buch der Rituale konsultiert. Die Überflutungen im Norden und der Bauernaufstand sind zu unserem Vorteil. Das Volk zweifelt bereits, ob die Prinzessin überhaupt zur Herrschaft geeignet ist. Wir werden jedoch nur den Beweis antreten können, dass sie unwürdig ist, wenn wir dem Volk Einigkeit vermitteln und Zeichen setzen, dass Dàxī zu seinem alten Ruhm zurückkehrt. Angefangen mit einem Plan für meine Nachfolge, indem mein Sohn als mein Erbe ausgerufen wird.«
Eine Zeremonie, die der Prinzessin vor der Erkrankung ihres Vaters nie zuteilgeworden ist, was Zweifel an ihrer Legitimation als Thronanwärterin aufwirft.
Keiner der Minister erhebt Einwände, und etwas in Kang beginnt zu rumoren. Ist es die Erleichterung, dass er nicht als unwürdig abgeurteilt wurde? Oder ist es Furcht? Er ist sich nicht sicher.
»Und danach verkünden wir die Unterstützung durch die Klöster und Akademien.«
Minister Song hebt eine Augenbraue. »Ihr habt die Unterstützung von den Säulen des Reiches?«
Kang entgeht nicht, dass dies den normalerweise so stoischen Minister überrascht, denn die Klöster und Akademien der Götter sollten von der Politik des Hofes getrennt sein. Sie haben aufklärende und beratende Funktion, sollen sich aber niemals einmischen. Nur in Zeiten großer Not treten sie auf den Plan, so wie einst, als sie den ersten Kaiser bei der Gründung von Dàxī unterstützten.
»Bringt sie herein!«, befiehlt der Kanzler.
Drei Gestalten schreiten durch eine Seitentür des Raums. Sie sind in weite Tuniken und Hosen gekleidet. An ihren Handgelenken glänzen Spangen aus Metall, in die Linien und Formen eingeätzt sind. Diese Muster setzen sich auf ihrer Haut fort, erstrecken sich über ihre braunen Arme. Doch es sind keine Tätowierungen wie die im Gesicht seines Vaters; es handelt sich um ein Netz von Narben, entstanden bei ihrem Training, das auch die Abhärtung der Haut durch Stockhiebe oder das Anlegen von Seilfesseln umfasste. Es sind Wǔlín-Krieger.
Kang hatte die Ehre gehabt, in der dritten Runde des Wettbewerbs gegen eine Vertreterin dieser ehrwürdigen Kämpfer anzutreten, schämte sich jedoch zutiefst, als ihm gewahr wurde, dass er dabei negativ durch die Magie von einem der Shénnóng-tú beeinflusst worden war. Es fühlte sich an wie Verrat an seinem Lehrer.
Allerlei Erinnerungen drängen an die Oberfläche: Als er zwölf Jahre alt war und immer noch voller Wut über sein neues Leben. Als es ihm so vorkam, alle würden ihn anstarren und tuscheln. Fähigkeiten, mit denen er glänzen konnte, wie Schwertkampf und Reiten, hatten in dieser Welt keine Bedeutung. Beim Einholen der Netze stellte er sich tölpelhaft an, und beim Bootsbau war er sogar noch ungeschickter. Als er bei dem Versuch, sich vor den anderen Kindern zu beweisen, unter einer Riesenwelle fast zu Tode kam, sagte ihm der Wǔlín-shī, der ihn aus dem Wasser zog, dass er sich umbringen werde, wenn er sich weiter angetrieben von bloßem Willen und Verzweiflung in die Fluten stürzen würde. Wenn Kang interessiert sei, werde er ihm beibringen, wie er diesen Willen kanalisieren könne. Wie er ihn nutzen könne, um den Göttern besser zu dienen. Sein Vater gab die Erlaubnis, und Kang trainierte mit ihm.
Lehrer Qu war ein furchtloser Kämpfer und ein Anblick, den man nicht vergisst. Er konnte mit der Kraft seines Körpers und geballter Energie leichterdings zehn Soldaten des Generals abwehren. Unter seiner Anleitung lernte Kang, wie Wasser zu fließen, anstatt dagegen anzukämpfen. Er lernte, wie er seinen Atem kontrollieren, wie er sein Herz langsamer schlagen lassen, wie er jeden Teil seines Körpers beherrschen konnte, indem er die Kraft seines Geistes nutzte. Er brachte ihm die Lehre Wǔlíns nahe. Schütze das Volk von Dàxī. Folge der Wahrheit, dem Gesetz, der Gerechtigkeit.
Eines Tages erwachte Kang, und sein Lehrer war fort. Erst Jahre später erfuhr er, dass sein Vater ihn verbannt hatte, weil er Kang vorgeschlagen hatte, mit ihm nach Wǔlín zu gehen. Um die Metallspangen anzulegen und dem Schwarzen Tiger zu dienen.
Die Wǔlín-shī stehen in der Mitte des Raums und verneigen sich vor dem General, bevor sie sich hinter ihm aufreihen. Legendäre Kämpfer, die bereit sind, dem Reich in Zeiten der Not zu dienen.
»Ich habe die Hilfe von Wǔlín erbeten, und sie sind bereit, meine Sache zu unterstützen. Ein leerer Thron löst einen gefährlichen Strudel aus, der das Reich zerstören könnte. Die Sommersonnenwende naht, die Rituale müssen vollzogen werden, andernfalls könnte Dàxī ohne den Schutz der Götter anderen Übeln zum Opfer fallen.«
Die Minister tauschen unbehagliche Blicke aus. Man sagt, dass die Essenz des Kaisers direkt in die Lebenskraft des Reiches einfließt. Darum vermutete man, dass die Erkrankung des ehemaligen Kaisers mit den unnatürlichen Vorkommnissen zusammenhing, die das Königreich heimsuchten – die Stürme, die Erdbeben. Die Götter waren unzufrieden.
»Innerhalb eines Monats muss es entschieden sein. Das Schicksal des Reiches steht auf dem Spiel«, verkündet der Kanzler.
»Und wenn nun die Prinzessin zurückkehrt und Euren Anspruch auf den Thron streitig macht?«, fragt Minister Song.
»Die Shénnóng-shī von Hánxiá werden sich in den nächsten Tagen im Palast für das Ernennungsritual versammeln, um den nächsten Hof-Shénnóng-shī ins Amt zu setzen. Meine Gesandten sind bereits in Yěliǔ«, fährt der General fort, völlig unbeeindruckt von düsteren Vorzeichen und möglichen Herausforderern. »Bald schon werden wir ihre Antworten erhalten. Wenn ich die Unterstützung der Armee und die der Götter habe, werden dann das Ministerium für Rituale und das Finanzministerium willens sein, meine Thronbesteigung vorzubereiten? Selbst für den Fall, dass die Prinzessin einen Anspruch geltend macht?«
»Das Finanzministerium wird den Kaiser unterstützen, auf den die Wahl des Hofes fällt. Das Schatzamt wird hinsichtlich der Zeremonie keine Kosten scheuen.« Die Finanzministerin Liu macht sich bereits Notizen und schreibt Zahlen auf, einen imaginären Abakus in den Händen. »Es wird ein rauschendes Fest werden, wie es das Reich seit der Hochzeit des Emporgefahrenen Kaisers und der Kaiserinwitwe nicht mehr gesehen hat.«
Nach einer kurzen Pause nickt Minister Song. Er steht auf und verneigt sich zum Zeichen seiner Ehrerbietung. »Wenn Ihr die Unterstützung von Hánxiá und Yěliǔ erhaltet, Eure Hoheit, bin ich sicher, dass der Hof folgen wird. Selbst eine Prinzessin vermag es nicht, sich den Göttern zu widersetzen.«