Kapitel 7

Ning

Eine unerwartete Welle von Gefühlen schnürt mir die Kehle zu. Das Gesicht von Elder Tai verschwimmt vor meinen Augen. Ich bin wütend über das Wiederauftauchen des Giftes, zornig, dass es drauf und dran ist, ein weiteres unschuldiges Leben dahinzuraffen. Die Quelle des Giftes wurde schadenfreudig vom Kanzler offenbart und dann durch den in Wenyis Brief geschilderten zeitlichen Ablauf bestätigt … Alles deutet auf Kangs Vater hin. Alles deutet auf Kang hin.

Ich kann es nicht vergessen. Ich war so eifrig bemüht, Entschuldigungen für ihn zu finden, aufgrund unserer einstigen Verbindung. Aber dies hier ist das Ergebnis ihrer Machtspielchen, und ich hasse diese verabscheuungswürdigen Methoden. Ich hasse diejenigen, die sich ihrer zu ihrem eigenen Vorteil bedienen.

»Kannst du den Jungen herbringen?«, frage ich Ruyi, meine Stimme zittert. Sie wirft mir einen fragenden Blick zu, aber ich starre nur zurück. »Bring ihn her. Bitte.«

Sie gehorcht, und ich nutze den Moment, um mich zu sammeln. Um meine zitternden Hände zur Ruhe zu zwingen.

Ich darf nicht zulassen, dass mein Zorn mich übermannt, und will nicht, dass Shu mich so sieht. Ich darf nicht ihre Genesung behindern, zumal ich weiß, dass sie die gleiche Hilflosigkeit und Frustration empfindet wie ich.

Es ist Zhen, die schließlich mit dem Jungen zurückkehrt.

»Wie heißt du?«, frage ich ihn. Der Junge spürt meinen Zorn und hält Abstand.

»Hongbo«, antwortet er eingeschüchtert, nachdem Zhen ihm einen leichten Stoß verpasst hat.

»Wie lange befindet sie sich schon in diesem Zustand?«, frage ich, diesmal etwas freundlicher.

»Sie ist jetzt schon seit einer ganzen Weile krank«, erwidert er, immer noch misstrauisch. »Seit einem der letzten Schneefälle des Jahres.«

»Weißt du, was sie krank gemacht hat?«

»Es war der Tee, hat der Gouverneur gesagt«, antwortet der Junge. »Er kam und nahm uns alle unsere Teeziegel weg. Der Kommandeur hat wochenlang rumgemeckert, weil sie versprochen hatten, eine neue Lieferung zu schicken, aber nichts kam.«

Ich denke darüber nach. Gouverneur Wang ist also auch hier vorbeigekommen. Unser vergifteter Tee wurde unter die Lieferung zum Mittherbstfest gemischt, und die nächste Zuteilung war wohl für das Dōngzhì, das Winterfest am Ende des Jahres, bestimmt. Aber Zhen hat nichts dergleichen aus den Berichten erwähnt, also haben die Nachrichten darüber die Hauptstadt vermutlich nie erreicht.

»Auch sie ist ein Grund, warum Herzog Liang hierblieb«, erklärt Hongbo zur Verteidigung des Herzogs weiter; wie es scheint, wurde er von allen sehr gemocht. »Er würde nie jemanden zurücklassen.«

»Haben sie die Elder hier reingebracht? Diese Soldaten da?« Zhen zeigt auf die Leichname.

Hongbo nickt.

»Was ist mit ihnen geschehen?«, frage ich den Jungen. »War das auch der Tee?«

Hongbo starrt mich an und runzelt die Stirn.

»Was ist mit ihnen geschehen?«, fordere ich mit Nachdruck, woraufhin sich sein Gesicht verzieht. Er beginnt zu weinen, und Zhen legt ihm einen Arm um die Schultern.

»Keine Angst, du steckst nicht in Schwierigkeiten«, murmelt sie, als er sein Gesicht an ihrer Seite vergräbt. Sie blickt mich an und warnt mich mit einem winzigen Kopfschütteln, ihn nicht zu arg zu bedrängen. Obwohl ich weiß, dass ich meine Frustration nicht an einem hilflosen Jungen auslassen sollte, bin ich nicht sicher, ob ich noch sehr viel länger die Beherrschung wahren kann.

Bevor ich etwas sage, was den Jungen noch mehr zum Weinen bringen könnte, drehe ich mich stattdessen um und knie neben den toten Soldaten nieder. Konzentriere dich. Achte auf die Details. Ich habe keine Angst vor dem Tod. An seinen Anblick gewöhnt man sich als Lehrling eines Arztes, da wir oft bei Bestattungsritualen assistieren.

Es dauert nicht lange, um die Todesursache festzustellen. Einer der Soldaten hat zwei Pfeile im Bein, der andere einen Pfeil in seinem Rücken, das dunkle Blut ist bereits zu einer Kruste getrocknet. Ich schiebe den Stoff beiseite, um ihre Haut zu betrachten, und bemerke dunkle Ranken, die sich an ihren Gliedmaßen entlangziehen. Ich öffne ihre Münder und sehe ihre geschwärzten Zungen. Ziehe ihre Lider hoch, und die gleichen schwarzen Verästelungen sind auch im Weiß ihrer Augen zu sehen.

»Warum haben sie Elder Tai an der Wand festgekettet, wenn sie doch so krank war?«, frage ich Hongbo, darauf achtend, meine Stimme möglichst ruhig klingen zu lassen. Unbedrohlich.

»Das haben die Soldaten getan«, sagt der Junge unter leisem Wimmern. »Sie ketteten sie an der Wand fest, weil sie die Tür blutig kratzte, beim Versuch herauszukommen.«

So, wie Shu festgebunden war, als ich sie fand, da sie laut den Worten meines Vaters im Fieberwahn des Nachts umherzuirren pflegte.

»Das kommt mir bekannt vor.« Zhen hockt sich neben mich. Offenbar bereitet ihr die Anwesenheit des Todes auch kein Unbehagen. Sie zieht einem der Soldaten vorsichtig einen Pfeil aus dem Fleisch.

Als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkt, grinst sie. »Was? Ich habe Ruyi oft genug verbunden, um auf den Anblick von Blut nicht zimperlich zu reagieren.«

Ich schnaube, und mein Zorn flaut etwas ab.

Zhen dreht den Pfeil zwischen ihren Fingern, ihre Miene wird wieder ernst. »Die Form der Pfeilspitze, das Holz des Schaftes … es ist die gleiche Art Pfeil, die fast Ruyi getötet hätte.« So, wie sich ihre Hand um ihn schließt, hege ich keinen Zweifel daran, dass sie den Leuten, die der Frau, die sie liebt, ein Leid angetan haben, ohne zu zögern, das Genick brechen würde.

Wenn ich Elder Tai helfe, bekommen wir von ihr vielleicht die Antwort auf die Frage, wer für dieses Massaker verantwortlich ist. Ich kehre zu Elder Tai zurück und berühre ihr Handgelenk, fühle ihren Puls. Offenbar hatten sie einen Arzt vor Ort gehabt, der ihre Symptome mit Arzneien in Schach halten konnte. Ohne diese Behandlung schwindet sie nun rasch dahin, ihr Puls geht langsam, ihr Atem ist schwer. Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit.

»Kannst du sie retten?«, fragt Zhen.

»Ich weiß es nicht«, antworte ich. Ich habe keine blumigen Worte zu bieten, keine Versprechen. Ich habe nur meine Magie. »Ich kann es versuchen.«

»Das ist alles, was wir tun können.« Sie nickt, dann schaut sie zu Hongbo hinüber, der an seiner Lippe nagt. »Du willst, dass wir Elder Tai helfen, nicht wahr?«

»Ja«, sagt er ohne das geringste Zögern.

Zhen zeigt mit dem Daumen in meine Richtung. »Sie ist eure beste Chance, um die Elder zu retten. Kannst du ihr helfen, das zu finden, was sie braucht?«

Ruyi begleitet mich und Hongbo in die Küche. Jedes Mal, wenn ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme, denke ich sofort, dass es Meuchelmörder sind, die uns auflauern. Aber es sind nur Schatten.

Im Licht der Fackel kommt angrenzend an die Speisekammer eine kleine Apotheke zum Vorschein. Sie ist recht gut ausgestattet, was mich nicht wundert, da wir hier hoch in den Bergen und fernab der üblichen Handelsrouten sind. Ich nehme eine Auswahl an verschiedenen Kräutern, die ich für den Transport einzeln in Papier einwickle. Zum Glück finde ich auf Anhieb lí lú und Lakritzwurzel, aber auch nachdem ich die Regalborde zweimal abgesucht habe, fehlt mir immer noch eine Komponente: das Perlenpulver, das meine Magie gut zu verstärken scheint. Ohne es bin ich möglicherweise nicht in der Lage, Elder Tai aus ihrem Zustand herauszuholen, aber wenn ich es nicht wenigstens versuche, überlassen wir sie dem sicheren Tod.

Als wir zum Tempel zurückkehren, verneige ich mich vor Bìxì, meine Handflächen zum Gebet aneinandergelegt, in der Hoffnung, dass sie uns Wohlwollen entgegenbringen wird, wenn sie sieht, dass wir versuchen, eine ihrer Getreuen zu retten. Ich bitte sie, dass sie des Mönchs Wenyi gedenkt, der einer ihrer Geweihten war, bevor er ihre Reihen verließ, um ein Shénnóng-tú zu werden.

Wenn ich jetzt an ihn denke, frage ich mich, was ihn zu dieser sonderbaren Reise bewogen hatte. Ich wünschte, ich hätte ihn dazu befragen und ihn besser kennenlernen können. Was ihn von Ràohé nach Yěliǔ führte, von Bìxì zu Shénnóng und dann weiter zu einem Magie-Wettbewerb in den Palast. Aber ich werde nie die Möglichkeit dazu bekommen. Ich verspüre einen Anflug von Traurigkeit, der ein Frösteln mit sich bringt, das den letzten Rest meiner Zorneshitze vertreibt.

In unserer Abwesenheit haben Zhen, Shu und Fei die Flammen in der Feuerschale neu entfacht. Ich glaube nicht, dass Bìxì die Verwendung ihres heiligen Feuers, um eine ihrer Zhīcáng-sī zu retten, missbilligt. Ich stelle den Kessel, den ich aus der Küche mitgenommen habe, nah an die Glut, damit das Wasser siedet, dann gehe ich in den Raum nebenan, um dort die notwendigen Vorkehrungen zu treffen.

Ruyi und Zhen haben die Leichname der Soldaten hinausgeschafft, aber der Gestank hängt immer noch nach. Ich stelle Hu-yis tönerne Kanne und die Tassen auf eine Webmatte auf dem Boden neben die Elder. Die Oberfläche der Tassen fühlt sich rau an und kratzt an meinen schwieligen Fingern, aber das Geschirr ist so wie das von meiner Mutter früher und mir daher vertraut. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen habe ich auch Utensilien aus den Yěliǔ-Küchen stibitzt, wenngleich sie niemand vermissen wird. Ich löffele den Hochsommertee in die Kanne. Diese Sorten zählen nicht zu den zartknospigsten mit den hellsten Aromen, sind aber auch nicht wie die Herbsttees, die dem Getränk Tiefe verleihen; Sommertees sind stark und neigen zu Bitterkeit. Ich benötige den Wirkstoff daraus, denn ohne einen d ān oder eine vorherige Verbindung zu Elder Tai brauche ich alles an Stärke, was ich aufbieten kann, um die Sache durchzuziehen.

Auf meine Anweisung hin bringt mir Ruyi den Kessel mit dem sprudelnden Wasser, und ich gieße es in die Kanne. Der Duft des Tees steigt in die Luft und verbindet sich mit dem Geruch des Fackelfeuers und dem des Räucherwerks, das ich oberhalb des Kopfes der Elder in einer kleinen Schale entzündet habe – Storaxbaum für Klarheit und Konzentration.

Als ich den Tee in die Tasse gieße, entfaltet sich meine Magie und dringt in die Fasern des lí lú sowie in die feinen Raspeln der Lakritzwurzel. Ich trinke einen Schluck von der goldenen Flüssigkeit, die eine brennende Spur durch meine Kehle zieht. Zhen kippt den Kopf der Elder ein Stück nach hinten, und ich gieße ihr ein feines Rinnsal in den Mund. Mit ihrer ruhigen Hand und ihrer gelassenen Präsenz erweist die Prinzessin sich mir als wohltuender Beistand; wir haben eine solche Aufgabe schon einmal zusammen gemeistert.

Nebel legt sich über den Raum und verhängt mir die Sicht. Ich zerteile den Schleier, als würde ich einen Perlenvorhang auseinanderschieben, und finde meinen Weg in den Shift.

Mit jedem Mal fällt es mir leichter, dennoch fühlt es sich noch immer so an, als müsste ich einen Teil von mir selbst aufgeben. Um darauf zu vertrauen, dass die Magie mich auffangen wird, wie Lian es beschrieb. Sich der Magie hinzugeben, ist wie ein Tod, wie von einer Klippe zu springen und sich in den ewigen Abgrund zu stürzen. In diesen Raum zwischen Wachsein und Träumen, darauf hoffend, dass die Götter antworten werden.

Da ist immer dieses leichte Zögern, dieses Flüstern der Angst in meinem Hinterkopf, dass es eines Tages keine Antwort geben wird. Aber Shénnóng erhört mich, und ich finde mich auf einer Straße wieder, in einer Stadt, die ich nicht erkenne. Nebel umwallt meine Knöchel und verschleiert den Weg vor mir, so dass ich nur zwanzig Schritte weit sehen kann.

Die Mauern auf beiden Seiten sind hoch. Zu meiner Rechten ist ein verschlossenes Tor. Ein verblichenes, abblätterndes Neujahrsbanner baumelt daran. Ich gehe näher, drücke mit den Fingern gegen eine der Türen, und meine Hand verschwindet. Ein leises Frösteln durchfährt mich, und ich reiße meine Hand zurück.

Dies hier ist nicht der richtige Weg.

Ich folge der Straße weiter geradeaus und versuche zu erkennen, was sich vor mir befindet. Es liegt ein Geruch in der Luft, der mir leicht in der Kehle kratzt. Als ob irgendwo in der Ferne ein Lagerfeuer brennen würde. Ich komme an noch mehr Toren vorbei, doch je weiter ich gehe, desto schmutziger werden die Mauern, beschmiert mit irgendeiner schwarzen Substanz. Die Türen sind nicht mehr unversehrt – viele von ihnen sind zerbrochen, aber durch die Lücken und Ritzen sehe ich nur wirbelnde Dunkelheit. Ich hüte mich davor, hindurchzutreten.

Die Stränge der Magie in mir ziehen mich vorwärts. Unsere geteilte Tasse Tee bindet mich an die Person, die auf der anderen Seite wartet. Die Straße endet an einem großen Tor zwischen zwei steinernen, übermannsbreiten Pfeilern. Dahinter liegt ein weitläufiger Hof. Er muss einst wunderschön ausgesehen haben, voller Sträucher und Blumen, aber alle Pflanzen sind welk oder tot. Unkraut sprießt durch die Risse aufgebrochener Pflastersteine. Wie ein kleines Kind recke ich den Hals, um das Schild am Tor zu lesen: TAI SHAN ZHUANG . Die Familie muss recht wohlhabend gewesen sein, um eine solche Residenz zu unterhalten.

Ich gehe den Weg entlang und bleibe vor einem Baum stehen, der mitten im Garten liegt. Innen ist er hohl, an den Enden verkohlt, als wäre er ausgebrannt. Vorsichtig klettere ich darüber hinweg, und das Holz ächzt unter meinem Gewicht. Als ich mich auf die andere Seite hieve, sehe ich den hinteren Teil des Hofes. Der Weg beschreibt einen Bogen, und vor mir liegt ein Teich, an seinem Ufer ragt ein Pavillon mit schwarzen Säulen und einem geschwungenen, rot geschindelten Dach auf. Wie ich mir wünsche, ich könnte diesen Ort in seiner früheren Pracht sehen anstatt in seinem jetzigen heruntergekommenen Zustand. In der Ferne schält sich der Umriss eines Hauses aus dem Nebel.

Im gleichen Moment bemerke ich eine Gestalt, die am Rand des Pavillons sitzt und mit den Fingern durchs Wasser streicht. Zu ihr führt mich die Magie. Die Gestalt reagiert nicht auf mich, als ich mich nähere und die Stufen zum Pavillon emporsteige. Im Profil betrachtet, scheint sie ungefähr so alt wie Zhen zu sein. Sie trägt ein zartes, besticktes Gewand in einem blassen Rosa wie samtene Blütenblätter und dazu einen Rock in einem dunkleren Rosaton. Ihr Haar ist streng zurückgekämmt, so, wie es einer Tochter von Adel geziemt, und festgemacht mit einer silbernen Haarnadel. Sie ist das Einzige, was leuchtet an diesem dunklen Ort, der umgeben ist von Verfall und Niedergang.

Als ich vor der Gestalt stehe, dreht sie sich endlich zu mir um und schaut mich mit traurigen, müden Augen an. Sie hat keinerlei Ähnlichkeit mit der Frau, die zusammengerollt auf dem Steinpodest lag. Sie sieht aus, als ob sie noch ihr ganzes Leben vor sich hätte, um zu tun, was immer ihr Herz begehrt.

»Elder Tai«, sage ich und verbeuge mich zur Begrüßung.

Sie neigt ebenfalls ihr Haupt. »Was tust du hier? Du gehörst nicht an diesen Ort.«

»Sie gehören auch nicht hierher«, erwidere ich. »Sie sind vergiftet worden.« Ich weiß nicht, wie viel Zeit ihr noch bleibt; wenn sie bereitwillig mit mir geht, besteht eine größere Chance, dass ich sie noch rechtzeitig in ihren Körper zurückholen kann.

Sie runzelt verwirrt die Stirn, dann blickt sie sehnsüchtig zu dem Anwesen in der Ferne. »Ich war seit Jahren nicht mehr in diesen Gärten.«

Sie schwenkt eine Hand durch die Luft, und ich bemerke eine Veränderung. Ich sehe, wie sich der Nebel hebt. Plötzlich ist der Teich klar, unter seiner Oberfläche tummeln sich orangefarbene und weiße Fische. Die Bäume stehen üppig und grün, und das Orange der Osmanthusblüten zeichnet sich leuchtend gegen die Blätter ab.

»Es gibt Menschen, die in Yěliǔ auf Sie warten.« Ich lehne mich vor, um der Dringlichkeit meiner Worte Nachdruck zu verleihen. »Kinder, für die Sie immer noch verantwortlich sind.«

Ich strecke ihr meine Hand hin, in der Hoffnung, dass sie sie ergreift, dass die Verbindung zwischen uns mir erlauben wird, sie aus dem Zauberbann herauszuziehen. Dann können die Wirkstoffe des Gegenmittels ihre Arbeit tun, um ihr Fieber zu stabilisieren und ihr rasendes Herz zu beruhigen.

»Ah ja … die junge Fei und der dickköpfige Hongbo.« Etwas Klarheit kehrt in ihre Augen zurück, eine Erinnerung an die Person, die sie mal war, und an das Leben, das sie bereits gelebt hat, bevor dieser Ort sie zu sich holte. »Ich hörte ihre Stimmen, aber ich dachte, ich würde träumen.«

Ein plötzlicher Windstoß weht mir das Haar zurück. Ich erschauere. Aus der Richtung des Tores erklingt ein seltsames Pfeifen, ein durchdringender Laut wie von einer zu scharf angeblasenen Bambusflöte.

»Hörst du es …«, flüstert sie, ihre Aufmerksamkeit schwindet wieder, und sie richtet den entrückten Blick gen Himmel. »Ich höre ihren Ruf.«

»Die Flöte?«, poltere ich heraus. »Hören Sie nicht hin.«

In diesem disharmonischen Ton lauert Gefahr.

»Aber sie klingt so lieblich …« Wieder legt sich ein verträumtes, seliges Lächeln auf ihr Gesicht. Das Pfeifen ertönt erneut, diesmal eindringlich und harsch. Ein stechender Schmerz durchzuckt meinen Arm, und ich ziehe scharf die Luft ein. Als ich auf meinen Arm hinunterschaue, sehe ich, dass er von einem sonderbaren, pulsierenden Licht durchdrungen ist.

»Kommen Sie bitte mit mir«, flehe ich sie an. Etwas naht heran. Ich weiß nicht, wer oder was, nur, dass wir fliehen müssen. Wir müssen von hier fort, bevor es da ist.

Elder Tai blickt mich an und seufzt tief, als würde das Gewicht ihrer Erinnerungen schwer auf ihr lasten. »Mein Zuhause ist vor Jahren niedergebrannt. Nichts ist davon übrig.«

Dann greift sie nach mir, und als unsere Hände sich treffen, spüre ich die durch den Tee gestiftete Verbindung, wie die Magie sich ausdehnt, um zu ihr zu gelangen. Der Wind heult um uns herum wie zum Protest. Ich reiße die Arme hoch, um meine Augen vor der plötzlichen Stoßböe zu schützen, vor der aufgewirbelten Erde, die wie Nadelstiche auf meine Haut einprasselt. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit befällt mich und rüttelt die Erinnerung an jene Stürme wach, die in dem Dürrejahr die vertrocknete Erde um das rissige Flussbett aufpeitschten. Damals, als wir die ganze Zeit durstig waren.

Um uns herum beginnt der Pavillon zu bröckeln.

»Kommen Sie!«, rufe ich und ziehe sie hoch auf die Füße. Wir entkommen gerade noch rechtzeitig, bevor das Dach des Pavillons einstürzt. Das prachtvolle Haus in der Ferne kollabiert. Die Bäume und Sträucher um uns herum zittern, als hätten sie Angst vor dem, was kommt.

Ich versuche zu rennen, aber ihre Hände entgleiten mir. Ich drehe mich um und sehe, dass sie nicht ganz so real ist, wie sie gerade noch erschien. Sie schimmert leicht durchsichtig, und ihr eben noch so leuchtendes Gewand ist jetzt grau.

»Es ist zu spät«, sagt sie.

Ich werfe mich auf sie, stelle mir meine Magie als ein goldenes Netz vor, das sie wieder einfängt, aber meine Arme gleiten durch sie hindurch. Mit jedem Moment verblasst sie etwas mehr, Teile von ihr zerfallen zu Asche, die der Wind mit sich fortweht.

Elder Tai versucht zu sprechen, ihre Augen halten meinen Blick fest. »Er will Anspruch erheben auf das, was er schon immer als seins betrachtete. Das, was ihm beim ersten Mal genommen wurde … Halte ihn auf … zu spät.«

Sie verschwindet in einem Wirbel aus Staub.

Der Sturm umzingelt mich, ein brausender Strudel. Und ich stehe in seinem Auge. Als ich den Blick hebe, späht die Schlange auf mich herab und lässt ihre Fangzähne aufblitzen. Sie ist genauso riesig, wie ich sie aus Shus Traum erinnere. Ihre leuchtend roten Augen brennen sich in meinen Geist, als könnte sie jeden meiner dunkelsten Gedanken lesen, um sich daran zu ergötzen.

Ein greller Schmerz schießt meinen Arm hinauf und durchbohrt meinen Schädel, als hätte jemand einen Dolch in meine Stirn gestoßen. Mitten in den Hort meiner Seele.

Mit einem Schrei falle ich auf die Knie, stürze durch den Shift und zurück in meinen Körper.

Zurück in die Realität, wo mich die Gewissheit erwartet, dass ich versagt habe.