Kapitel 8

Ning

Als ich wieder zu Bewusstsein komme, liege ich der Länge nach ausgestreckt auf dem harten Steinboden, ein Schrei steckt noch in meiner Kehle. Meine Mundhöhle schmeckt nach Kupfermünzen. Einen Moment lang sehe ich die Gestalt der Schlange über mir. Ihr gewaltiger Kopf verdunkelt den Himmel und die ganze Welt. Um mich zu schützen, reiße ich die Hände hoch, aber der Schatten verblasst, und meine Augen stellen sich wieder scharf.

Es ist Zhen. Sie ruft meinen Namen, greift nach meinen fuchtelnden Händen und hält sie fest.

Mein Kopf pocht vor Schmerz. Als ich aufhöre, mich zu wehren, lässt Zhen sie los, und ich krabbele auf allen vieren zu Elder Tai hinüber. Ich muss mit eigenen Augen sehen, was geschehen ist. Ich lege ihr meine Finger an den Hals, in der verzweifelten Suche nach einem Puls, nach irgendeinem Anzeichen, dass dies alles nur ein schrecklicher Traum war.

Aber es ist real. Sie hat diese Welt hinter sich gelassen.

Ich setze mich schwer auf die Fersen zurück und spüre, wie mir alle Kraft aus den Gliedern schwindet.

»Es tut mir leid«, sage ich zu ihr. Zu der Hüterin, die ihr Leben dem Streben nach Weisheit und dem Erteilen von Rat gewidmet hat. Zu dem jungen Mädchen, das ich in ihren Erinnerungen traf und das alles verlor. Das Mädchen, dessen Leben sich so veränderte, bis es schließlich hier endete. Bei mir. »Ich war nicht stark genug.«

»Du hast dein Bestes getan.« Zhen versucht, mir Trost zu spenden, aber ich will nichts davon hören.

Ich rappele mich hoch und drängele mich an ihr vorbei, ohne mich für meine Respektlosigkeit zu entschuldigen. Es gibt hier keinen Ort, an dem ich Gnade finden könnte. An der Wand stehend, werde ich vom Gewicht des Selbsthasses beinahe erdrückt. Diese Hilflosigkeit, die mich umgab, als meine Mutter starb, und dann die ständige Sorge, als ich Nacht für Nacht an Shus Bett saß.

Ich dachte, wenn ich die Magie bereitwillig annähme, wäre der Weg frei. Dann hätte ich sämtliche Antworten und Lösungen in den Händen. Aber jetzt stelle ich fest, dass es immer noch nicht genug ist. Ich werde nie genug sein.

Ich trete staubaufwirbelnd eine Teekanne gegen die Wand. Ich ergreife einen Korb und schleudere ihn in ein Regal. Schriftrollen fliegen durcheinander, und auch ihnen verpasse ich einen Tritt. Jemand packt meinen Arm, und ich knurre denjenigen an, der dumm genug ist, mich anzufassen. Es ist Shu, die zu mir hochsieht, mit Augen, die denen meiner Mutter so ähneln.

»Ich sagte dir doch, du sollst draußen bleiben!«, schreie ich sie an, denn es ist leichter zu schreien, als weinend zusammenzubrechen.

»Du hast mich gerettet«, ruft sie mir zaghaft in Erinnerung. »Du hast dein Bestes gegeben.«

»Mein Bestes ist nicht genug .« Ich entreiße ihr meinen Arm und wende mich von ihr ab, um in der Ecke meine Wunden zu lecken. An die Wand gestützt hole ich tief Luft, bis mein Zorn abgeebbt ist und nur noch Beschämung zurückbleibt. Ich bin kein Kind mehr; ich kann nicht mehr einfach in den Wald rennen, um dort zu schreien und zu weinen.

Als mein Kopf wieder einigermaßen klar ist, stelle ich fest, dass ich allein in der Kammer bin. Zhen und Ruyi sind tief in ein Gespräch vertieft, als ich in den Hauptraum des Tempels zurückkehre. Shu und die Kinder hören ihnen aufmerksam zu.

Zhen winkt mich heran, als sie mich sieht, und alle verhalten sich so, als hätten sie nicht bemerkt, dass ich gerade meine Fassung verloren habe.

»Wir müssen weiter nach Norden und schauen, ob wir die Spur des Kommandeurs aufnehmen können«, erklärt Ruyi. »Wir werden sehen, ob wir diejenigen finden können, die dem Kaiser der Nächstenliebe in Kallah noch die Treue halten.«

»Einverstanden.« Zhen nickt. »Wir werden heute Nacht hier schlafen und morgen Vorräte und Ausrüstung zusammensammeln, bevor wir uns über den Pass schlagen. Haben wir eine Karte der Region?«

»Ja«, antwortet Fei. Ihre Augen sind rot gerändert vom Weinen. Wieder krampft mein Herz sich zusammen. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich das Leben der Elder nicht gerettet habe, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken.

Nachdem Zhen uns aufgefordert hat, uns nachtfertig zu machen, zieht Ruyi mich beiseite.

»Ich erinnere mich an den Verlust derer, die ich nicht retten konnte«, sagt sie, und ihre Stimme klingt belegt. »Bewahre sie im Gedächtnis. Das wird dir helfen, um weiterzumachen, selbst wenn du das Gefühl hast, dass du nichts mehr zu geben hast.«

Ich nicke, denn ich bin nicht sicher, was passieren wird, wenn ich versuche, etwas zu sagen. Wenn ich anfange zu weinen, werde ich möglicherweise nie mehr aufhören. Von allen ist wahrscheinlich Ruyi diejenige, die mich am besten versteht. Nach dem, was Lian mir erzählt hat, wurde sie in jungen Jahren von zu Hause weggebracht. Was ist mit ihrer Familie geschehen? Wen hat sie verloren?

Ich betaste meine Seiten. Verborgen in meiner Schärpe steckt immer noch Wenyis Brief. Ich habe ihm in den unterirdischen Palastkerkern ein Versprechen gegeben. Ich werde seiner Familie seine Nachricht überbringen und ihnen erzählen, was ihm zugestoßen ist. Es gibt also eine Aufgabe, die ich noch erfüllen muss.

Ich präge mir Ruyis Worte ins Gedächtnis ein, zusammen mit den Namen jener, die ich verloren habe oder zurücklassen musste.

Mutter. Vater. Wenyi. Haushofmeisterin Yang. Kleiner Wu. Qing’er. Elder Tai.

Die Namen derjenigen, die ich an Gouverneur Wang, an den Kanzler und an den General von Kǎiláng verloren habe.

Ich werde dafür sorgen, dass sie dafür bezahlen, was sie getan haben.

Erschöpft falle ich in einen tiefen Schlaf, und Shu muss mich am nächsten Morgen wach rütteln. Wir befüllen unsere Flaschen mit Brunnenwasser und beladen die Satteltaschen der Ponys mit noch mehr Proviant. Ich wünschte, wir könnten die Leichen umlagern und für die Feuer- oder Erdbestattungsriten herrichten, damit ein Teil ihrer Seelen zu ihren Familien zurückkehren kann. Ich murmele eine Entschuldigung in die Luft und lasse sie wissen, dass ich eines Tages zurückkehren werde, um ihre Überreste aufzulesen und sie zur letzten Ruhe zu betten.

Hongbo besorgt uns aus der Bibliothek ein paar Karten, die uns über die Berge führen werden. Der Weg nach Kallah sollte verhältnismäßig einfach zu finden sein, aber wir müssen vor denen auf der Hut sein, die für das Massaker in Yěliǔ verantwortlich sind. Womöglich liegen sie im Wald auf der Lauer, oder vielleicht sind uns auch die Soldaten des Gouverneurs bereits auf den Fersen. Je eher wir Yěliǔ weit hinter uns lassen, desto besser.

Während die Sonne immer höher am Himmel emporklettert, versinkt Yěliǔ langsam zwischen den Bäumen, bis wir tief im Wald sind. Entlang des Weges finden sich ein paar kleine Schreine. Einige von ihnen bestehen nur aus Steinhaufen oder Steintafeln, in denen die Figur eines Vogels eingemeißelt ist. Es scheint, als habe die Herrin der Weisheit auch im Norden Einfluss, obwohl wir sie im Süden als unsere Schutzpatronin erachten. Es ist so, wie Lian sagt – es ist dieselbe Göttin, die über uns alle wacht. Daran ändert auch ein anderer Name nichts. Diese Huldigungen an sie bedeuten, dass wir in ihrem Reich wandeln, und der Gedanke spendet mir etwas Trost.

In dem Moment weiß ich, dass ich mit Shu über das sprechen muss, was passiert ist, als sie sich in den Fängen des Giftes befand. Ich grübele darüber nach, während Shu und Fei vorneweg gehen. Seit gestern ist das kleine Mädchen nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Bisher habe ich es vermieden, mit meiner Schwester darüber zu reden, damit sie diese schlimmen Erinnerungen nicht wieder aufleben lassen muss, aber mir wird klar, dass es mir im Grunde mehr darum ging, mich selbst zu schützen. Ich wollte nicht wissen, was sie alles durchmachen musste, während ich fort war. Doch wenn ich nicht riskieren will, noch jemanden zu verlieren, der mir lieb ist, muss ich mich diesen Ängsten stellen.

Ich schließe zu Shu auf, so dass wir Seite an Seite gehen, und bitte Fei, uns etwas Privatsphäre zu geben. Das kleine Mädchen hüpft los und gesellt sich weiter vorn zu Hongbo. Und dann herrscht zwischen meiner Schwester und mir nur noch erwartungsvolle Stille.

»Es … tut mir leid, was ich gestern gesagt habe«, beginne ich vorsichtig. »Ich hätte dich nicht anschreien dürfen.« Schon allein diese Worte auszusprechen, nimmt mir etwas Last von der Brust.

Shu schenkt mir ein kleines Lächeln und schüttelt den Kopf. »Du hast eine Menge durchmachen müssen«, sagt sie mit sanfter Stimme. »Ich hätte mir mehr Sorgen gemacht, wenn du so getan hättest, als wäre alles in Ordnung.«

Ich muss unwillkürlich lachen. »Du willst mir also sagen, ich sei keine gute Lügnerin.« Ihre einzige Antwort ist ein breites Grinsen, das ihre Zähne entblößt.

Im gleichen Augenblick weiß ich, dass mir vergeben wurde. Die Liebe meiner Schwester kommt von Herzen. Mein Vater hätte mich darauf hingewiesen, wie sehr mein Verhalten unsere Familie beschämt hat, aber Shu akzeptiert mich so, wie ich bin, ohne etwas dafür zu verlangen. Ohne sie werde ich für immer verloren sein; das erkenne ich jetzt. Sie will mein Vertrauen und nicht nur jemand sein, den ich beschützen möchte.

»Ich brauche deine Hilfe«, sage ich ihr. »Ich muss wissen, woran du dich erinnerst, als die Schlange dich im Wald gefangen hielt.«

»Der Wald …«, hebt sie zögerlich an. »Der Wald kam mir bekannt vor, dennoch war er anders als unser Wald. Dort herrschte eine gespenstische Stille. Es gab nirgendwo Geräusche von Tieren, deshalb hatte ich das Gefühl, es könnte ein Traum sein. Manchmal konnte ich Geflüster hören, jemand, der in der Ferne sprach. Ein anderes Mal hörte ich ein … Pfeifen, unmittelbar hinter mir. Aber als ich mich umdrehte, war niemand da.« Sie reibt sich die Arme, als ob sie frösteln würde. Ein Pfeifen. Genau wie bei mir mit Elder Tai.

»Was sagten die Stimmen?«

»Sie sagten, dass ich … hingehen sollte. Dass sie hätten, wonach ich suchte.«

»Wo wollten sie, dass du hingehst?«, frage ich.

»Die Stimmen sagten einfach nur, dass ich näher kommen soll«, flüstert sie. »Manchmal sah ich ein Reh im Unterholz. Ein anderes Mal war es ein Vogel. Die letzten Male … klang es wie Mutter.« Ihre Stimme bricht.

Mein Herz krampt sich schmerzhaft zusammen. Sie hätte dieses Grauen nicht erleiden dürfen, dieses Gift, das sich auf ihren Verstand auswirkte.

»Manchmal wachte ich auf, und ich befand mich immer noch im Wald. Doch dies war der Wald, den ich kannte, und ich wusste nicht, wie ich dorthin gekommen war. Meine Füße waren schlammig, und ich war allein und hatte Angst. Manchmal fand Vater mich und brachte mich zurück. Ich erinnere mich daran, dass er mich getragen hat; andere Male wachte ich einfach in meinem Bett auf. Es fiel mir immer schwerer zu unterscheiden, was Wirklichkeit war und was nicht. Ich sah Dinge, die gar nicht existieren sollten, und doch … sie waren da.«

Ich lege ihr einen Arm um die Schultern und drücke sie an mich, um sie daran zu erinnern, dass ich jetzt hier bin und sie nicht länger allein ist.

Der stetig ansteigende Weg den Berg hinauf geht in eine Reihe von Spitzkehren über, während das Gelände immer steiler wird. Wir wandern den größten Teil des Tages, aber als das Licht zu schwinden beginnt, entscheidet Zhen, dass wir für die Nacht anhalten, anstatt weiterzumarschieren. Die Gefahr, auf dem Bergrücken einen falschen Schritt zu tun, ist zu groß – wenn eine von uns ausrutscht, könnten wir in den Wald unter uns stürzen und uns sämtliche Knochen brechen. Auf einer kleinen Lichtung schlagen wir unser Lager auf und teilen unsere Vorräte. Als wir uns auf dem Boden niederlassen, verziehe ich schmerzerfüllt das Gesicht und reibe meine wunden Füße.

Fei und Hongbo plappern munter am Lagerfeuer daher, ihre anfängliche Schüchternheit ist verflogen. Wir verzehren getrocknete Früchte und Kuchen, während Zhen den Kindern Fragen über den Herzog stellt. Durch ihr Gespräch erfahre ich, dass der Herzog den Lehren des Emporgefahrenen Kaisers folgte, der das zerrissene Reich durch Zuwendungen aus seinen eigenen Kornkammern einte.

Zhen lacht und spricht ganz ungezwungen mit den Kindern, ohne jede höfische Förmlichkeit, und ihre Warmherzigkeit überrascht mich. Erst jetzt geht mir auf, dass sie sich bislang weitgehend abseits gehalten hat. Nun sitzt sie hier mitten unter uns, die Knie an die Brust gezogen, gelöst und aufgeschlossen, und gestikuliert mit einem Stück Wachskürbiskuchen in der Hand. Selbst Ruyi, die normalerweise stets auf der Hut und ernst ist, muss angesichts von Feis Possen lächeln.

In meine Decke gemummt schaue ich in den Nachthimmel jenseits des Blätterdachs des Waldes. Die Sterne leuchten besonders hell. Ich starre eine Weile zu ihnen hinauf, auch noch nachdem Shus Atem neben mir langsamer wird und der Wald in Stille versinkt. Ich wünschte, ich könnte in ihnen lesen, um zu erfahren, was noch auf uns zukommt, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Aber sie behalten ihre Geheimnisse für sich.

Der Schlaf bietet keinen Trost. Ich träume, dass ich von vieläugigen Hirschen gejagt werde, während Schatten hinter mir herhuschen und meinen Namen rufen.