Kapitel 12

Ning

Der Außenposten am Rand des Sees besteht aus einer Ansammlung von Gebäuden. Die meisten davon sind Holzhütten, teilweise verwittert und abgenutzt von Wind und Sonne. Aus der Nähe betrachtet ist der See sogar noch blauer. Ich vermute, dass das Wasser in dieser Höhenlage ziemlich kalt ist. Die schneebedeckten Gipfel in der Ferne sind wie wachsame Riesen, und der Anblick erinnert mich an die Erzählungen aus Geschichten aus dem Himmlischen Palast .

Irgendwann waren die ersten Götter müde von der Erschaffung der Erde und der Himmel und der Ozeane. Und so legten sie sich zur Ruhe, und ihre Körper wurden zu dem Bergland. Einst kannte man diese Berge unter einem anderen Namen – Gǔlún, das Knochengebirge –, aber nach der Entstehung des Reiches von Dàxī bekamen sie einen neuen Namen, und zwar den Namen des Gründungskaisers, ihm zum Gedenken: Kūnmíng, die Berge des Glanzvollen Friedens.

Shu und die Kinder lassen flache Steine über den See hüpfen. Die Ponys senken ihre Köpfe ins Wasser und trinken ausgiebig, ohne sich um die Kälte zu scheren. Ich werde gebeten, mich dem Rat hinzuzugesellen, der in einem der Zelte abgehalten wird, wo ein wärmendes Holzfeuer brennt.

Dies war eine Vorführung, eine Zurschaustellung der Macht der Schlange. Ich kann beinahe ihr schreckliches, schallendes Lachen in meinen Ohren hören.

»Wie ist es meinem Onkel möglich, sich eine solche Macht zunutze zu machen?«, fragt Zhen, ihre Stimme zittert vor kaum zu bändigender Wut. »Er hat Magie und die alten Götter immer verachtet. Er glaubte an Disziplin und Strategie, nicht an Magie.«

»Ich für meinen Teil erkenne darin kein Beispiel für magische Beeinflussung«, entgegnet Kommandeur Fan. Er hält meine Behauptung, dass die Schlange den Geist von Wǔlín-Kämpfern kontrollieren kann, für ausgemachten Unsinn und glaubt, dass sie lediglich Befehle des Generals befolgten. Dass sie sich selbst töteten, um zu verhindern, dass die Geheimnisse, die sie bewahrten, unter Folter ans Tageslicht kommen könnten. »Sterndeuter Wu, haben Sie je die Art von Dämon gesehen, von der dieses Mädchen berichtet?«

»Das liegt nicht im Bereich meiner Fähigkeiten.« Der Sterndeuter runzelt die Stirn. »Aber –«

»Damit steht die Sache fest«, unterbricht ihn der Kommandeur. »Wir sollten uns eine Strategie überlegen und diejenigen ausfindig machen, die dem Kaiser der Nächstenliebe treu anhängen, und sie dazu bewegen, sich uns anzuschließen, um gegen den falschen Prinzen zu opponieren und dafür zu sorgen, dass er nicht den Thron einnimmt. Die Prinzessin hat den größeren Anspruch. Wir sollten nicht über imaginäre Monster nachdenken.«

Er war nicht dabei, als der Schattensoldat seine kehligen Laute ausstieß oder als seine Augen vom Schwarz verschlungen wurden. Er sah nur, was er sehen wollte. Meine Hand ballt sich zur Faust, denn diese Art von Geringschätzung ist mir nur allzu vertraut. So, wie mich die anderen Teilnehmer des Wettkampfs ablehnten, weil ich aus einer ländlichen Provinz stammte und keinen namhaften Mentor vorzuweisen hatte. Die Leichtigkeit, mit der man mich zum Vorteil des Kanzlers als Spielfigur benutzte. Es scheint immer und immer wieder zu passieren, und ich bin es leid. Einen Moment lang denke ich über die von der Schlange versprochene Macht nach. Wie einfach es wäre, wenn ich sie alle durch die Kraft meiner Magie überzeugen könnte. Sie zwingen könnte zu sehen, was ich sehe, zu glauben, was ich glaube.

All dies schlucke ich hinunter. Diese Art von Macht hat immer ihren Preis, so verlockend sie auch sein mag.

Bevor ich etwas Übereiltes entgegnen kann, neigt der Sterndeuter sein Haupt. »Wenn du dich in Ruhe mit dem Kommandeur über die Strategie beraten willst, erlaube mir, dass ich währenddessen mit der Shénnóng-tú und deiner Leibwächterin spreche.«

»Natürlich.« Zhen nickt, während der Kommandeur mit der Hand winkt, voller Ungeduld, sich endlich einem anderen Thema zuzuwenden. Sie hebt eine Augenbraue in Ruyis Richtung, die auf diesen stummen Wink hin an meine Seite tritt.

Zusammen mit dem Sterndeuter gehen wir am Seeufer entlang, und kaum sind wir außer Hörweite, sprudeln die nur mühsam zurückgehaltenen Worte in einem Schwall aus mir heraus. »Wie konnte er einfach so abtun, was ich gesehen habe? Diese Soldaten verhielten sich nicht so, wie es Soldaten tun sollten.«

»Es gibt diejenigen, die sich weigern, die Wahrheit zu sehen, selbst wenn sie offen vor ihnen liegt«, sagt Sterndeuter Wu seufzend. »Manchmal ist es besser, sie zu umgehen, als zu versuchen, sie von einer Wahrheit zu überzeugen, die sie nicht begreifen können.«

»Kommandeur Fan genießt unter den Beamten bei Hofe großes Ansehen«, erklärt Ruyi. »Seine Familie hat ihre Verbindungen immer gepflegt, und er hat den Kaiser im letzten Bürgerkrieg unterstützt. Er weiß um die Gefahr für seine eigene Familie, wenn der General den Thron besteigt. Bedauerlicherweise sind wir auf seine Beziehungen, auf seinen Reichtum und seinen Einfluss angewiesen. Wir können es uns nicht leisten, ihn vor den Kopf zu stoßen.«

Sterndeuter Wu nickt. »Der General ist ein Mann, den er durchschaut und dem er etwas entgegensetzen kann. Aber eine Bedrohung, die ihm unbegreiflich ist, kann er nicht bekämpfen, und deshalb weigert er sich, sie als Realität anzuerkennen.«

Ich grüble über das Gesagte nach, während der Sterndeuter uns einen Pfad hinaufführt, der sich zwischen den Bäumen entlangwindet. Es gibt so viel, was ich über Magie nicht weiß, über meine eigenen Fähigkeiten. Je mehr ich lerne, desto deutlicher wird mir bewusst, dass ich nur ein kleines Sandkorn am Strand bin, das Gefahr läuft, mit den Wellen hinausgespült zu werden.

Und doch ist mir die gleiche Art von Beschränktheit und Voreingenommenheit schon einige Male untergekommen, sogar bereits als ich noch ein Kind war. Ich erlebte Menschen, die die Fähigkeiten meiner Mutter abtaten und ihre Magie in Frage stellten, aber trotzdem nie eine Tasse Tee mit ihr trinken wollten aus Angst, sie könnten unter ihren Einfluss geraten. Das habe ich nie verstanden. Wie kann man etwas fürchten, von dem man nicht einmal glaubt, dass es überhaupt existiert?

Das letzte Stück des Anstiegs ist eine Herausforderung, der Pfad stark überwuchert. Wir halten uns an Wurzelwerk und Baumstämmen fest, um uns den steilen Hang hinaufzuziehen. Oben angekommen finden wir uns an einem sonderbaren Ort wieder, verborgen vor fremden Blicken aus Richtung des Ufers.

Da steht ein Turm, weiß gebleicht von der Sonne, mit verwitterten, löchrigen Mauern. Die Vegetation in diesem Teil des Waldes ist dicht, aber um den Turm herum scheint nichts zu gedeihen. Mein Blick gleitet an seinen Mauern empor, bis zu seiner verjüngten, pfeilähnlichen Spitze. Jemand hat das Bauwerk mitten in den Wald gestellt, offenbar darauf bedacht, dass es nicht zu sehen ist. Dient der Turm der Huldigung? Ist er ein Schrein?

Durch die Bäume hindurch erspähe ich in der Ferne einen Schimmer des Sees. Der Wald um uns herum ist voller Leben, die Luft durchdrungen vom süßen Duft jungen Grüns. Einen kurzen Moment lang schwelgen wir in Zufriedenheit, fernab von den Sorgen des Kaiserreichs und den Intrigen des Hofes. Doch wir sind beladen mit der Bürde der Dinge, derer wir gewiss sind: die Schatten, die Schlange, das andere Reich.

Ich bemerke, dass der Sterndeuter darauf wartet, dass ich ihm wieder meine Aufmerksamkeit schenke. Mit einer kleinen Verbeugung bedeute ich ihm zu sprechen.

»Was du mir über die Schlange erzählt hast, ist beunruhigend«, sagt er. »Wir sprachen von der Dunkelheit, die aus den Sternen geweissagt worden ist, und ich glaube, dass die Zeit nun anbricht.« Er seufzte. »Ich nehme an, ihr seid mit der Legende der Zwillingsgötter vertraut? Der Drache und die Schlange?«, fährt Sterndeuter Wu fort, gleichermaßen an Ruyi und mich gewandt.

Wir nicken. Elder Guo erzählte die Geschichte den Shénnóng-tú während des Wettbewerbs, und für einen flüchtigen Moment frage ich mich, was wohl mit ihr geschehen ist. Ob sie nach Hánxiá zurückgekehrt oder noch immer im Palast ist. Ob sie eine von denen war, die dem Giftanschlag beim Festbankett zum Opfer fielen, ein Verbrechen, für das ich angeklagt und beinahe hingerichtet wurde.

»Der Drache wurde von der Großen Göttin aus den Wolken geformt, und da alle Dinge in der Schöpfung ausbalanciert sind, wurde die Schlange aus seinem Schatten aus dem Ozean erschaffen. Der Jadedrache rief den Regen herab und erschuf den Fluss, der die Fruchtbarkeit des Purpurtals sicherstellte. Die Menschen verehrten ihn, denn nur dank des Flusses sind wir in der Lage zu überleben. Die Schlange aber wurde neidisch auf die Bewunderung der Menschen für ihren Bruder. Sie betrachtete die Menschen als Spielzeuge, die ihrer Erbauung und Belustigung dienten, als mindere Geschöpfe, die sich vor ihr verneigen und ihr huldigen sollten. Sie verrückte die Erde unterhalb der Berge und schickte die Sintflut, ergötzte sich an ihrer zerstörerischen Gewalt. Sie erschuf Abscheulichkeiten, die aus den Tiefen des Meeres emporkrochen oder vom Himmel herabstießen, und sie genoss das Elend, das über die Menschen hereinbrach. Schließlich sagten die Götter, es sei genug.

Aber die Schlange nährte sich vom Schmerz und von der Angst der Menschen und wurde mächtig. Es brauchte die vereinte Kraft aller Götter, um sie niederzuschlagen. Mit einem einzigen Flügelschlag beförderte die Herrin der Weisheit sie in den abgelegensten Winkel des Reiches, wo sie eine Falle erwartete. Bìxì gab ihren Panzer her, um sie gefangen zu nehmen, und Shénnóng stieß eine magische Schuppe ab, mit der die Schlange in ihrer geschwächten Gestalt eingesperrt wurde. Der Tiger hackte sie dann in Stücke, bis sich ihr Blut in Strömen über die Erde ergoss und neue Flüsse und Seen entstanden. Der Jadedrache riss der Schlange ein Auge heraus, das Zentrum ihrer Magie, und warf es in die Untiefen der Östlichen See …«

Sterndeuter Wu zeigt auf die Berge in der Ferne, mit ihren unbeugsamen Gipfeln, die aussehen, als würden sie schon ewig dort stehen und auch noch lange nach unserem Tod da sein.

»Ihr habt bereits von den alten Namen dieser Berge gehört und von der Legende dahinter«, fährt er fort. »Doch manche glauben nicht, dass dieses Gebirge die Ruhestätte der ersten Götter ist. Stattdessen sagen sie, es wäre aus dem Körper der Schlange entstanden. Die Überlieferung dieser Geschichten ist in Kallah noch lebendig, aber der Rest des Kaiserreichs hat die Schlange vergessen. Wir wissen, dass die Schlange schläft, aber noch einmal erwachen könnte. Sie wird denen zuflüstern, die anfällig sind für ihren Einfluss, und sie werden weitere Helfer für die Schlange zusammenscharen.«

»Nur wie kann die Schlange ihren Einfluss verbreiten, wenn sie unter der Erde gefangen ist, wie die Legende besagt?«, fragt Ruyi.

»Die Schlange herrscht über das Schattenreich, das Reich der Träume und Albträume«, antwortet Sterndeuter Wu. »Dort ist sie am stärksten, und dort erhält sie Nahrung. Als die Prophezeiung über die Prinzessin aufkam, gab es Kräuselungen in den himmlischen Strömen. Es erhob sich ein Flüstern in der Dunkelheit, dass etwas nahte. Deshalb wurde ich ursprünglich nach Jia geschickt. Um den Kaiser zu benachrichtigen, aber er glaubte, dass er von irdischen Kräften bedroht sei. Und so sandte er Attentäter nach Lǜzhou aus, um seinen Bruder umbringen zu lassen, doch sie töteten versehentlich dessen Frau.«

Kangs Mutter. Von der er mit so viel Hochachtung und voller Gefühl sprach. Ihr Tod war der Funke, der die Unruhen entfachte, der die Dinge in Gang setzte, lange bevor der vergiftete Tee in Umlauf gebracht wurde. Sie könnte durchaus der Ursprung für all das sein.

Die Wege von Kang und mir werden sich eines Tages wieder kreuzen. Dessen bin ich sicher. Ob man es Magie, Schicksal oder Prophezeiung nennen mag, aber etwas verbindet uns. Ich erinnere mich noch immer an den Tag in der Höhle, als wir uns küssten – ich weiß, ich sollte diese Gedanken verscheuchen und ihnen nicht gestatten zu verweilen. Denn es könnte gut sein, dass ich am Ende eine Entscheidung fällen muss, die nicht von meinen eigenen Gefühlen erschwert werden darf.

»Der Kaiser schlug meine Warnungen in den Wind«, fährt der Sterndeuter fort. »Er dachte, wenn er die Seele seines Bruders zerstört, würde er ihm auch die Lust an der Rebellion austreiben. Ich blieb in der Hauptstadt, um die Prinzessin zu unterrichten und den Lauf der Sterne zu beobachten. Ich sah, wie sie ihren Kurs änderten, kollidierten und neue Bahnen einschlugen. Jetzt müssen wir uns auf das vorbereiten, was kommen wird.«

Er führt uns zu dem weißen Turm heran, und wir ducken uns durch den niedrigen Eingang hindurch. Drinnen ist es überraschend hell. Das Gebäude ist aus schmalen weißen Steinen erbaut, die sich, versetzt aufeinandergeschichtet, spiralförmig in die Höhe winden. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich, dass das Bauwerk aus geschnitzten … Schwertern besteht. Es müssen Tausende von Daos sein, die wie Ziegel aneinandergepresst wurden. Merkwürdig.

»Eins fehlt«, stellt Ruyi fest, scharfsichtig wie immer. »Dort oben.«

Mein Blick folgt ihrem Finger zu einer kleinen Lücke zwischen den Schwerterreihen.

Sterndeuter Wu blickt zu der Stelle hoch. »In diesem Turm war ein Schatz versteckt, den das Volk von Kallah jahrhundertelang hütete. Jemand hat ihn gestohlen. Man erzählt sich, es sei ein Knochenschwert gewesen, geschnitzt aus dem Oberschenkelknochen der menschlichen Gestalt der Schlange.«

Er blickt uns beide an und sagt in ernstem Tonfall, in dem eine deutliche Warnung mitschwingt: »Ich fürchte, sie ist bereits dabei, auf diese Welt zurückzukehren. Sie wird beenden, was sie vor Jahrhunderten begonnen hat, um Dàxī zu ihrer Spielwiese zu machen. Um dieses Reich zur Heimstatt ihrer Albträume zu machen.«

»Glauben Sie, dass jemand aus unserer Welt ihr als Gesandter dient?«

»Jemand ist ihr Gefäß, und durch diese Person wird sie flüsternd Einfluss nehmen, bis sie auf dieser Erde wandelt, so, wie sie es einst getan hat.«

Ich habe Angst, was die Worte von Sterndeuter Wu für uns bedeuten. Nicht nur für Shu und Vater, sondern nunmehr für ganz Dàxī.

Jedes Mal, wenn die Dorfbewohner von Prophezeiungen sprachen, wenn sie sich Geschichten erzählten von verbannten Prinzen und großen Jagden und vorbestimmten Schicksalen, ging es dabei eigentlich um jemand anders. Um eine Person mit größerem Vermächtnis als ich mit meiner bürgerlichen Abstammung und meinem ländlichen Dasein. Mir war bestimmt, die Gärten zu kultivieren, Pflanzen zu züchten und meinem Vater zur Hand zu gehen, bis es Zeit gewesen wäre, in seine Fußstapfen zu treten.

Nun haben zwei Legendengestalten meinen Weg gekreuzt – die prophezeite Prinzessin und der Verbannte Prinz –, die um die Zukunft des Kaiserreichs kämpfen. Aber was ist mein Faden in diesem komplizierten Geflecht?