Kapitel 13

Kang

Jeden Morgen beim ersten Hahnenschrei ist Kang fertig angezogen und bereit, um an der Seite seines Vaters dem morgendlichen Exerzieren der Palastwache beizuwohnen. Wenigstens daran hat sich nichts geändert. Es ist eine Routine, die ihm eingeprägt wurde, seit er alt genug war, um ein Schwert zu halten. Manchmal wacht er immer noch nächtens keuchend auf, in der Annahme, er hätte den Gong verschlafen und müsste zur Strafe nun Stockhiebe erdulden.

Vor noch nicht allzu langer Zeit war es sein Traum, das Vertrauen und die Unterstützung der Soldaten zu gewinnen. Sich einen eigenen Platz in ihren Reihen zu erobern. Dass er eines Tages seine eigenen Truppen anführen würde, um das Kaiserreich gegen alle zu verteidigen, die versuchen, es zu schwächen. Aber dieser Traum scheint unerfüllbar geworden zu sein.

Der General trägt stets die gleiche Uniform wie seine Kommandeure. Jederzeit ist er bereit einzuschreiten, um die Haltung einzelner Soldaten zu korrigieren, eine Position zu verbessern und, wenn nötig, sie persönlich zu demonstrieren. Das war von jeher seine Art, und es trug ihm die Beliebtheit seiner Truppen ein – einer von vielen Gründen, warum ihm seine Soldaten überallhin folgten. Auch ins Exil an die entlegensten Winkel des Reiches, um von dort zurück auf die Hauptstadt zu marschieren und sie dem Kaiser zum Trotz einzunehmen. Loyalität. Vielleicht hat er Wǔlín auf diese Weise überzeugen können, ihn zu unterstützen. Durch die Zuversicht, mit der er sich seiner Sache widmete, durch sein Versprechen, die Probleme des Reiches zu lösen.

Im Licht des neuen Tages erscheinen die Ereignisse der vergangenen Nacht wie ein böser Traum. Die Schreie der Shénnóng-shī, als man sie wegschleifte. Die zertrümmerte Statue von Bìxì auf dem glänzenden Holzboden, die in der eleganten Umgebung ganz und gar fehl am Platz wirkte.

Zum ersten Mal nehmen die Wǔlín-shī an den Trainingseinheiten des Generals teil und werden bei dieser Gelegenheit nun auch dem Hof präsentiert. Die Rekruten und sogar einige der Wachen glotzen sie an. Sie starren auf ihre schwarzen Gewänder und roten Schärpen, auf die Silberspangen an ihren Handgelenken, die sie von den anderen geharnischten Wächtern deutlich unterscheiden. Sie sehen genauso aus wie die Repräsentantin des Schwarzen Tigers, die Frau, gegen die er in der Finalrunde des Shénnóng-tú-Wettbewerbs kämpfte, und genau wie sein Lehrer, den er damals in Lǜzhou hatte – und der sich jetzt unter den Kämpfern befindet.

Wie es scheint, hätte Kangs Weg ihn hierhergeführt, egal ob er nun in Lǜzhou geblieben oder nach Wǔlín gegangen wäre. So oder so wäre er zurückgekehrt, um an der Seite seines Vaters zu dienen, und in gewisser Hinsicht ist dieser Gedanke tröstlich und stärkt seine Entschlossenheit. Es gibt einen guten Grund für den blutigen Weg seines Vaters zur Herrschaft. Er weiß es. Er muss daran glauben.

»Marschall Li!«, bellt sein Vater, und Kang, in einem Moment der Unaufmerksamkeit ertappt, nimmt rasch Haltung an. »Demonstriere den Rekruten die Positionen.«

Dass er ihn vor den versammelten Kommandeuren sowie den Wǔlín-shī auf diese Weise herausstellt, muss eine weitere Taktik seines Vaters sein, um ihn auf die Rolle des Prinzen vorzubereiten. Darauf, dass jeder seiner Schritte genau beobachtet und beäugt wird. Kangs Herz springt ihm in die Kehle.

»General?« Kaum hat er die Frage ausgesprochen, da erkennt er seinen Fehler. Er hüstelt und versucht schnell, die Situation zu retten. »Jawohl, Herr General! Welche Position?«

Der General sieht ihn mit zusammengekniffenen Augen an, und Kang schrumpft unter seinem Blick förmlich zusammen. »Alle.«

Kang steht vor den Reihen der Rekruten, und seine Gedanken sind ein einziges Wirrwarr, was für die bevorstehende Aufgabe alles andere als zuträglich ist. Nie würde er es jemandem gegenüber eingestehen, aber es gab noch einen anderen Grund, warum er seinen Vater anflehte, ihm zu erlauben, Lǜzhou zu verlassen. Er wollte dem erdrückenden Haus entfliehen, das zu viele Erinnerungen an seine Mutter barg, diesem Ort der Sicherheit und Zuflucht, der zu einem Käfig wurde.

Mit einem tiefen Atemzug zwingt Kang seinen Geist zur Ruhe. Er fokussiert sich, bis sein Inneres zur glatten Oberfläche eines stillen Sees wird. Eine perfekte Spiegelung. Sobald er seine innere Mitte gefunden hat, beginnt Kang mit der ersten Position des Wǔ Xíng.

Es gibt fünf Positionen, die durch den Atem, den Körper und den Geist fließen. Positionen, die Kang von frühester Kindheit an gelernt hat. Die verschlungene Position des Drachen zur Beruhigung des Geistes. Die grimmige Tiger-Position zur Stabilisierung der Körperhaltung. Der Panther für die Explosionskraft. Die Position der Schlange für Ausdauer. Und zum Schluss die Kranich-Position für die Konzentration.

Von einer Bewegung in die nächste gleitend, gerät Kang in den ihm so vertrauten meditativen Zustand. An den Ort, an dem sein Geist endlich zur Ruhe kommt. Wo sein Herz nicht schmerzt, wenn er an seine Mutter denkt, wo kein Misstrauen gegenüber seinem Vater herrscht und wo es keine Erinnerung an das Mädchen aus Sù gibt, das ihn dazu zwang, alles in Frage zu stellen.

Als er fertig ist, fühlt sein Körper sich träge und warm an.

Kang öffnet die Augen. Sein Vater nickt ihm zu und befiehlt den Rekruten, ihre Übungen wiederaufzunehmen. Die Wǔlín-shī wirken teilnahmslos und geben keinen Laut von sich. Etwas in Kang löst sich mit einem Seufzer.

Es ist so weit.

Nach Beendigung der morgendlichen Übungen schreitet Kang zielstrebig auf die Gruppe der Wǔlín-shī zu, die gerade vollauf konzentriert ihre Waffen putzen. Worte wirbeln durch Kangs Kopf, während er überlegt, wie er seinen Lehrer nach all der Zeit am besten ansprechen soll. Er wird ihm seinen Fall darlegen und ihn um Hilfe bitten, indem er sich auf ihre gemeinsame Vergangenheit als Schüler und Lehrer beruft.

»Lehrer!«, ruft er laut. »Lehrer Qi!«

Zehn Köpfe erheben sich synchron, und genauso viele Gesichter sehen ihn mit gleichermaßen unheimlichen, ausdruckslosen Mienen an. Kangs Schritt gerät ins Stocken. Ein Zufall, das ist alles. Er muss zu laut gerufen haben.

»Wie schön, Sie endlich wiederzusehen.« Er bleibt vor seinem einstigen Mentor stehen. »Es ist Jahre her, dass wir miteinander gesprochen haben.« Er begrüßt ihn, indem er sich mit den Knöcheln seiner geballten Hand gegen die Stirn tippt, so, wie es ihn einst gelehrt wurde.

Lehrer Qi betrachtet ihn schweigend, und die anderen Wǔlín-shī treten hinter ihn. Kang spürt, wie sich seine Nackenhärchen sträuben. Dieser seltsame, beunruhigend fokussierte Blick in ihren Augen, als hätten sie ihn begutachtet und für unzulänglich befunden. Einen Moment lang glaubt er, dass er sich vielleicht geirrt hat und seinerseits eine Verwechslung vorliegt. Aber diese Narbe, die Augen, der Hautton … das ist sein Lehrer. Er könnte ihn niemals vergessen.

»Verzeihen Sie bitte.« Seine Worte klingen in seinen Ohren flehentlich, wie von einem bettelnden Kind. »Bitte, dürfte ich nur einen Moment Ihrer Zeit in Anspruch nehmen? Ich würde gern unter vier Augen mit Ihnen sprechen.«

Jemand rempelt gegen ihn. Es ist einer der Minister, der außer Atem und mit schief sitzendem Hut eilig vor Kang hintritt. Er verneigt sich tief, so dass Kang gezwungen ist, einen Schritt zurückzuweichen.

»Eure Hoheit, dieser demütige Diener bittet vielmals um Entschuldigung, Euch nicht rechtzeitig erreicht zu haben. Ich hätte Euch aufhalten sollen.«

»Warum?«, fährt Kang ihn an, verärgert über die Störung.

»Die Wǔlín-shī haben ein Schweigegelübde abgelegt«, erklärt der Minister. »Sie werden mit niemandem sprechen, bis ein neuer Kaiser auf dem Thron sitzt.«

Kang ist verdattert. Ein Schweigegelübde? Einen Moment lang weiß er nicht, was er sagen soll.

»Es ist ein Zeugnis ihrer Hingabe an die Sache des kaiserlichen Regenten«, ertönt eine Stimme hinter ihnen. Kang dreht sich um und sieht Kanzler Zou. »Ich möchte Euch bitten, ihren Entschluss zu akzeptieren.«

Leiser Unmut regt sich in Kang. »Gut«, entgegnet er knapp. Er dreht sich wieder zu der Gruppe der Wǔlín-shī um und verbeugt sich erneut. »Ich bitte, meinen blinden Vorstoß zu entschuldigen.«

Ihn ignorierend, wendet sein Lehrer sich bereits ab. Es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube. In diesen Augen glomm kein Funke des Wiedererkennens auf. Kang ist für ihn ein Fremder, obwohl ihr gemeinsamer Unterricht sein Leben verändert hat. Für seinen geliebten Lehrer ist er nicht mehr als ein kurzer Augenblick, verweht im Wind der Zeit.

 

Kang grübelt für den Rest des Tages über diese Begegnung nach. Zudem scheinen die Wǔlín-shī plötzlich allgegenwärtig zu sein, wodurch er sich ständig an seine Blamage erinnert fühlt. Sie folgen seinem Vater auf Schritt und Tritt, stehen Wache an den Türen der Ratskammer oder am Rand des Festsaals. Kang stochert in seiner Mahlzeit herum, unfähig, das gehaltvolle Essen zu verdauen. Normalerweise würde er das geschmorte Schweinefleisch und die dicken Nudeln in vollen Zügen genießen, aber seine Gedanken kehren immer wieder zu seinem Fehltritt zurück. Mit Sicherheit hat der Kanzler seinem Vater darüber bereits Bericht erstattet.

Als der Dessertgang serviert wird, schenkt Kang den trällernden Klängen der Bambusflöte und der Guǎn kaum Beachtung. Tänzerinnen huschen mit flatternden Fächern vorbei, aber er nimmt ihre Bewegungen nur verschwommen wahr. Er greift zu einem Gebäckstück mit einem roten Punkt obendrauf und beißt hinein. Die dünnen Schichten zerbröseln in seinem Mund, und an seinem Gaumen macht sich Süße breit. Dieser Kuchen hat einen seltsamen Beigeschmack. Er hat etwas Hartes, Trockenes an sich. Kang blickt auf das Gebäckstück hinunter, um herauszufinden, woran es liegen könnte.

Im Inneren steckt ein kleiner Zettel, genau neben der Eidotter-Füllung. Sein Herz schlägt schneller. Er lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, um zu sehen, ob irgendwer seine Reaktion beobachtet. Doch die Aufmerksamkeit der Hofangehörigen gilt den Tänzerinnen oder den Tischgesprächen. Niemand blickt in seine Richtung.

Er zieht den Zettel heraus, und er landet auf seinem Teller. Das Papierstück ist gerade mal so lang wie ein halber Finger und so breit wie ein Fingernagel. Darauf sind winzige Schriftzeichen zu sehen, in roter Tusche geschrieben, aber die Bedeutung ist klar. Vier stehen auf der einen Seite und vier auf der anderen.

小心武林

裝神弄鬼

Hüte dich vor Wālín.

Es ist eine Täuschung.

Kang starrt einen Moment lang darauf, bevor ihm wieder bewusst wird, wo er ist und dass er sich in Gefahr befindet. Jemand hat eine Menge aufs Spiel gesetzt, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Wer? Oder handelt es sich um eine List, um ihn aus der Deckung zu locken? Um seine Gesinnung zu prüfen?

Unauffällig steckt Kang den Zettel zurück in das Gebäck und schiebt sich das Ganze in einem Stück in den Mund. Er kaut und schluckt, den Würgreiz unterdrückend, bis der Beweis beseitigt ist.

Es schmeckt so trocken wie Asche. Es schmeckt wie eine andere Art von bitterer Enttäuschung.