Kang 康
Für den Rest des Abends sind alle seine Sinne in höchster Alarmbereitschaft. Die Klänge der Flöten hören sich auf einmal schief und misstönend an, die Bewegungen der Tänzerinnen sind gestelzt und unbeholfen. Jedes Mal, wenn ihm jemand Beachtung schenkt, fragt er sich: Ist das die Person, die den Zettel in mein Essen geschmuggelt hat? Gibt es noch weitere? Von diesem Zeitpunkt an weiß er, dass er so vorsichtig wie möglich agieren muss. Abseits des wachsamen Blickes des Kanzlers und der Aufmerksamkeit seines Vaters.
Auf dem Weg zurück in seine Residenz beschließt Kang, einen Abstecher in die Küchen zu machen. Er muss wissen, wer hinter der geheimen Botschaft steckt, oder zumindest eine Vorstellung davon bekommen, wer es gewesen sein könnte. Seine Wachen wirken zögerlich, doch da er sich innerhalb der Palastmauern bewegen wird, besteht für sie kein Grund, ihn aufzuhalten, trotz der Anweisung des Kanzlers, Kang unter »persönlichen Schutz« zu stellen.
Bevor er die Küchenflügel betritt, hört er bereits das Geräusch von Stimmen. Das Klirren von Löffeln in Schalen und entspannt dahinplätschernde Gespräche. Was für ein Unterschied zu den steifen, förmlichen Banketten bei Hof. Erst in diesem Moment wird Kang bewusst, wie sehr er das vermisst; es erinnert ihn an die Mahlzeiten, die er zusammen mit Soldatenkameraden am Lagerfeuer eingenommen hat.
»Bleibt außerhalb der Küche«, weist er seine Wachen an. »Mir wird da drinnen schon nichts passieren.« Ungeachtet ihres lautstarken Protestes schickt er sie mit einem Wink seiner Hand fort. Immerhin ist er ein Prinz, nicht wahr? Angeblich.
Als er eintritt, verstummt die Unterhaltung. Eine der Dienerinnen erkennt ihn und springt auf, die anderen tun es ihr gleich.
»Eure Hoheit«, sagt sie und versinkt in einer tiefen Verbeugung. »Wir haben Euch nicht erwartet. War etwas nicht nach Eurem Geschmack?« Er spürt die Nervosität der versammelten Küchenbediensteten. Sie scharren mit den Füßen und sehen aus, als rechneten sie bereits mit einer Bestrafung.
Er weiß nicht, wer möglicherweise zuschaut oder lauscht. Er weiß nicht, ob es jemanden am Hof gibt, dem er genug vertrauen kann, um über seinen Verdacht zu sprechen, und der Kanzler ist entschlossen, ihn von seinem Vater fernzuhalten. Alle Menschen, die er Freunde nennen würde, sind in Lǜzhou, was sich auf einmal sehr weit weg anfühlt.
»Ich würde gern dem Küchenbediensteten danken, der heute Abend das Gebäck zubereitet hat«, sagt Kang, wobei er seine Stimme ruhig und emotionslos klingen lässt. »Ich möchte mit ihm sprechen.«
»Das ist ein besonderes Lob!« Sie strahlt über das ganze Gesicht, offensichtlich erleichtert, dass er nicht gekommen ist, um sich über das heutige Abendessen zu beschweren. »Ich werde ihn sofort suchen gehen.«
Sie verschwindet durch die Türen und kehrt kurz darauf mit einem kräftigen Mann zurück. Unter Zungenschnalzen scheucht sie die anderen Küchenbediensteten auf den Hof hinaus und lässt sie allein in der Küche zurück.
Der Hofkonditor ist einen Kopf größer als Kang und breitschultrig. Er sieht nicht aus wie jemand, der die zarten Naschereien zubereiten könnte, mit ihren filigranen Faltungen und feinen Verzierungen.
Kangs Gedanken über die imposante Erscheinung des Mannes müssen ihm am Gesicht abzulesen sein, denn der Mann kichert.
»Ihr seid nicht der Erste und werdet bestimmt nicht der Letzte sein, der so reagiert, Hoheit.« Der Mann verbeugt sich. »Mein Name ist Wu Zhong-Chang, aber alle nennen mich Kleiner Wu.«
Die Art, wie er spricht, hat etwas Kühnes, sein Gebaren etwas Raues, was Kang gut gefällt. Das ist ihm vertrauter als die höfliche Distanziertheit der Adligen und Beamten, mit denen er verkehren soll.
»Ich habe dein Gebäck beim Bankett heute Abend außerordentlich genossen«, fährt Kang fort und wählt seine Worte mit Bedacht, wohl wissend, dass schon an der nächsten Ecke jemand auf der Lauer liegen und sie belauschen könnte. Kleiner Wu lächelt, eine freundliche Maske, die Kang nicht zu durchschauen vermag. »Bitte, nimm dies als ein Zeichen meiner Wertschätzung an.« Kang hält ihm einen Beutel mit Münzen hin. Kleiner Wu nimmt ihn mit beiden Händen und einer noch tieferen Verbeugung entgegen.
»Bitte, wartet einen Moment, Eure Hoheit«, sagt er, nachdem er sich wieder aufgerichtet hat. »Ich kann Euch nicht mit leeren Händen fortgehen lassen.«
Kang setzt zum Protest an, aber der Mann ist schon verschwunden und kehrt mit einem abgedeckten Korb in der Hand zurück.
»Dies ist alles, was ich Euch für Eure Freundlichkeit anbieten kann. Als Euer demütiger Diener bitte ich Euch, dieses Präsent anzunehmen«, sagt der Mann heiser. Kang nimmt den Korb an, weil er nicht weiß, wie er nein dazu sagen soll. Nach einer kurzen Pause fügt Kleiner Wu hinzu: »Und danke, dass Ihr Euch gestern für Chunhua eingesetzt habt.«
Kang ist überrascht – er hätte nicht gedacht, dass sein Versuch, die Tochter der früheren Haushofmeisterin vor dem Vergeltungsfeldzug seines Vaters zu bewahren, von irgendjemandem bemerkt wurde.
»Ich wünschte, ich hätte sie retten können«, sagt Kang leise. Doch er darf jetzt nicht über sein jüngstes Versagen nachsinnen. Es gibt noch mehr Fragen, die er stellen muss. »Gibt es noch andere, bei denen ich mich bedanken sollte … für das Gebäck?«
»Nein, das war nur ich. Wir sind etwas unterbesetzt, seit den jüngsten … ähm.« Kleiner Wu schüttelt den Kopf. Kang versteht, worauf er hinauswill. Seit den jüngsten Säuberungen. Er spricht von den Bediensteten, denen man etwas anhängte, denen unter Folter Geständnisse abgepresst wurden, bevor man sie hinrichtete. »Ich bitte Euch, Hoheit, genießt die Leckereien.«
Da merkt Kang, dass Kleiner Wu sich unbehaglich fühlt, denn er ringt nervös die Hände. Selbst mit dieser schlichten Unterhaltung könnte Kang das Küchenpersonal noch weiter in Gefahr bringen. Schon wieder hat er vergessen, wo sein Platz ist. Mit einem letzten gemurmelten Dank wendet er sich ab und geht.
Als Kang in seine Unterkunft zurückkehrt, stellt er den lackierten Korb auf den Tisch. Ihm kommen wieder die Worte auf dem verborgenen Zettel in den Sinn. Jemand warnt ihn vor Wǔlín, indem er die Küchen als Übermittler für Botschaften benutzt, aber warum? Die wortwörtliche Übersetzung des einen Satzes lautet: als Götter maskiert, wie Geister handelnd.
裝神弄鬼
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird mit diesen Zeichen auf eine Täuschung hingewiesen, auf jemanden, der ein Scharlatan ist. Es scheint eine Andeutung zu sein. Gibt jemand vor, ein Gott zu sein, mit böswilligen Absichten?
Kang sieht wieder auf den Korb hinunter und hebt den Deckel an. Drei Gebäckstücke. Ein goldenes, das mit schwarzen Sesamsamen garniert ist, ein blassweißes, rot gepunktet – wie das Gebäck beim Bankett – und ein hellgrünes.
Kang nimmt das Gebäckstück mit dem roten Punkt heraus und bricht es in zwei Hälften. Das Eigelb kommt zum Vorschein – sowie ein weiterer Zettel.
Mit zitternden Händen zieht er ihn heraus und faltet ihn auseinander. Er sieht die kleinen roten Schriftzeichen, in der gleichen sorgfältigen Handschrift wie die Zeichen auf dem vorherigen Zettel. Jemand hat dafür gesorgt, dass er das Gebäckstück mit dem Zettel erhält. Jemand wusste, er würde die Küchen aufsuchen, um der Sache nachzugehen, und konnte ihm so den nächsten Hinweis zukommen lassen. Kang reißt die anderen Gebäckteile auseinander, aber darin sind nur die üblichen Füllungen enthalten. Auf die Schriftzeichen starrend, studiert er sie genauer. Wer auch immer der mysteriöse Überbringer dieser Botschaften ist, muss gebildet sein, denn die auserkorenen Zeilen wurden eindeutig mit einer bestimmten Intention gewählt, aber er durchschaut noch nicht, mit welcher. Vielleicht ein Beamter, der gegen die Herrschaft seines Vaters opponiert. Aber warum ihn kontaktieren? Er ist immerhin der Prinz. Seine Loyalität sollte in erster Linie dem General gelten. Und doch will diese gesichtslose Person, dass er zweifelt.
茶毒生靈
春生秋殺
Das Gemetzel von Unschuldigen.
Was der Frühling zum Leben erweckt, tötet der Herbst.
Unheilvolle Worte in einer unheilvollen Zeit. Jede Zeile ist eine Anklage, insbesondere in Rot geschrieben, die Farbe böser Omen. Jemand will wissen, wer für den Tod so vieler Menschen in Dàxī verantwortlich ist, ob nun durch die Aufstände oder den vergifteten Tee.
Kang spürt die Last der Schuld. In gewisser Hinsicht ist er ein Komplize. Aber er begreift, dass es jetzt an der Zeit ist, die Rolle zu übernehmen, von der er seinem Vater sagte, er sei bereit.
Er wird nicht tatenlos danebenstehen, während Menschen leiden. Nicht mehr.