Kang 康
Im Inneren Palast herrscht ein strikter Zeitplan, der genauestens befolgt wird. Seit Kang das Prinzenquartier bezogen hat, ist er zu der Überzeugung gelangt, dass es Bedienstete gibt, die allein nur existieren, um die Zeit einzuhalten. Das stete Plätschern der Wasseruhr ist jede Stunde des Tages zu hören, während die Räucherspiralen die ganze Nacht hindurch brennen. Diener erscheinen am Morgen und lesen die anstehenden Termine von einer Schriftrolle ab, helfen ihm den ganzen Tag über beim An- und Auskleiden und wechseln dabei Teile seiner Garderobe, seine Frisuren und Schuhe, je nachdem, was dem Anlass, dem er beiwohnen soll, angemessen ist.
Morgens, mittags, abends und nachts. Vorschriften und höfische Rituale, um die sich sein Vater in ihrem Haus in Lǜzhou nie scherte. Jetzt wird Kang ständig an den richtigen Platz bugsiert. Wird umherdirigiert, damit er nicht falsch abbiegt in einen anderen Hof oder eine Speise auf seinen Teller legt, die noch nicht zum Verzehr bestimmt ist. Es gibt so viele Regeln, so viele Feinheiten des Benimms, dass ihm der Kopf brummt bei dem Versuch, sie sich alle zu merken.
Auch wenn die Zeit innerhalb der Palastmauern langsam voranschreitet, werden die Tage immer länger, je näher die Sommersonnenwende rückt. Er wacht früh am Morgen auf zum Training, gefolgt von langen Nachmittagen angefüllt mit Ratssitzungen und Besprechungen, dann bleibt er bis spätnachts wach und starrt auf die rätselhaften Zeilen auf dem Zettel, bis sein Kopf weh tut und Kang sich schließlich geschlagen gibt.
Eines Abends, nachdem er mit seinen Besprechungen fertig ist, schreibt er den ersten Satz in passabler Kalligraphie ab, genau auf jeden einzelnen Tuschestrich achtend, und nimmt die Notiz mit in die Bibliothekspagode. Es muss hinter diesen Worten etwas stecken, das er nicht erkennt, etwas, das er übersieht. Als der erste Gelehrte ihn begrüßt – wobei er sich halb zu Boden wirft vor Ehrerbietung –, bittet Kang darum, bei jemandem um Rat suchen zu dürfen, und wird daraufhin zur obersten Gelehrten höchstpersönlich eskortiert.
Lehrmeisterin Bao begrüßt ihn mit einem Lächeln, während der andere Gelehrte davonhuscht. »Womit habe ich diese Ehre verdient, Hoheit? Bisher haben wir Euch noch keinen Fuß in unseren bescheidenen Pavillon setzen sehen.«
»Äh, ja …« Kang tritt von einem Bein aufs andere. Er fühlt sich nicht wohl in Bibliotheken, er war nie ein großer Intellektueller. Er erinnert sich noch gut an seine Angst vor der damaligen kaiserlichen Lehrerin, die inzwischen verstorben ist, und kann immer noch den Phantomschmerz der Stockhiebe auf seinen Knöcheln spüren, die ihm jedes Mal zuteilwurden, wenn er während des Unterrichts eindöste.
Aber er hat sich bereits vorab eine geeignete Erklärung für sein Kommen zurechtgelegt. »Seit kurzem beschäftige ich mich mit dem Studium alter Texte, in dem Bemühen, meine Bildung zu verbessern. Dabei bin ich auf einen Vers gestoßen, der mir noch nie zuvor untergekommen ist, und ich hege die Hoffnung, dass Sie in der Lage sind, ihn mir näher zu erläutern.«
»Ich werde mich nach Kräften bemühen, Eurem Wunsch zu entsprechen.« Lehrmeisterin Bao neigt den Kopf. »Bitte, folgt mir.«
Sie führt ihn in eine Nische mit Bänken und einem Steintisch. Darauf sind einige Schriftrollen gestapelt, die von einem herbeigerufenen Diener eilig fortgeschafft werden. Die zahlreich vorhandenen Fenster sind alle hoch oben in die Wände eingelassen, wodurch das eindringende Licht nicht direkt die Regale in der Mitte der Bibliothek erfasst, sondern stattdessen schräg in die Nischen fällt, so dass die Gelehrten ihre Texte dort ohne Beleuchtung durch Kerzenlicht bis zum Einbruch der Dunkelheit studieren können. Ein cleverer architektonischer Kniff.
Nachdem sie Platz genommen haben, reicht Kang ihr das zusammengerollte Stück Papier. Peinlich genau besieht sie seine Kalligraphie, bis er fast spüren kann, wie er in Erwartung ihrer Kritik zusammenschrumpft.
»Ihr habt hier einen Strich ausgelassen.« Mit dem Ende eines Pinsels tupft sie in die Mitte des ersten Zeichens.
Kang lehnt sich mit gerunzelter Stirn vor. Er hat seine Arbeit mehrfach kontrolliert, und dennoch …
»Das ist ein recht weit verbreiteter Fehler«, erklärt sie. »Einer, der vielen Schülern unterlaufen würde. Seht Ihr? Das Zeichen, das Ihr geschrieben habt, ist eines, das recht häufig verwendet wird, nämlich das für ›Tee‹. Aber hier, schaut mal das nächste.«
Sie zeichnet vorsichtig auf ein anderes Stück Papier, bis er sieht, dass im ursprünglichen Satz in der Mitte des Zeichens noch eine zusätzliche Linie vorhanden ist.
茶荼
»Ah.« Kang kann es kaum glauben. Ein einfacher, kleiner Strich, und doch bedeutet er alles.
Lehrmeisterin Bao nickt. »Das ist die Schönheit unserer geschriebenen Sprache. In dem korrekten Satz steht dieses Zeichen für eine Art bitteres Gemüse und dahinter kommt das Zeichen für ›Gift‹. Es bedeutet, ›um zu töten‹. Der zweite Teil des Satzes steht für die Seele, das Leben unschuldiger Bürger, das die Herrschenden geschworen haben zu schützen.«
Die Erkenntnis trifft Kang wie ein Blitzschlag, so hell und klar, dass er sich selbst dafür hasst, es nicht früher erkannt zu haben.
»Lehrmeisterin, ob Sie wohl einen Text für mich auftreiben könnten, der mir dabei weiterhelfen kann? Ich würde es gern selbst recherchieren«, sagt er mit betont ruhiger, gelassener Stimme. Er muss dafür sorgen, dass sein Vater nichts von diesem Treffen erfährt, denn er ist sich nicht sicher, wohin diese Informationen ihn führen werden.
Als Lehrmeisterin Bao fortgeht, um die Texte zu holen, zwingt Kang sich dazu, tief ein- und auszuatmen. Im Geist vollführt er die Bewegungen des sich windenden Drachen der Position von Wǔ Xíng und versucht dabei, innerlich etwas zur Ruhe zu kommen. Aber es gelingt ihm nicht.
Mit einem schmalen Bändchen in der Hand, das Lehrmeisterin Bao ihm ausgeliehen hat, tritt Kang aus der schummrigen Tiefe der Bibliothekspagode hinaus in den Garten. Die Anschuldigung ist so deutlich wie die roten Zeichen auf dem Papier: Der mysteriöse Zettelschreiber bezieht sich ausdrücklich auf die Teevergiftungen und die sinnlosen Morde am einfachen Volk. Bestimmt wird Kang mit der Entschlüsselung des zweiten Satzes erfahren, was diese Anschuldigung zu bedeuten hat. Ist es eine Drohung, die Wahrheit darüber zu enthüllen, wer das Gift angeordnet hat, oder versuchen sie einfach nur auszuloten, wem er treu ergeben ist?
Kang sieht den steinernen Philosophenweg und hofft, dass ihm eine Art Offenbarung zuteilwird, wenn er ihn beschreitet. Die Dämmerung senkt sich herab, und Diener entzünden die Laternen, die den Weg erhellen. Er schlängelt sich hinter der Bibliothek entlang, durch grüne Bambushaine und vorbei an blühenden Rosenbüschen. Seine Wachen folgen ihm mit Abstand, um ihm die von ihm erbetene Privatsphäre zu geben. Der Weg führt am Garten vorbei und verläuft sich dann in der Ferne, Kang kann das Tor des Westflügels sehen. Dahinter liegt seine ehemalige Residenz.
Sein Herz beginnt schnell zu klopfen, als die Zeichen des zweiten Satzes vor seinem geistigen Auge auftauchen. Jede Residenz ist mit einer besonderen Jahreszeit verknüpft, und in dem Satz wird auf zwei Jahreszeiten verwiesen: Frühling und Herbst.
春生秋殺
Dem Frühling entspringt das Leben. Aber was, wenn sich nun ›Leben‹ auch auf … Herkunft bezieht, auf den Ursprung des Giftes, des Gemetzels? Und der Herbst … führte der Herbst die Tötungen aus? Kang winkt seine Wachen heran.
»Sagt, wer wohnt zurzeit in der Residenz Herbstliche Sehnsucht?«, fragt er.
»Dort sind die Wǔlín-shī untergebracht«, erwidern die Wächter.
Und wer in der Residenz Frühlingsharmonie wohnt, weiß Kang.
Großkanzler Zhou.
Spät in der Nacht, als der Rest des Palastes schläft, betritt Kang die Tunnel, die den Inneren Palast mit dem Westflügel verbinden. Dies ist der einzige Weg, der ihm einfiel, um unbemerkt zu seinem Ziel zu gelangen. Während er durch die klamme Dunkelheit schleicht, muss er an die Zeiten denken, in denen er als Kind in diesen Tunneln spielte, zusammen mit der Prinzessin und ihrem Schatten. Den jüngsten Berichten zufolge ist sie gerade in westlicher Richtung unterwegs, und es wird vermutet, dass sie nach Kallah reist, um dort möglicherweise an die Getreuen der Kaiserinwitwe und des Kaisers der Nächstenliebe zu appellieren.
Er ist ein schändlicher Prinz. Was ist das für ein Prinz, der nicht versiert ist in höfischer Politik? Was ist das für ein Prinz, der nie mit historischen Textquellen umzugehen und den Gebrauch bestimmter Wendungen gelernt hat? Was ist das für ein Prinz, der sich wie ein Versager fühlt, da er einen Verdacht hegt, aber nicht weiß, wie er ergründen soll, was wahr ist und was gelogen.
Er eilt durch die Tunnel und findet den Eisenring, den er sucht. Langsam öffnet er die Tür und schlüpft durch die Wand in die Residenz »Herbstliche Sehnsucht«.
Im Innenhof schaukelt eine einzige Laterne leise im Wind. Die Bäume werfen lange, unheimliche Schatten auf die Mauern. Soweit Kang sich erinnert, gibt es in dieser Residenz drei Privaträume. Er linst durch das offene Fenster des ersten Zimmers und bemerkt erleichtert, dass sich niemand darin befindet. Die opulente Einrichtung, die wertvollen Kostbarkeiten, alles deutet darauf hin, dass hier einmal eine Person von hohem Rang gewohnt hat. Dies alles muss dem früheren Bewohner des Hauses gehört haben – dem Marquis von Ānhé, der beim Bankett sein unglückseliges Ende fand. Auch im nächsten Zimmer ist niemand, es ist spärlicher eingerichtet und sieht aus, als würde es als Arbeitszimmer genutzt.
Durch das Fenstergitter sieht Kang Licht im letzten Schlafgemach. Dort sind offenbar einige Wǔlín-shī untergebracht. In geduckter Haltung pirscht er an der Seite des Hauses entlang. Wenigstens darin ist er gut. Dank seines jahrelangen Trainings sind seine Bewegungen leichtfüßig und behände, so, wie es sich für einen guten Späher geziemt.
Er hört eine leise Stimme. Jemand ist noch wach. Er wird gleich feststellen, wie weit das Schweigegelübde der Wǔlín-shī reicht, ob sie freiheraus sprechen, sobald sie sich unter sich wähnen. Was immer er aus ihren Gesprächen erhascht oder ihrem Verhalten entnimmt, es wird ihm Aufschluss darüber geben, welcher Art ihre Beziehung zu dem Kanzler ist – ob ihre Verbindung so eng ist, wie der Zettelschreiber vermutet.
Vorsichtig öffnet er das Fenster einen Spaltbreit und späht hindurch. Da ist eine Feuerschale in der Ecke, die mildes Licht im Raum verbreitet. Eine Gestalt steht vor einem holzgerahmten Bronzespiegel, allerdings so, dass Kang nur ihr Profil sehen kann. Es ist einer der Wǔlín-shī, den er nur vom Sehen her kennt, nicht namentlich.
»Wie erwartet hat der Minister für Rituale sich an den gleichen Zeitplan gehalten. Es scheint alles in Ordnung zu sein.« Die Stimme ist dunkel und tief, fast wie ein Knurren. Es sieht so aus, als würde der Mann mit dem Spiegel sprechen, aber dann bemerkt Kang noch weitere Gestalten im Raum.
Sie sind zu einer perfekten Dreierreihe aufgestellt. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Schultern gestrafft, starren sie den Mann vor dem Spiegel an wie steinerne Statuen. Die Tatsache, dass sie an ihrer antrainierten Disziplin selbst dann festhalten, wenn sie unter sich sind, ringt Kang eine gewisse Bewunderung ab. Nicht die leiseste Regung ist erkennbar, kein Muskel zuckt. Kang runzelt die Stirn und schaut genauer hin. Disziplin hin oder her, wie können vier Menschen dermaßen reglos dastehen, so, als ob sie mit offenen Augen eingeschlafen wären?
»Ihr werdet morgen das Gleiche tun.«
Mit Mühe unterdrückt Kang ein Keuchen. Seine Zähne bohren sich in seine Lippe, bis sich seine Mundhöhle mit dem Geschmack von Blut füllt. Diese Stimme … sie gehört dem Kanzler. Aber wie kann er den Wǔlín-shī Befehle erteilen? Sie sind in jeder Hinsicht loyale Kämpfer des Generals, die nur ihm gehorchen. Drei von ihnen folgen seinem Vater auf Schritt und Tritt als seine treuergebene Eskorte, und drei weitere stehen vor jedem Saal und jedem Raum, in dem er sich aufhält, Wache.
Aber die anderen … Kang weiß nicht von allen, was sie den Tag über so treiben. Sie müssen Spione sein, aber nicht für seinen Vater.
Das Gespräch im Zimmer geht weiter, während Kang über seine neugewonnenen Erkenntnisse nachdenkt. Das alles ergibt keinen Sinn. Die plötzliche Besessenheit seines Vaters von der Macht der Götter, sein Interesse an Reliquien vergangener Zeiten und sein blindes Vertrauen in den Kanzler … All das erscheint untypisch für den Vater, den Kang kennt. Der General ist für seine ausgeklügelten Schlachtfeldstrategien berüchtigt, für sein Geschick im Belagerungskrieg, für seine unbändige Kampfkraft. Aberglaube ist ihm fremd, an Magie glaubt er nicht – für beides hatte er immer nur Verachtung übrig.
Kang reibt sich die Augen und richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf das seltsame Geschehen im Raum, um zu sehen, wo der Kanzler sich versteckt hält – seine Stimme hat einen seltsamen Hall.
Und dann sieht Kang es. Was er für eine verzerrte Reflexion an der gekrümmten Oberfläche des Spiegels gehalten hat, ist ein weiteres Gesicht. Es ist der Kanzler, der durch den Spiegel zu den Wǔlín-shī spricht.
Kangs Hand rutscht vom Fenstersims herunter, und er macht, einen Moment lang aus dem Gleichgewicht geraten, eine kleine Ausweichbewegung zur Seite. Ein Ast knackt unter seinem Stiefelabsatz.
»Da ist jemand!«
Mit Entsetzen sieht Kang, wie sich vier Köpfe gleichzeitig zu ihm umdrehen. Vier schwarze Augenpaare, angefüllt mit Dunkelheit. Ohne eine Spur von Weiß darin. Unmenschliche Augen.
Sein Herz hämmert wie wild, als er durch den Garten rennt. Er hört sie hinter sich, wie sie ihn leise und beharrlich verfolgen. Schritte, in gespenstischer Synchronität.
Kang schiebt sich durch den Spalt zurück ins Höhlensystem. Tastend greift er nach oben und bläst die Fackel aus, so dass er allein in der Dunkelheit steht. Sein Atem geht zu laut und zu rau. Er hört sie auf dem Dach der Residenz herumklettern, wie sie sich immer weiter wegbewegen, auf der Jagd nach ihrer Beute.
Am ganzen Leib zitternd, steht Kang im Dunkeln da, sein Verdacht hat sich bestätigt.
Im Palast stimmt etwas ganz gewaltig nicht.