Ning 寧
Wir sind mucksmäuschenstill und wagen es nicht zu sprechen. Der Bambus um uns herum schwankt noch immer, ein sanftes, grünes Wogen. Zwischen den Halmen hindurchschreitend, spüre ich, dass der Bambus Dinge wahrnehmen kann. Er hat ein Bewusstsein, so wie Peng-ge, so wie die Bäume in der Nähe meines Dorfes. Er erkennt, wer ehrfürchtig ist und wer nicht.
Die Halme lehnen sich voneinander weg und geben so einen Weg frei, der uns in einen anderen Teil des Waldes führt. Ab und zu überkommt uns das Gefühl, dass wir bereits seit Stunden umherirren und uns verlaufen haben, aber dann taucht eine weitere Affenstatue auf, das Maul wie zur Warnung mit der Hand bedeckt. Sie führen uns immer weiter weg von den dunklen Gestalten, bis sie nicht mehr länger hinter uns sind.
Feiner Nebel steigt auf, und es wird kühl. Fröstelnd wandern wir weiter, pusten uns Atemluft in die Hände und stampfen mit den Füßen auf, um uns warm zu halten. Seltsamerweise scheint das Licht sich hier nicht zu verändern. Noch immer fällt es schräg durch das Blätterwerk, so dass wir nicht sagen können, ob bereits die Dämmerung eingesetzt hat. Sollte heute Nacht Vollmond sein?
»Da!« Bruder Huang durchbricht plötzlich das Schweigen und zeigt nach vorn auf einen roten Fleck zwischen den Bäumen. Es sind rote Banner, die von den Bambushalmen flattern. Dahinter tut sich im Grün eine Schneise auf.
Hauptmann Tsai greift nach oben und berührt eines der Banner, ihre Miene ist verwirrt. »Das verstehe ich nicht«, sagt sie bedächtig.
»Die sehen ziemlich festlich aus, wie für eine Feierlichkeit«, kommentiert Shu.
»Sie dienen der Warnung«, erwidert Hauptmann Tsai und zeigt auf die Schriftzeichen, die quer über dem Banner geschrieben stehen. Zeichen, die ich nicht verstehe.
»Wǔlín?«, überlegt Bruder Huang laut und zieht verwundert die Stirn kraus. »Aber Sie sagten doch, es würde mindestens sechs Tage dauern, das Bambusmeer zu durchqueren.«
»Das habe ich in der Tat gesagt«, murmelt Hauptmann Tsai.
Als wir die Schneise zwischen den Bäumen erreichen, rückt ein Bauwerk in Sicht. Eine Festung. Mit hoch aufragenden Backsteinmauern.
Am Rande der Lichtung dreht Hauptmann Tsai sich um und macht eine ehrfurchtsvolle Verbeugung in Richtung Wald, und wir folgen ihrem Beispiel.
»Das Meer des Vergessens hat uns hinausgetragen«, flüstert sie und drückt sich die gefalteten Hände zum Gebet an die Brust, dann verneigt sie sich noch einmal. »Danke.«
Hauptmann Tsai ermahnt uns, hinter ihr zu bleiben, während wir uns der Festung nähern. Es scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, dass ein derartiges Bauwerk mitten zwischen den Bäumen errichtet wurde. Das Eingangstor ist hoch und breit genug, dass zwei Fuhrwerke nebeneinander hindurchfahren könnten, aber es ist geschlossen. Ein Teil von Wǔlín ist ein Kloster zur Anbetung des Schwarzen Tigers, aber der andere Teil beherbergt die Akademie für Militärstrategie und Gefechtskunst. Wenn man so daran hochblickt, könnte es ebenso gut ein Palast sein. Oder ein Gefängnis.
Immer noch verblüfft über das so plötzliche Auftauchen unseres Zielortes, beäuge ich einen der Steinlöwen, die den Weg zur Festung säumen. Ich lege ihm eine Hand auf den Kopf, nur um sicherzugehen, dass er wirklich dasteht. Um mich zu vergewissern, dass es sich nicht um eine Vision handelt, dass ich nicht irgendwie träume. Der Stein fühlt sich kühl und rau unter meinen Fingern an.
Ein schriller Pfiff ertönt von oben, und im nächsten Moment steckt ein zitternder Pfeil vor mir im Boden. Hauptmann Tsai fährt blitzschnell herum und schreit, dass wir zurückweichen sollen. Das gezückte Schwert in der Hand, stellt sich Bruder Huang vor Shu und mich.
»Kommt nicht näher!« Ein Kopf lugt oben über die Mauerkrone. »Wǔlín ist für Besucher geschlossen!«
Hauptmann Tsai tritt vor und erhebt die Stimme. »Wir bringen eine Nachricht aus Yěliǔ.«
Neben der Mitteilung, die Sterndeuter Wu uns bat zu überbringen, gibt es auch noch einen Brief, den Herzog Liang an Kommandeur Fan schrieb. Langsam lässt Hauptmann Tsai ihren Dao wieder in die Scheide zurückgleiten. Sie holt die Schriftrolle aus ihrem Rucksack und reckt auch noch den Brief in die Luft, damit die Bewohner von Wǔlín beides sehen können. Dann legt sie die Schriftstücke vor dem Tor vorsichtig auf den Boden und weicht zurück.
Einen Moment später öffnet sich eine kleine in das Tor eingelassene Tür. Ein geharnischter Wächter kommt heraus und verbeugt sich, sein Gesicht ist unter dem Helm verborgen.
Shu packt meinen Arm. Sie zittert am ganzen Leib, und ich weiß, dass sie an die Soldaten denkt, die uns auf dem Bergrücken angegriffen haben. Ich ziehe sie näher heran, damit ich mich im Notfall schnell vor sie werfen kann.
»Verzeihung, Hauptmann«, ruft der Wächter, und seine Stimme klingt jünger, als ich erwartet habe. »Auf Geheiß von Kommandeur Hoa haben wir die Festung verbarrikadiert. Niemand darf hinein oder hinaus. Es gab in letzter Zeit mehrere Angriffe, und wir müssen auf der Hut sein.«
Hauptmann Tsai ruft zurück: »Wir bringen traurige Neuigkeiten aus dem Westen: Yěliǔ ist gefallen. Den Brief hat Herzog Liang vor seiner Ermordung durch unbekannte Attentäter geschrieben.«
»Das ist tragisch zu hören«, sagt der Wächter und hebt die Schriftrolle und den Brief auf, dann verneigt er sich erneut vor Hauptmann Tsai. »Der Kommandeur wird sich eure Nachrichten anschauen, und dann kehrt jemand mit einer Antwort zurück.«
Wir bleiben draußen stehen und warten, während sie sich hinter den Festungsmauern beratschlagen. Keine Stimmen dringen nach draußen. Eine ganze Weile lang regt sich nichts, bis sich endlich erneut die Tür öffnet. Diesmal kommen drei Gestalten heraus. Zwei geharnischte Wachen und eine Frau, die sich an ihre Spitze stellt. Sie ist in weite schwarze Gewänder gehüllt, und ihre Handgelenke sind von spiralförmigen Metallspangen umschlossen, deren Windungen sich in Form von kreuz und quer verlaufenden Narben auf ihren Armen fortsetzen. Ihr dunkles Haar ist zurückgebunden, mit einer grauen Strähne an der Schläfe. Sie erinnert mich an die Weihekämpferin des Schwarzen Tigers, die in der Finalrunde des Wettbewerbs gegen Kang angetreten war.
»Mein Name ist Yu Jingyun.« Sie begrüßt uns, indem sie ihre verschränkten Hände vors Gesicht hebt. »Ich gehöre zu den Wǔlín-shī dieser Akademie. Ich habe die Nachrichten gelesen, die ihr überbracht habt. Es sind in der Tat beunruhigende Zeiten.«
»Elder Yu.« Hauptmann Tsai verneigt sich, und wir anderen tun es ihr gleich. »Es ist höchst bedauerlich, dass wir uns unter diesen Umständen kennenlernen müssen.«
»Verzeihen Sie unseren Mangel an Gastfreundschaft. Die Sicherheit unserer Bewohner wurde mehrfach bedroht, und um sie zu schützen, lassen wir niemanden unsere Tore passieren, bis wir zu einem Konsens gelangt sind, wie weiter vorzugehen ist«, konstatiert Elder Yu. »Gleichwohl haben Kommandeur Hao und der Anführer der Wǔlín mich zu einem Treffen mit euch entsandt, um über den Inhalt der Schriftrolle und des Briefes zu sprechen. Alles, was darin umrissen wird, ist so eingetreten? Yěliǔ ist gefallen, und die Prinzessin ist aus der Hauptstadt geflohen?«
Hauptmann Tsai schaut in meine Richtung. »Meine Gefährtin war bei beiden Ereignissen zugegen und kann Ihnen mehr sagen. Erzähl es ihr, Ning.«
Die Wǔlín-shī sieht mich mit festem Blick an und wartet darauf, dass ich berichte.
Ich erzähle ihr von dem Wettbewerb und davon, was sich seither ereignet hat. Dass der General von Kǎiláng mit seinen Soldaten auf die Hauptstadt marschiert ist, mit der Hilfe des abtrünnig gewordenen Gouverneurs von Sù. Ich spreche über den Kanzler und seine Rolle in meiner Beinahe-Hinrichtung. Ich berichte ihr auch von der Verwüstung, die ich in Yěliǔ vorfand, und davon, was danach geschah. Von den Schattensoldaten. Von der Schlange, die die Kämpfer in ihren Träumen einsperrte. Mit einem Schauer wird mir dabei bewusst, dass es sich mit der Wasserschlange, die Wenyi in der dritten Wettkampfrunde manipulierte, ganz ähnlich verhalten hatte. Eine Animation … nichts weiter , hatte er der Jury versichert.
Nur dass jetzt eine Macht am Werk ist, die dazu in der Lage ist, den Verstand eines Menschen zu manipulieren, bis hin zu dem Punkt, an dem sie seinen Überlebensinstinkt auszuschalten vermag.
Elder Yu sieht beunruhigt aus. »Wenn das, was du sagst, wahr ist, dann fürchte ich, dass unsere Späher das gleiche Schicksal ereilt haben könnte. In den letzten paar Wochen haben wir eine Reihe von Vermissten zu beklagen. Wir haben bereits ein ganzes Bataillon verloren.«
Fünfzehn ausgebildete Wǔlín-shī können es mit hundert Soldaten aufnehmen. Wie viel mehr Schlagkraft hat da ein ganzes Bataillon? Nur meine Magie befähigte Zhen und Ruyi dazu, sich gegen die fünf Männer, die uns angriffen, zur Wehr zu setzen, und erst als sie von Kommandeur Fans Truppen überwältigt wurden, bestand die Chance, sie gefangen zu nehmen.
»Da ihr nun um die Aufrichtigkeit unserer Worte wisst, werden wir Zutritt zu Wǔlín erlangen?«, fragt Hauptmann Tsai. »Werdet ihr die Prinzessin in der bevorstehenden Schlacht unterstützen?«
Elder Yu tauscht mit den Soldaten vielsagende Blicke aus, dann schüttelt sie langsam den Kopf. »Obwohl wir mit der Prinzessin und ihrem Anliegen sympathisieren, haben wir bereits zu viele Verluste erlitten. Wenn es tatsächlich möglich ist, von unserem Geist Besitz zu ergreifen und uns als Waffe gegen das Volk von Dàxī einzusetzen … das widerspricht allen unseren Grundsätzen und ist unsere größte Sorge. Aber kürzlich erhielten wir noch ein weiteres Schreiben aus der Hauptstadt, das eine etwas andere Geschichte erzählt.«
Sie nickt einem der Soldaten zu, und er entrollt eine Schrift. Ich zucke schockiert zusammen, als meine eigenen Augen mir entgegenstarren. Sie haben mein Konterfei in Tusche festgehalten. Ich sehe aus wie ein aufgeschrecktes Kaninchen. Neben meinem Porträt prangt ein rotes Siegel: Gesucht .
»Das Mädchen, das Sie als Zeugin mitgebracht haben, wird beschuldigt, Angehörige des Hofes vergiftet zu haben und eine Gefahr für Dàxī zu sein. Alle Shénnōng-shī des Reiches wurden an den Hof gerufen. Solange die Ermittlungen laufen, bleibt Hánxiá geschlossen. Wir wissen jedoch genauso wenig, ob dem General von Kǎiláng zu trauen ist, daher haben wir die Vertreter des Hofes ebenfalls abgewiesen. Wir werden abwarten müssen, wer sich als Beschützer der Einwohner von Dàxī erweist und wer einfach nur machthungrig ist.«
»Das sind Lügen!«, platze ich hervor, unfähig, mich auch nur eine Sekunde länger zu beherrschen. »Ich sagte es bereits, der Wettbewerb war von Anfang an ein abgekartetes Spiel. Auf diese Weise wollten sie alle Shénnóng-shī im Palast versammeln – um den Hofstaat zu vergiften und die Prinzessin als Mörderin zu bezichtigen. Das ist ein Komplott, hinter dem der Kanzler und der General stecken!«
»Bislang haben wir nichts weiter als Anschuldigungen«, entgegnet Elder Yu. »Wir wissen nicht, was wahr und was gelogen ist. Für heute Abend werden wir euch mit Proviant versorgen, aber morgen müsst ihr die Gegend verlassen. Wǔlín wird eure Informationen gründlich abwägen, und wir werden handeln, wenn wir zu einer Entscheidung gelangt sind.«
Ich drehe mich auf dem Absatz um und marschiere davon, obwohl es reichlich unhöflich ist. Doch die Worte, die mir gleich über die Lippen sprudeln, werden auch alles andere als höflich sein. Ich setze mich auf einen großen Stein am Rand des Weges und rekapituliere meine Lage.
Mörderin. Diebin. Betrügerin. Versagerin. All dies hat man mich schon gescholten. Ich werde von den Schattensoldaten und dem Justizministerium gejagt. Wenn ein Fahndungsaufruf mit meinem Konterfei überall dort zu finden ist, wo der Arm des Ministeriums hinreicht, dann wird Shu in Gefahr sein, egal, wohin ich gehe.
Als ich mich aus meiner Grübelei reiße und hochblicke, bin ich wieder von Hauptmann Tsai, Bruder Huang und Shu umringt. Die Leute aus Wǔlín sind verschwunden.
Hauptmann Tsai schaut mich an, sie sieht mir direkt in die Augen. »Ich weiß, das ist dir vermutlich kein Trost, aber du hast mir Dinge gezeigt, die jenseits der Grenzen meines Verstandes liegen. In Wahrheit ist eine ganze Woche vergangen, aber wir alle wissen, dass wir niemals so lange unterwegs waren. Ich glaube dir, Ning, ich glaube dir jedes einzelne Wort, das du über die Geschehnisse im Palast und in Yěliǔ berichtet hast.«
»Danke.« Ich weiß ihren Zuspruch zu schätzen. Wenn ich eine Person überzeugen kann, dann besteht eine Chance, dass ich auch noch weitere überzeugen werde.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragt sie.
Wohin sonst soll ich gehen, wenn nicht nach Yún?
»Sterndeuter Wu hat mir noch einen anderen Auftrag erteilt«, erkläre ich. »Ich soll mich zu einer Schlucht hier in der Nähe begeben, wo den Gerüchten zufolge eine namhafte Shénnóng-shī lebt.«
Bruder Huang sieht mich verwundert an. »Es gibt nur eine berühmte Schlucht in Yún, und das ist die Bǎiniǎo-Schlucht in der Nähe der Stadt Ràohé.«
Ràohé. Als ich diesen Namen höre, merke ich auf. Von dort stammt Wenyis Familie. Einen Moment lang scheint es mir so, als wäre dies eine Fügung der Sterne, als wäre es möglicherweise vom Schicksal gewollt, dass ich diese Richtung einschlage. Ich habe mein Versprechen gegenüber Wenyi nicht vergessen, und mich zur Schlucht aufzumachen, wird mich näher an seine Familie heranbringen.
»Ich werde dich hinführen«, bietet Bruder Huang an. »Ich kenne den Ort, ich kann dir den Weg zeigen.«
»Sie haben doch gehört, was die Elder sagte«, entgegne ich. »Ich werde vom Ministerium gesucht. Ich bin eine Giftmörderin, schon vergessen? Ich habe zehn Beamte umgebracht. Sind Sie sicher, dass Sie mit einem solchen Ungeheuer verkehren wollen?«
Aber anstatt der erwarteten Reaktion lacht Bruder Huang nur. »Ich habe versprochen, dass ich meine Mission erfülle, bevor ich nach Hause zurückkehre, und es ist Teil meiner Mission, dich und deine Schwester zu beschützen. Du wirst meine Xin’er nicht zu lange auf mich warten lassen, oder?«
»Dann ist es beschlossene Sache«, erklärt Hauptmann Tsai und erstickt meinen Protest im Keim. »Bruder Huang wird dir helfen, nach Ràohé zu gelangen. Ich selbst habe noch einen Auftrag für den Kommandeur in einem Dorf hier in der Nähe zu erledigen.«
Wǔlín versorgt uns mit den versprochenen Dingen, darunter dickere Decken für die Nacht und etwas heiße Suppe mit Bambussprossen und Fleischstückchen, um uns zu wärmen. Eingehüllt in den langen Schatten der Festung verbringe ich eine weitere Nacht ohne Albträume. Keine Schatten, die mich aus der Ferne gierig beäugen, keine Schlange, die im Dunkeln pfeift.
Stattdessen träume ich von einem Jungen, der mit mir auf den Dächern sitzt und auf die Lichter der Stadt blickt. Als ich am Morgen erwache, liegt sein Name noch auf meinen Lippen. Und ich frage mich, ob er je die Antworten gefunden hat, nach denen er suchte.