Kapitel 22

Kang

Kang hat nur zwei Tage Zeit, um sich auf seine Abreise aus dem Palast vorzubereiten. Er weiß, er muss denjenigen ausfindig machen, der ihn vor dem Kanzler gewarnt hat. Er muss wissen, auf welche Art von Gefahr er auf seinem Weg gefasst sein sollte. Aber ohne einen Namen oder ein Gesicht gibt es nur eine einzige Person, an die er sich wenden kann, in der Hoffnung, dass sie eine Nachricht für ihn übermittelt. In der Küche will er sich jedoch nicht noch einmal blicken lassen, aus Angst, womöglich Außenstehende in Gefahr zu bringen. Stattdessen schickt er eine Nachricht an die Bäckerei, in der er mitteilt, dass er beabsichtige, in den Gärten einen Empfang abzuhalten, und zu dieser Gelegenheit seinen Gästen das Gebäck mit dem roten Punkt anbieten wolle, zusammen mit einer Auswahl anderer Leckereien.

An diesem Abend ist der Pavillon im Garten der Betörenden Besinnung von Laternen erleuchtet. Ihr goldenes Licht wirft einen warmen Schein über die Wasser des Teiches. Ein Musikant spielt auf der Zither, und die melancholischen Klänge der gezupften Saiten verweben sich mit den dahinplätschernden Gesprächen der Gäste.

»Wie erfreulich, dass Ihr Euch inzwischen aufgeschlossener gegenüber dem Hof zeigt«, sagt der Kanzler lächelnd und spricht ihm im Beisein des Generals ein Lob aus.

Kang schluckt seine Abscheu hinunter und verbeugt sich vor ihm und seinem Vater. »Ich hoffe sehr, auf dem Weg nach Ràohé in den Genuss noch weiterer Ratschläge von Ihnen zu kommen«, sagt er, und die Worte schmecken bitter auf seiner Zunge.

»Sieh zu, dass du das Beste aus ihm rausholst.« Sein Vater klopft Kang jovial auf die Schulter und überlässt ihn dann seiner Aufgabe, die anderen Gäste zu unterhalten.

Kang schlendert durch den Garten und hofft, dass ihm niemand sein Unbehagen anmerkt, als er sich unter die Leute mischt. Der Großteil des Hofes hat sich eingefunden, denn es gibt nur sehr wenige, die sich trauen, eine Einladung des Sohnes des baldigen Kaisers auszuschlagen. Sie wünschen ihm alles Gute für seine morgige Reise, und einige wagen es, weiter nachzufassen, was der Grund für seinen Abstecher nach Norden sei, woraufhin Kang, wie von seinem Vater instruiert, stets die gleiche Antwort gibt: Er soll für den kaiserlichen Regenten etwas erledigen, und das Resultat seiner Bemühungen wird dem Hof nach seiner Rückkehr präsentiert.

Während der Abend unaufhaltsam weiter fortschreitet, zieht Kang sich von den Plaudereien zurück, um seine Gedanken zu klären. Er hält unter einer Trauerweide inne, deren herabhängende Äste ihn an den Tag in den Gärten des Língyǎ-Klosters erinnern. An den prickelnden Nervenkitzel, den er bei der Flucht vor den Mönchen empfand. An das letzte Mal, als sie zu ihm aufsah, vertrauensvoll und offen, bevor alles in Verrat und Anschuldigungen endete.

»Eure Hoheit«, sagt eine leise Stimme neben ihm.

Kang dreht den Kopf und sieht, wie sich ein Mann vor ihm verbeugt, und erwidert die Ehrerweisung mit einem knappen Nicken. Der Mann kommt ihm bekannt vor, um seinen Hals trägt er einen Anhänger, der ihn als Angehörigen des Ministeriums für Rituale ausweist.

»Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet«, sagt Kang.

»Ich gehöre der Palastabteilung an«, erwidert der Mann. »Mein Familienname ist Qiu.«

»Beamter Qiu«, sagt Kang, dann fällt sein Blick auf das Gebäckstück in der Hand des Mannes.

Es ist eines mit rotem Punkt.

Vielleicht ist es ein Zeichen, vielleicht aber auch nur Zufall. Sein Puls beschleunigt sich merklich, und er hat Mühe, seine Stimme ruhig und entspannt klingen zu lassen. »Ich hoffe sehr, dass das Naschwerk Ihnen mundet. Die Füllung dieses besonderen Gebäcks ist für manch einen ziemlich überraschend.«

Der Beamte nickt. »Ich hörte, es sei das Lieblingsgebäck der … ehemaligen Prinzessin.«

Kang blickt ihn überrascht an. Beamter Qiu ist also wegen Zhen hier? Um sich für sie einzusetzen? Um herauszufinden, wem seine Sympathien gehören? Er schaut sich nach allen Seiten um, denn er weiß, dass es im Palast zu viele Augen und Ohren gibt.

»Sind Sie in ihrem Auftrag hier?« Kang beugt sich näher an ihn heran und hält seine Stimme leise.

»Ihr seid meinen Hinweisen nachgegangen und habt die Informationen ermittelt«, entgegnet der ältere Mann. »Das hat mir gezeigt, dass sie recht hatte mit dem, was sie über Euch sagte.«

»Was sie sagte?« Vor nicht allzu langer Zeit erwähnte er Ning gegenüber, dass die Amtsleute ein gutes Gedächtnis hätten. Aber dass er ihn so kurz vor der Thronbesteigung aufsucht … Vielleicht sind die Allianzen der Prinzessin gefestigter, als er ursprünglich dachte.

»Sie hat mit großem Respekt von Euch gesprochen«, sagt Beamter Qiu. »Ihr habt sie in Euren Gesprächen davon überzeugen können, dass Euch das Volk am Herzen liegt. Ihr liegt es ebenso am Herzen, und sie möchte die Menschen nicht leiden sehen.«

»Ich glaube, mein Vater wird tun, was für das Volk von Dàxī am besten ist«, sagt Kang vorsichtig.

»Daran hege ich keine Zweifel. Ich hörte, wie der General sein Volk behandelt. Doch ich bin besorgt, dass er bei seinem Aufstieg zur Macht unter den Einfluss übelwollender Kräfte geraten sein könnte.« Er senkt die Stimme zu einem Flüstern, als ein paar Amtsleute an ihnen vorbeigehen. »Ich hoffe, Ihr konntet Euch ein eigenes Bild machen.«

Der Kanzler. Das Gesicht im Spiegel.

»Ich habe es gesehen, seinen … Einfluss auf die Wǔlín-shī«, sagt Kang. »Aber haben Sie auch handfeste Beweise? Etwas, das vor dem Gerichtshof Bestand hätte?«

Beamter Qui schüttelt den Kopf. »Nur Mutmaßungen. Wir ermitteln gegen den Kanzler, seit er sich gegen die Prinzessin gewandt hat. Aber seine Macht wird von Woche zu Woche größer, und die Situation verschlimmert sich mit jedem seiner Winkelzüge. Zuerst der vergiftete Tee, bei dem wir nicht eindeutig beweisen können, dass er seinem Einfluss entsprang. Als Nächstes die Banditen entlang der Grenzen, die mit kaiserlichem Silber bezahlt wurden, um Unruhe zu stiften. Und jetzt die verschandelten Säulen und die geheiligten Relikte, die aus der Erde geborgen werden. Die Sterndeuter haben die unheilvollen Anzeichen für eine große herannahende Finsternis gesehen. Wir vermuten, dass der Kanzler womöglich andere Absichten verfolgt, als einen neuen Kaiser auf den Thron zu setzen.«

»Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?« Seine Position am Hof ist bestenfalls als schwach zu bezeichnen. Was hat er schon groß zu bieten, außer dass er der Adoptivsohn seines Vaters ist.

»Er könnte unachtsamer werden, wenn er unterwegs ist, fernab der Annehmlichkeiten des Palastes und ohne seine persönlichen Wachen. Dann, wenn er sich unbeobachtet fühlt. Vielleicht könnt Ihr herausfinden, was seine Absichten sind, oder irgendeine Schwachstelle aufdecken. Oder wie er Einfluss auf die Wǔlín-shī nimmt. Irgendetwas, das uns helfen kann.«

»Uns?«

»Ihr und die Prinzessin habt beide Verbündete bei Hof, vergesst das nicht. Euer beider Interessen liegen möglicherweise näher beieinander, als Ihr denkt.« Der Blick des Beamten Qiu gleitet über Kangs Schulter hinweg, dann macht er eine Verbeugung, als sich ein weiterer Beamter nähert. »Alles Gute für Euch, Hoheit. Ich hoffe, Ihr findet, wonach Ihr sucht.«

Der Regen in Ràohé hat mit dem warmen Niesel, den Kang von der Küste her gewohnt ist, nichts gemein. Die Regenzeit geht mit wolkenbruchartigen Güssen einher, bei denen nichts trocken bleibt.

Frustrierenderweise wurden seinen Bestrebungen, herauszufinden, was der Kanzler auf dieser Reise vorhat, gleich zu Beginn Steine in den Weg gelegt. Er schlug nämlich vor, den Kanzler um dessen Sicherheit willen in seiner Kutsche zu begleiten, aber Kanzler Zhou hatte sein Geleit abgelehnt, mit der Begründung, die Wǔlín-shī böten mehr als genug Schutz. Kang wurde mitgeteilt, dass der Kanzler unterwegs einige weitere Zwischenhalte einlegen müsse, was bedeutet, dass sie getrennt voneinander reisen werden und der Kanzler länger als erwartet brauchen wird, um Ràohé zu erreichen, wo das Schwarzwasser-Bataillon stationiert ist.

Und so reist Kang stattdessen, so schnell es geht, zu Pferde nach Ràohé, entschlossen, noch vor der Ankunft des Kanzlers möglichst viel Zeit allein im Lager zu verbringen. Um zu versuchen, den Zweck dieser Mission zu ergründen und Anhaltspunkte zu finden, die ihm bei der Suche nach Antworten weiterhelfen. Er ist sich nicht sicher, ob ihn der Gedanke tröstet oder beunruhigt, dass er, wie Beamter Qiu behauptete, von potenziellen Verbündeten beobachtet wird, die mitverfolgen, was er tut.

Im Lager angekommen, wird Kang von zwei Hauptleuten begrüßt, die ihn als den neuen Kommandeur willkommen heißen. Als er sich in seinem neuen Quartier einrichtet, bekommt er überraschenden Besuch von einem breit grinsenden Ren – dem Soldaten, der ihn als Neuling im Tianguan-Bataillon unter seine Fittiche nahm. Er ist in Begleitung eines weiteren bekannten Gesichts: Badu, mit dem Kang zusammen aufgewachsen ist, da sie beide mehr oder weniger von den Soldaten von Kǎiláng großgezogen wurden.

Obwohl er müde und steifgliedrig ist und die kühle Feuchtigkeit ihn frösteln lässt, freut er sich, als er am Lagerfeuer und an den behelfsmäßigen Ställen weitere vertraute Gesichter entdeckt, und in gewisser Weise hat er das Gefühl, heimgekehrt zu sein.

Am nächsten Tag wird Kang durch das Lager geführt und über den Zustand des Bataillons ins Bild gesetzt. Alles scheint in bester Ordnung. Die Vorräte sind ausreichend, die Waffen gut instand.

Erst im Lazarettzelt hält Kang inne, als sein Blick auf die Kranken fällt, die dort in einer Ecke in ihren Betten liegen. Offensichtlich sind diese Leute keine Soldaten; er erkennt es an ihrer glatten Haut und den zarten Händen. Sie sind weder wettergegerbt noch von Kämpfen gezeichnet. Einer hat sein rechtes Bein in einem Gips. Ein anderer ist mit Bändern an sein Bett fixiert, das Gesicht verzerrt, als litte er Schmerzen, und murmelt wirr vor sich hin. Die dritte Person, eine Frau, liegt reglos mit offenen Augen da und starrt ins Leere.

Mit Schrecken erkennt Kang den zweiten Mann wieder. Es ist Shao, der Sieger des Wettbewerbs. Er war einst so voller Vertrauen in seine Magie, dann zögerlich und zurückhaltend vor dem Hof. Und jetzt irrt er irgendwo verloren durch seinen Geist.

»Was ist mit ihnen geschehen?«, fragt Kang.

Ein Sanitäter eilt herbei und verneigt sich. »Kommandeur. Diese sind die Shénnóng-shī und Shénnóng-tú, die vom Kanzler geschickt wurden, um die Seherin aufzuspüren, die in der Schlucht von Bǎiniǎo haust. Wir begleiteten sie, als sie versuchten, ihre Magie auszuüben, aber die wenigen, die wiederkamen, kehrten in diesem Zustand zurück.«

Hierher also gingen die Shénnóng-Magier, nachdem sie von den Palastwachen zusammengetrieben worden waren. Bestimmt hatten sich einige von ihnen beweisen wollen, nachdem einer ihrer Elder den kaiserlichen Regenten offen herausgefordert hatte und der Eindruck entstanden war, Hánxiá sei gespalten.

»Was ist das für ein Ort, den du erwähntest? Die Schlucht von Bǎiniǎo?«, fragt Kang und gibt sich ahnungslos. Sein Vater sagte ihm, dass nur einige wenige über den Wert des Kleinodes, das sie suchen, Bescheid wissen. Das Bataillon weiß lediglich, dass sie in der Gegend nach einer bestimmten Person suchen, die durch magischen Einfluss geschützt ist.

»Die Schlucht von Bǎiniǎo erstreckt sich über eine Länge von hundert li , Kommandeur«, antwortet ein Soldat. »Die Stadt Ràohé überblickt die Schlucht, durch die ein Arm des Flusses Fúróng fließt, eingebettet zwischen den Felsen des Hallenden Donners auf der Ràohé-Seite und den Felsen des Stummen Blitzes auf der anderen Seite.«

»Die Einheimischen sprechen von einer Eremitin, die dort lebt, aber unsere Bemühungen, zu ihr Kontakt aufzunehmen, waren bislang erfolglos«, fährt der Soldat fort. »Auf unsere Anwesenheit wurde eher … zurückhaltend reagiert.«

Kang blickt auf die Frau hinunter, die zu ihm heraufstarrt, ohne etwas zu sehen. Er wedelt mit der Hand vor ihrem Gesicht. Nichts – nicht das leiseste Zucken deutet darauf hin, dass sie irgendetwas von dem, was um sie herum geschieht, wahrnimmt. Es erinnert ihn auf verstörende Weise an das Gesicht seines Wǔlín-Lehrers. Das Fehlen jeglichen Ausdrucks.

»Als ich zur örtlichen Apotheke ging, um Arzneien für ihre Behandlung zu besorgen, sagte einer der Stadtbewohner zu mir: ›Manchmal verschlingt die Schlucht Menschen samt Haut und Haaren. Manchmal spuckt die Schlucht Menschen aus.‹« Der Sanitäter erschauert bei der Erinnerung. Die Soldaten tauschen beunruhigte Blicke aus.

»Wir gehen nach Ràohé«, beschließt Kang. »Ich möchte die Schlucht mit eigenen Augen sehen.«