Ning 寧
Am Morgen lassen wir die Festung hinter uns. Als wir Richtung Wald wandern, kommen wir an weiteren roten Bannern vorbei, die vorbeiziehenden Reisenden signalisieren, dass sie sich Wǔlín nähern. Shu streckt die Hand aus und berührt eines, dann erschauert sie.
»Spürst du es?«, fragt sie leise.
»Was?« Ein weicher Regen hat eingesetzt, und die sanfte Biegung der Straße führt zwischen die Bäume.
»Wǔlín wird von etwas beschützt, glaube ich«, sagt sie. »Von einer Grenze.«
Ich werfe Bruder Huang einen Blick zu, woraufhin er den Kopf schüttelt.
Vielleicht ist Shu ein Teil der Magie noch erhalten geblieben, vom Gift unbeeinträchtigt. Vielleicht hat die Shénnóng-shī, die Sterndeuter Wu uns aufgetragen hat zu finden, die rettenden Antworten. Vielleicht kann sie uns sagen, wie wir Shus Magie zu ihr zurückbringen können. Ein neugestecktes Ziel. Meine Schritte werden leichtfüßiger.
»Wir werden ja sehen, was uns auf der anderen Seite begegnet«, sage ich.
Shu nickt entschlossen. »Ich bin bereit.«
Ich nehme ihre Hand, und wir überqueren gemeinsam diese Grenze. Halten auf das zu, was uns als Nächstes erwartet.
Mit Hilfe von Bruder Huangs Gebietskenntnissen sowie unserer Karte berechnen wir, dass es zwei oder drei Tage dauern wird, um über die beiden zur Auswahl stehenden Routen nach Ràohé zu gelangen, je nachdem, wie schlimm die Straßen von den Sommerstürmen in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Ein Pfad zieht sich am Rand der Schlucht entlang und ist anfällig für Erdrutsche. Die andere Route führt über eine stärker frequentierte Straße, die sich durch einen Wald hindurchschlängelt. Bruder Huang blickt in den Himmel, und ihm ist anzumerken, dass ihm nicht gefällt, was er sieht. Der Wind trägt einen besonderen Geruch mit sich, und die Temperatur fällt merklich ab. Wenigstens haben wir die Umhänge und die Wanderstäbe, die Wǔlín uns geschenkt hat.
»Wenn wir es schaffen, dem Sturm zuvorzukommen, haben wir vielleicht eine Chance auf dem Weg entlang der Schlucht. Aber wenn der Regen anhält, werden wir die Straße nehmen müssen«, warnt uns Bruder Huang.
Die Steine auf dem Pfad sind zwar rutschig, aber gut zu bewältigen. Bruder Huangs Laune scheint ungetrübt von dem langen, anstrengenden Marsch. Er singt sogar ein Duett mit Shu, als der Regen mal eine kurze Verschnaufpause einlegt. Es ist ein Volkslied über eine kaputte Brücke, die ein Mädchen und einen Jungen aus zwei verschiedenen Dörfern voneinander trennt.
»Wirst du dich meiner im nächsten Jahr noch erinnern?« , fragt Bruder Huang.
»Wirst du zurückkehren und mir dein Lied singen?« , antwortet Shu.
Als ihrer beider Stimmen sich im Refrain vereinen, muss ich an Kang denken. Alles ist so verworren. Der Junge, der aus dem Himmel geflogen kam und mir dann seine Absichten verschwieg. Der Junge, der mit mir über den Markt rannte und mich durch ein Meer aus Blumen führte. Und dann ist da das Wissen darum, was Wenyis Familie zugestoßen ist, die Gräueltaten, die begangen wurden. Der Kanzler, der mich verhöhnte und wissen wollte, wie ich immer noch an Kangs Unschuld glauben könne, wo er doch in den Lagern von Lǜzhou aufgewachsen sei. Es fällt mir schwer, all diese verschiedenen Versionen von Kang unter einen Hut zu bringen.
»Als du mir sagtest, die Zeit sei vergänglich, wie wir zusammen vom Herbstwein tranken …« Bruder Huangs Stimme hallt zu den Bäumen hinauf, und dann fällt Shu für die letzte Strophe mit ein.
»Ich weiß, genau wie jener Sommer kommst auch du nie wieder zu mir zurück .«
Trotz all der schrecklichen Dinge, die man mir erzählt hat, möchte ich gern glauben, dass Kang anders ist. Ich weiß um das Vermächtnis seines Vaters und was der Kaiser ihm und seiner Familie angetan hat. Wie er gegen die Geschichte seiner Familie ankämpfte, genauso vehement, wie ich mich gegen die Erwartungen meiner Familie stemmen musste.
Als wir einen kleinen Tempel erreichen, schüttet es wieder wie aus Kübeln. Wir beschließen, hier unser Nachtlager aufzuschlagen, um ein trockenes Dach über dem Kopf zu haben. Mit einem improvisierten Besen aus Reisig kehren wir die Blätter zusammen, die im Laufe der Zeit hereingeweht wurden, und machen oberflächlich sauber. Es ist etwas trockenes Holz vorrätig, gesammelt von vormaligen Reisenden, und wir errichten ein kleines Feuer, während draußen ein Sturm wütet.
Beim Abendessen unterhält uns Shu mit einer Geschichte. Eine Frau fand einst einen sterbenden Tiger im Wald, der drohte an einem Knochen zu ersticken. Statt ihn dem sicheren Tod zu überlassen, zog sie ihm das Knochenstück aus dem Schlund und pflegte das Tier wieder gesund. Monate später traf die Frau im Wald auf einen grimmig aussehenden Mann. Er hatte riesige goldene Augen, die sie an Zimbeln erinnerten, und dunkle, schwarze Barthaare. Er erzählte ihr, dass sie ihm einst das Leben gerettet habe, und brachte sie in sein Haus in den Bergen. Dort gab er sich ihr als der Gott des Donners zu erkennen, als der Schwarze Tiger, und sie wurde die Göttin des Lichts.
Hier oben hoch in den Bergen ist es im Sommer nicht so warm wie unten im Tal. Ich wünschte, wir hätten noch die warmen Decken, die wir in Wǔlín bekommen hatten, aber sie waren zu schwer, um sie auf unserer Reise mitzuführen. Stattdessen brühe ich für mich und meine Gefährten Tee auf und streue ein paar Kräuter über die Blätter. Ich entscheide mich für Ingwer, Zimt, Gewürznelke und den stärksten, am längsten gereiften Tee, den ich in Form eines kleinen Ziegels aus den Küchen Yěliǔs mitgenommen habe. Ich wünschte, ich könnte meine Magie einsetzen, um für mehr Energie und Wärme zu sorgen. Doch ich weiß nun, dass dies nur die Schlange anlocken würde, und das darf ich nicht riskieren.
Während Bruder Huang den Tee in kleinen Schlucken trinkt, erzählt er uns die Geschichte des Donnergottes, wie sie in seinem Dorf, hoch oben im Norden, jenseits der Schlucht, erzählt wird. Dort ist der Schwarze Tiger der Gott der Reisenden, und es heißt, er würde oft einen Umhang mit Kapuze tragen, um die Streifen in seinem Gesicht zu verbergen. Er verleiht jenen, die ihm einen Platz an ihrem Feuer anbieten, Weisheit, und heute ist genau die Art von Nacht, in der er sich zeigen würde.
So, wie ich in den kaiserlichen Küchen lernte, dass quer durch das Reich unterschiedliche kulinarische Vorlieben gepflegt werden, staune ich nun über die verschiedenen Versionen der Geschichten, die wir uns erzählen. Ein und derselbe Gott wird von Provinz zu Provinz für unterschiedliche Besonderheiten verehrt.
Wir schlafen zum Geräusch des Regens ein, der auf die Schindeln prasselt und von den Dachsparren tropft, fast so, als sänge er sein eigenes Lied.
Erschrocken wache ich auf. Um mich herum ist alles dunkel. Ich höre Shus tiefe Atemzüge neben mir. Etwas hat mich wach gemacht. Äste, die von außen gegen das Gebäude trommeln? Oder etwas anderes …
Im Augenwinkel nehme ich eine Bewegung wahr. Ich drehe den Kopf. Bruder Huang sollte Wache schieben, aber ich sehe, dass er eingenickt ist und halb liegend, halb sitzend an der Wand lehnt, mit offen hängendem Mund.
Langsam setze ich mich auf, meine Zähne schlagen klappernd aufeinander. Es ist kalt und dunkel, mit fortschreitender Nacht hat sich Kälte um uns herum ausgebreitet. In der Feuerschale glimmt noch schwach die Glut. Das Licht reicht gerade aus, um den kleinen Raum zu illuminieren und Schatten über die Wand zu werfen. Ich höre ein Rascheln und dann … ein unheimliches Pfeifen.
Das muss ein Traum sein. Bestimmt träume ich wieder. Mein Puls klopft schnell in meiner Kehle.
Das vielstimmige Gewisper ist wieder da, es schwillt vernehmlich an. Die Schatten winden sich in den Ecken und nehmen Gestalt an, wie ein Nest von Schlangen. Langsam breitet es sich über der Wand aus, bis es sich entrollt und die Silhouette einer Schlange hervortritt. Ihre Zunge schießt zuckend hervor, um die Luft zu kosten. Wir sind so weit entfernt vom Bambuswald, von den schützenden Grenzen Wǔlíns. Hier sind wir schutzlos.
»Hab dich … sss … gefunden …« , zischt die Schlange.
Mein Arm pocht. Im kargen Lichtschimmer der Glut sehe ich, wie meine Haut sich um meine Narben herum kräuselt und zuckt, als winde sich etwas unter der Oberfläche, das herauswill. Galle steigt in meiner Kehle hoch.
Ich träume. Ich muss träumen.
Ich flehe die Göttin an, mich zu erhören. Ich flehe sie an, dass sie mich aus diesem Albtraum befreit.
Ich rüttele an Shu, um sie aufzuwecken, aber ihr Kopf rollt auf die Seite. Ich nehme ihr Gesicht in beide Hände und stelle fest, dass ihre Haut eiskalt ist. Ihre Augen starren leer nach oben. Es sind die Augen eines toten Mädchens.
Mit einem Aufschrei schrecke ich vor ihr zurück und stoße mit dem Rücken gegen die Wand. Die Schlange wächst aus dem Stein heraus, nimmt leibhaftige Gestalt an und erhebt sich über mich.
»Ich werde dich holen … deine köstliche, süße Magie …«, frohlockt sie.
Ein jähes Blitzen zuckt auf.
»Zurück!«, höre ich Shu schreien.
Ich sehe sie. Die Konturen ihrer Gestalt zeichnen sich im Licht einer Fackel ab, die sie in den Händen hält. Ich könnte schwören, über ihrem Kopf den Schwung weißer Flügel zu sehen.
Mit einem Keuchen reiße ich mich von den Fesseln des Albtraums los. Ein Traum innerhalb eines Traums. Dieses schreckliche Flüstern …
Shu kniet vor mir auf dem Boden. Wir starren einander an. Wortlos öffnet sie ihre Faust, und auf ihrem von Blasen übersäten Handteller liegt eine weiße Feder.
Ich helfe ihr beim Säubern und Verbinden ihrer Hand. An Einschlafen ist nicht zu denken, nach dem, was passiert ist, also bleiben wir stattdessen wach und reden über das, woran Shu sich erinnert. Sie erzählt, dass sie mitten in der Nacht aufgewacht ist. Das Feuer war verloschen, und der Raum war bitterlich kalt. Sie hatte das Feuer wieder in Gang gebracht, als sie mich schreien hörte. Sie versuchte, mich wach zu rütteln, aber ich war in den Tiefen meines Albtraums gefangen. Plötzlich schlug das Feuer neben uns hoch, eine ganze Wand aus Flammen, und sie hörte die Stimme einer Frau: »Greif ins Feuer und rette sie.«
Sie tat, wie ihr geheißen, und das Feuer sprang in ihre Hand. Sie erhaschte einen Blick auf die Schlange, die vor dem Licht zurückschreckte, und dann schrumpfte das Feuer auf Normalgröße zusammen. Augenblicke später schlug ich die Augen auf.
»War das dieselbe Schlange, die dich in deinen Träumen gejagt hat?«, frage ich.
»Ich … ich bin nicht sicher«, antwortet sie zögernd. »Diese Schlange sieht anders aus. Meine war von Schuppen bedeckt. Sie wirkte irgendwie … echter.«
Wir sagen Bruder Huang kein Wort darüber, als er schließlich erwacht. Wir wissen nicht sicher, ob er uns glauben würde. Oder ob er wie Sterndeuter Wu denken würde, wir seien anfällig für bösartige Einflüsse. Oder vielleicht wird er auch nur meinen, wir hätten geträumt.
Es hat die ganze Nacht durchgeregnet, und der Boden ist völlig aufgeweicht. Auf dem zerfurchten Weg haben sich unzählige Lachen gebildet, und ein kräftiger Wind erschwert unser Vorankommen.
»Der Tiger-Gott ist wütend«, murmelt Bruder Huang. »So wie es aussieht, müssen wir vermutlich auf der Straße nach Ràohé weiterreisen.«
Als wir eine Weggabelung erreichen, stellen wir fest, dass er recht hat. Der steil aufwärts führende Pfad, der die Schlucht überblickt, ist überspült worden. Herabströmende Schlammbäche machen es uns unmöglich, den Hang zu erklimmen. Wir müssen die andere Route nehmen, aber mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass wir dort Gefahr laufen, Reisenden zu begegnen, die mein Gesicht erkennen und mich wegen der ausgesetzten Belohnung gefangen nehmen könnten. Zum Glück ist bei dem Regen die Wahrscheinlichkeit geringer, dass viele Leute draußen unterwegs sein werden. Vermutlich bleiben sie lieber in ihren Häusern hocken, wo es warm und sicher ist. Dort wäre ich jetzt auch gern, statt knöcheltief durch den Matsch zu waten. Ich spüre, wie sich meine Brust immer enger zusammenzieht, wie ein Faden, der sich um eine Spule wickelt.
Die nächste Nacht verbringen wir dicht zusammengedrängt in einer Höhle. Ich fühle mich elendig. Alles ist klamm und feucht. Zum Träumen bin ich zu müde.
Wir setzen unseren strapaziösen Aufstieg fort, bis wir endlich einen eben verlaufenden Abschnitt erreichen, was eine köstliche Erleichterung für meine schmerzenden Glieder ist. Am späten Nachmittag kommen wir an eine Brücke, die über einen Fluss führt, das Wasser leckt bereits an den hölzernen Planken. Uns krampfhaft ans Geländer klammernd, schaffen wir alle drei es auf die andere Seite. Der Regen prasselt so hart herab, dass es sich anfühlt, als würden winzige Fäuste auf uns einprügeln.
»Sollten wir vielleicht dorthin zurückkehren, wo wir hergekommen sind? Und warten, bis der Regen aufhört?«, rufe ich Bruder Huang über das Tosen um uns herum zu, aber er schüttelt den Kopf.
»Das halte ich für keine gute Idee«, ruft er zurück. »Die Brücke wird sicher bald überspült sein, und dann säßen wir in der Falle. Wir würden es erst nach dem Rückzug des Wassers zur Straße schaffen und ohne Essen am Berghang festsitzen.«
Wir stapfen weiter, mühsam gegen den Wind ankämpfend.
Dicke Regenschnüre verhängen uns die Sicht, deshalb entdecken wir die Soldaten erst, als wir sie schon fast erreicht haben.
»Das Schwarzwasser-Bataillon!«, schreit Bruder Huang über das Regenrauschen hinweg. »Lauft!«
»Halt!«, brüllen sie, als wir uns umdrehen und fliehen. Beim Loslaufen verliere ich fast meinen Stiefel und stolpere. Bruder Huang hievt mich aus dem Schlamm. Zu dritt untergehakt versuchen wir uns gegenseitig zu ziehen, aber der Wind dreht sich, so dass der Regen nun von vorne kommt und trotz der aufgesetzten Kapuzen auf unsere Gesichter einpeitscht.
Ein Stück weiter vor uns ist der Fluss zu sehen, aber in der Zeit, die wir gebraucht haben, um uns den Hügel hinauf- und wieder hinunterzukämpfen, ist der Fluss über die Ufer getreten und hat die Brücke restlos verschluckt.
Neben mir ertönt ein Schrei. Ich fahre herum und sehe Shu, die in den Armen eines Soldaten strampelt. Eine Hand umklammert meine Schulter.
Wir sind gefangen.