Kapitel 24

Ning

Einer der Soldaten bringt Seile und fesselt unsere Handgelenke. Dann schleifen sie uns wieder den Hügel hinauf. Sie zerren mir die Kapuze vom Kopf und starren in mein Gesicht. Ich bin mit Schlamm beschmiert, deshalb hoffe ich, dass sie mich nicht als die gesuchte Shénnóng-tú von den Fahndungsplakaten erkennen.

»Wenn sich die Gelegenheit ergibt«, raune ich Bruder Huang zu, als sie unser Gepäck nach illegalen Waren durchwühlen, »schnappen Sie sich Shu und fliehen.«

»Auf keinen Fall«, zischelt Bruder Huang zurück. »Ich werde niemals jemanden im Stich lassen, der mir anvertraut wurde. Das verstößt gegen den Kodex.«

Das Lager, in das wir gebracht werden, ist eine Ansammlung von Zelten. Anscheinend haben sie bereits einige Zeit im Regen gestanden, denn das ganze Areal ist eine einzige Schlammgrube. Innerlich verfluche ich unser Pech. Dies sind keine Banditen, mit denen sich verhandeln ließe, deren Treue möglicherweise brüchig ist. Das hier sind die Schurken, von denen Wenyis Familie behauptete, sie würden all jene, die sich ihnen widersetzen, vergiften oder ermorden.

Wir sind genau jenen in die Hände gefallen, von denen wir uns um jeden Preis hätten fernhalten sollen.

Mitten durch den Schlamm hindurch führt man uns zu dem größten Zelt in der Mitte des Lagers. Darinnen kommt es mir so vor, als wären wir in eine andere Welt eingetreten. Etliche Feuerschalen verbreiten wohlige Wärme in dem Raum, der größer ist als mein Zuhause in Xīnyì. Als hätte jemand ein ganzes Haus hochgehoben und es an diesem Ort einfach fallen gelassen. Unter unseren Füßen befindet sich eine hölzerne, vom Boden erhöhte Plattform, so dass wir nicht durch den Dreck stapfen müssen, und unsere schmutzigen Sohlen hinterlassen beim Gehen Abdrücke darauf. Kupferne Räuchergefäße hängen an Ketten über unseren Köpfen und verströmen den üppigen Geruch von tánxi āng , ein teurer Duftstoff.

Mehrere Soldaten stehen um einen ausladenden Tisch in der Mitte des Zeltes herum. Ich habe keine Ahnung, wie sie mit solch einem klobigen Möbelstück hierherreisen konnten. Zudem sind da noch ein paar Leute, die in Roben gekleidet sind und eher wie Gelehrte aussehen als wie kampfbereite Krieger. Strategen, vielleicht? Wie auch immer, sie streiten leidenschaftlich über das, was vor ihnen auf dem Tisch liegt.

»Hauptmann!«, ruft einer der Soldaten neben uns. »Sie wollen doch sicher diese Gefangenen sehen.«

Der Hauptmann dreht sich um und schreitet auf uns zu, seine Miene verfinstert sich. »Warum habt ihr mir einen Haufen Bauern gebracht? Was nützen sie dem Bataillon?«

»Sehen Sie selbst!« Ich werde nach vorne gestoßen und die Stimme des Soldaten kräht neben meinem Ohr. »Das ist Zhang Ning! Das gesuchte Mädchen! Die in Ungnade gefallene Shénnóng-tú.« In der einen Hand eine Schriftrolle haltend, die für alle sichtbar mein Konterfei zeigt, reißt er mit der anderen meinen Kopf zurück und zwingt mich dazu, hochzublicken. Der Aufruhr hat die Aufmerksamkeit aller im Zelt erregt.

»Lass das!«, schreit Shu hinter mir. Ich höre die Geräusche eines Handgemenges und versuche, mich loszureißen, aber der Mann, der mich festhält, zerrt so ruckartig an meinen Haaren, dass meine Kopfhaut brennt wie Feuer.

Eine Stimme durchschneidet den Lärm. »Lass sie los.«

»Kommandeur?«, fragt der Soldat neben mir.

»Ich sagte, lass sie los.«

Ich bin wie erstarrt, als die Hand von meinem Haar ablässt und der Soldat einen Schritt zurückweicht. Langsam richte ich mich auf und drehe den Kopf, um mich herum bewegt sich alles wie in Zeitlupe. Als wäre ich in einem meiner Albträume gefangen.

Kang steht da, sein Haar ist streng nach hinten frisiert. Auf den Schultern seiner Rüstung sitzen Flügel, und der fauchende Kopf eines silbernen Drachen prangt auf seinem Brustpanzer, das Abzeichen für seinen Rang. Der Soldat hat ihn »Kommandeur« genannt.

Ich will den Blick von ihm abwenden, aber ich kann nicht. Die Erinnerungen an die Tage, die ich mit ihm im Palast verbracht habe, stürzen auf mich ein. Das letzte Mal sah ich ihn auf den Straßen, als ich mein Heil in der Flucht suchte und zu der Fähre rannte. Als ich all diesen Prunk hinter mir ließ. Als ich meine Schwester für mich verloren glaubte und sämtliche meiner Hoffnungen unter meinen Füßen zermalmt wurden. Ich durchquerte das Kaiserreich einmal und dann noch einmal, aber niemals, nicht in meinen kühnsten Träumen, hätte ich mir ausgemalt, ihm hier in dieser Wildnis zu begegnen.

Aber er spricht nicht mit mir. Stattdessen dreht er sich um und rügt den Soldaten, der mich gepackt hat. »Dachtest du etwa, junge Frauen zu terrorisieren, würde uns beim Volk beliebt machen?«, knurrt er.

Der Soldat macht ein verdattertes Gesicht und protestiert. »Aber sie ist gefährlich! Sie ist eine Feindin des Reiches!«

»Und er ist dein Kommandeur!«, faucht der Hauptmann. »Wie kannst du es wagen!«

Der Soldat sinkt auf ein Knie nieder und drückt sich die Breitseite seiner Klinge gegen die Stirn. »Ich bitte demütigst um Verzeihung, Hauptmann. Kommandeur.«

»Wer sind diese Leute, mit denen du unterwegs bist?« Kangs nächste Frage ist an mich gerichtet. Ich zwinge mich dazu, ihm in die Augen zu sehen. Soll ich lügen? Aber ich denke, er wird es merken, wenn ich nicht die Wahrheit sage.

»Meine Schwester und mein Lotse«, sage ich. Nicht die ganze Wahrheit, aber ein Stück davon.

Seine Augen weiten sich vor Überraschung, und mir geht auf, dass er sich an unser Gespräch in Língyǎ erinnert, als ich ihm sagte, ich würde alles tun, um meine Schwester zu retten.

»Wohin willst du?«, fragt er, nachdem er sich wieder gefangen hat.

Ich kann ihm nichts von unserer Mission erzählen, erst recht nicht im Beisein so vieler dem General treuergebener Soldaten. In Gegenwart so vieler meiner Feinde. Offenbar spürt er mein Zögern, denn er gibt ein Zeichen mit der Hand. »Lasst uns allein.«

»Aber Herr!«, protestiert jemand.

Kang ignoriert die Einwände und richtet sich an den Mann, der immer noch neben mir kniet. »Habt ihr sie nach Waffen abgesucht?«

»Wir haben nichts Nennenswertes gefunden«, antwortet der Soldat. »Es gab eine Waffe, die wir dem Mann abgenommen haben, das war alles.«

»Bringt den Mann und das Mädchen ins Gefangenenzelt«, befiehlt Kang. »Ich möchte mit der Shénnóng-tú unter vier Augen sprechen.«

Der Hauptmann tritt vor. »Ist das klug, Kommandeur? Sie ist eine gesuchte Gefangene. Die sich des Mordes schuldig gemacht hat.«

»Ich übernehme die volle Verantwortung«, erklärt Kang mit Autorität in der Stimme.

So habe ich ihn noch nie erlebt. Selbstbewusst. Gebieterisch. Ein Anführer.

Und dann fügt er ironisch und viel mehr nach dem jungen Mann klingend, den ich kenne, hinzu: »Sollte sie es schaffen, mich in einem Lager mit sechzig der fähigsten Soldaten meines Vaters umzubringen, dann bin ich wohl der Einzige, dem die Schuld daran zu geben ist.«

Ich blicke zu Shu hinüber und sie zu mir. Ich möchte nicht, dass sie von mir getrennt wird, aber ich sehe keine andere Wahl. Ich nicke ihr sachte zu.

»Ich möchte Euch dringend empfehlen, ihre Hände gefesselt zu lassen«, sagt der Hauptmann, bevor er durch die Zeltöffnung nach draußen verschwindet und wir allein sind.

Das Zelt ist plötzlich gleichzeitig zu klein und zu groß für uns beide, und ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll. Die getrocknete Schlammkruste auf meiner Wange fängt an zu jucken, und das Wasser, das von meinem Körper tropft, sammelt sich in Pfützen um meine Füße.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe«, sagt er und klingt leicht atemlos. Er streckt die Hände nach mir aus, und ich weiche einen Schritt zurück, doch er deutet auf meine Handgelenke.

Oh.

Ich erlaube mir, ihn anzusehen, während er die Knoten um meine Handgelenke löst und das Seil zu Boden fallen lässt. Ich sauge seinen Anblick in mich auf, die vertrauten Züge seines Gesichts, die Straffheit seiner Schultern. Früher habe ich ihn immer wieder gefragt, wer er sei. Wer ist er wirklich?

Der adlige Sohn. Der Soldat. Der ernsthafte Junge, der mich aus dem Wasser zog, der über mein Haar strich und von seiner Familie erzählte. Der Krieger, der vor mir steht, der mit Autorität spricht und ein berüchtigtes Bataillon befehligt.

»Das scheinen wir ziemlich häufig zu sagen«, murmele ich, während eine Flut von Gefühlen mich überschwemmt. Wut, Bedauern, Schock – und doch … möchte ich ihn berühren, um zu sehen, ob er sich noch genauso anfühlt, wie ich es in Erinnerung habe. Die Verbindung zwischen uns pulsiert noch immer, versucht, mich wieder einzunehmen.

»Wie ich sehe, hast du deine Schwester gerettet«, sagt er, als wären die Umstände unseres Treffens anders beschaffen, als sie es sind. Als würden wir bei einer Tasse Tee darüber plaudern, wie es uns so ergangen ist, nachdem wir uns eine Zeitlang nicht gesehen haben. Ich kann diese Sanftheit kaum aushalten. »Du hast das Gegenmittel gefunden.«

In seiner opulenten Residenz im Palast habe ich ihm unsere vertraulichen Gespräche ins Gesicht geschleudert. Ich sagte ihm, unsere Beziehung wäre nur Schein, alles Lüge. Mein Gesicht brennt heiß. Ich versuche, die Wut zu packen und in mir zu halten, aber sie entgleitet mir wie Wasser.

»Das Einzige, worum ich dich bitte, ist, sie gehen zu lassen«, sage ich. Es liegt nicht in meiner Natur, mich zu fügen. Ich will nicht betteln, aber ich muss, wenn es die Rettung meiner Schwester bedeutet.

Kang schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, was du von mir denkst, aber ich bin kein Ungeheuer. Ich werde dafür sorgen, dass du und deine Schwester sicher seid.« Er kommt einen Schritt näher.

Ich weiß, ich sollte ihn aufhalten. Ich sollte meine Hände hochreißen. Ich sollte zurückweichen.

»Sie sagen, ich hätte zehn Hofbeamte ermordet.« Ich halte meine Stimme leise. »Sie sagen, ich hätte auf Geheiß der Prinzessin an der Ermordung des Kaisers mitgewirkt.«

Ein seltsamer Ausdruck huscht über sein Gesicht. Eine Erinnerung daran, dass er vom Tod des Kaisers wusste, dass es passierte, bevor ich überhaupt einen Fuß in den Palast setzte. »Ich weiß, dass das nicht wahr ist.«

»Glaubst du, dass du mich so gut kennst?«, entgegne ich.

»Ich weiß, dass du zu einem Mord nicht fähig bist«, sagt er.

In mir regt sich etwas. Wenn ich doch nur jene Macht hätte. Wahre Macht. Wenn ich über Träume hinwegreichen könnte, über große Distanzen, so, wie die Schlange es kann. Schnell dränge ich diesen Gedanken beiseite. Diese Art von Macht wurde mir einmal angeboten, aber ich weiß, dass ich die Konsequenzen nicht ertragen könnte.

»Woher willst du das wissen? Woher willst du wissen, wozu ich fähig bin?«

Er denkt darüber nach. Ich bemerke die dunklen Schatten unter seinen Augen, als hätte er schon eine ganze Weile lang nicht mehr geschlafen. Als ob ihn irgendetwas quält.

Kang seufzt. »Ning, ich …«

Die Zeltklappe wird zurückgeschlagen, und ein scharfer Windstoß fährt herein. Hell flackern die Flammen in der Feuerschale auf, und die an ihren Ketten schaukelnden Räuchergefäße werfen zuckende Schatten über die Zeltwand.

Der Hauptmann tritt ein. »Verehrter Kommandeur. Es ist eine dringende Nachricht des kaiserlichen Regenten für Euch eingetroffen.«

Kang reibt sich die Augen. »Wir führen unsere Unterhaltung fort, sobald ich … fertig bin. Wachen!«

»Das wird nicht nötig sein«, sagt Großkanzler Zhou im Hereinkommen. Der Mann, der mich vor Gericht angeklagt hat, der Mann, der mich zum Tode verurteilte. Der Mann, dessen Unterschrift unter dem Befehl des Justizministeriums steht, dass man mich aufspüren und zurückbringen soll – tot oder lebendig. »Ich werde mit ihr sprechen und sie zu den anderen Gefangenen zurückbringen, wenn ich fertig bin.«

Kang betrachtet ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck, so als wäre er die letzte Person, mit der er gerechnet hat. »Kanzler.«

»Mein Prinz.« Der Kanzler verbeugt sich mit fast spöttisch anmutender Überschwänglichkeit.

Mein Blick huscht zwischen den beiden hin und her. Kang ist sichtlich angespannt. Zwischen den beiden gibt es eine Geschichte. Eine, die ich nicht verstehe.

Kang sieht mich ein letztes Mal an, bevor er aus dem Zelt marschiert und mich mit dem Mann allein lässt, den ich so abgrundtief verachte.