Kang 康
Als Kang zum Hauptzelt zurückkehrt, ist Ning weg. Stattdessen sitzt dort Kanzler Zhou, der teetrinkend auf ihn wartet. Die Begegnung mit Ning hat Kang merklich aufgewühlt, er ist nervös. Um nun dem Kanzler gegenüberzutreten, muss er fokussiert sein, und so zwingt er sich dazu, ruhig zu atmen.
Kang hat die älteren Soldaten des Bataillons eingehend zum Werdegang des Mannes befragt: ein Bürgerlicher, der die Aufnahmeprüfung bestand und dann in jungen Jahren an der Yěliǔ-Akademie angenommen wurde. Stets Jahrgangsbester, kam er über die Verteidigungsabteilung in den Palast. Dort stieg er schnell auf, dank seines Geschicks im Umgang mit diversen Krisen. Schließlich wurde der Emporgefahrene Kaiser auf ihn aufmerksam und beauftragte ihn mit der Leitung des Palastes und dann mit der Führung des gesamten Hofes. Und jetzt fungiert der Kanzler als Steigbügelhalter des Generals bei dessen Thronübernahme.
Wieder denkt Kang an das Gerücht, das hinter vorgehaltener Hand die Runde macht: Niemand sitzt auf dem Thron von Dàxī, ohne dass der Kanzler es so will.
Kanzler Zhou stellt seine Teetasse auf den Tisch, schenkt Kang ebenfalls eine Tasse ein und bietet sie ihm an. Wohl wissend, dass er nicht ablehnen kann, ohne unhöflich zu erscheinen, setzt Kang sich hin und trinkt hastig einen Schluck.
»Habt Ihr es etwa eilig?«, fragt der Kanzler amüsiert. Aus seiner Hand dringt ein klickendes Geräusch. Es sind diese Kugeln, die er auf der ausgestreckten Hand umeinanderkreisen lässt. Ihr Anblick und das Geräusch lösen in Kang einen Anflug von Verärgerung aus, gegen den er sich nicht zur Wehr setzen kann. Die Kugeln bringen ihn innerlich aus dem Gleichgewicht, auch wenn er nicht versteht, warum sie diese Wirkung auf ihn haben.
»Es müssen noch jede Menge Vorbereitungen getroffen werden«, erwidert Kang steif. »Wie ich hörte, erreichte Sie heute Morgen die gleiche Korrespondenz meines Vaters.«
Laut dem Schreiben aus der Hauptstadt muss seine Mission bald ein Ende finden. Die Prinzessin bereitet sich darauf vor, in Jia einzumarschieren, mit einer Streitmacht aus Kallah, einem Heer von Verbündeten, die ihr und ihrem Vater immer noch die Treue halten. Der Zusammenstoß wird in fünf Tagen erfolgen, so die von ihr angeführten Truppen das Tempo unverändert beibehalten.
Die Nachricht seines Vaters ist eindeutig: Vollende die Mission. Jetzt .
»Ich hatte gehofft, Ihr würdet mehr Erfolg haben als ich«, sagt der Kanzler enttäuscht. »Ich dachte, drei Tage wären ausreichend Zeit, um Euch zu beweisen.«
Kang hatte Soldaten ausgesandt, die von oben bis unten den gesamten Steilhang durchkämmten, um diese angebliche Hüterin des Schatzes aufzuspüren, aber sie blieb unauffindbar. Die Einheimischen sind seinen Soldaten gegenüber misstrauisch und haben sie alles andere als freundlich empfangen. Viele Wirtshäuser haben ihnen die Gastfreundschaft verwehrt mit der Begründung, sie seien bereits voll belegt, obwohl ihm seine Späher berichten, dass in besagten Etablissements kein großes Kommen und Gehen zu beobachten ist. Ràohé scheint eine recht quirlige Stadt zu sein, aber die Leute sind nicht besonders mitteilsam. Kang hat sogar gesehen, wie die Bewohner auf die Straße spucken, wenn sie sich ihnen nähern.
Zu erleben, dass dem Bataillon seines Vaters eine solch geballte Feindseligkeit entgegenschlägt, ist eine neue Erfahrung für Kang, und allmählich hat er die abschätzige Behandlung satt.
»Vielleicht existiert das, wonach Sie suchen, gar nicht«, presst Kang zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Je früher mein Vater das erkennt, desto besser, und wir können aufhören, kostbare Zeit und Ressourcen mit dieser Suche zu vergeuden.«
Er hat mit eigenen Augen gesehen, dass die Schlucht sich nicht nur auf die Shénnóng-shī auswirkt. Einige aus dem Bataillon haben sich geweigert, sich der Schlucht zu nähern, mit der Begründung, sie hätten seltsame Visionen gesehen. Und dann … gab es da noch die zerschmetterten Körper, die sie aus dem Felsenschlund bargen. Soldaten, die von einer jähen Böe über die Kante gefegt worden waren oder auf dem Felsenpfad unglücklich abrutschten und in die Tiefe stürzten.
Es kursieren noch andere beunruhigende Gerüchte, denen zufolge die Soldaten des Schwarzwassers schuld seien an den als verschollen Geltenden, weil das Bataillon die Götter beleidigt und damit ihren Zorn auf sich gezogen habe. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was der kaiserliche Regent den Klöstern angetan hat. Allerdings würde Kang diese Gedanken niemals laut äußern.
»Ihr habt nur noch wenige Tage Zeit, um dafür zu sorgen, dass Euer Name in Dàxī in aller Munde ist.« Der Kanzler lächelt. »Als der triumphierende Prinz, der einen großen Schatz in die Hauptstadt zurückbringt, dorthin, wo er hingehört, in den Besitz seines rechtmäßigen Herrschers.«
Die Kugeln kreisen immer noch in der Hand des Kanzlers umeinander, was eine seltsam hypnotische Wirkung ausübt.
»Sie glauben also an die Macht dieser Reliquien?« Kang zwingt sich dazu, seinen Blick loszureißen und dem Kanzler wieder ins Gesicht zu schauen. »Dass sie meinem Vater helfen werden, den Thron zu halten?«
»Sie sind lediglich Werkzeuge«, antwortet Kanzler Zhou. »Ihr wisst doch selbst, dass das beste Schwert der Welt in den Händen einer ungeschulten Person nicht zwangsläufig den Sieg bringt. Dafür braucht es Ehrgeiz, Wille und Entschlossenheit.«
»Dann haben Sie für Zhang Ning und ihre Schwester also keine Verwendung«, sagt Kang, der immer noch nicht versteht, mit welcher Absicht der Kanzler die Shénnóng-tú im ganzen Reich jagen ließ. Es gibt keinen Grund für ihn, derart erpicht zu sein auf ihre Ergreifung, und nur ein Narr würde glauben, dass der Kanzler sich dem Streben nach Gerechtigkeit verschrieben hat. »Sie haben sie für Ihre Zwecke benutzt. Sie haben ihren guten Leumund zerstört und den ihrer Familie. Wenn sie nur Werkzeuge sind, die ihren Nutzen erfüllt haben, welchen Zweck hat es dann, sie noch hierzubehalten?«
Kanzler Zhou lehnt sich grinsend zurück und legt die Kugeln zurück in die Schachtel. Er greift nach seiner eigenen Teetasse, ein Bild des Genusses. Als er spricht, scheint er jedes Wort auszukosten: »Ach ja, Eure teure Shénnóng-tú. Eure Sorge um sie ist wirklich herzerwärmend. Wenn Ihr sie beschützen wollt, dann erledigt den Auftrag Eures Vaters. Sie wird als Nächste versuchen, diesen Schatz zu finden.«
Die verschollenen Shénnóng-shī waren alle gut ausgebildet und offiziell anerkannt. Die toten Soldaten waren in Bestform. Sie sind alle gescheitert.
Der Kanzler wird Ning in die Schlucht schicken, und sie wird sich nicht weigern, weil er ihre Schwester als Pfand hält. Natürlich.
Plötzlicher Zorn brandet in Kang auf, und die Tragweite der Worte lähmt ihm die Glieder. »Sie halten sich von ihr fern«, knurrt er. »Es gibt einen anderen Grund, warum Sie diese Reliquien horten, und ich werde ihn herausfinden.«
»Ihr tätet gut daran, Euch daran zu erinnern, warum Ihr hier seid«, entgegnet der Kanzler, während er sich von seinem Platz erhebt. »Ihr seid bloß ein Junge, der Befehlshaber spielt. Macht, die verliehen wurde, kann leicht wieder weggenommen werden. Ehe man sichs versieht, ist sie in die Annalen der Geschichte hinweggeweht wie Weizenspreu.« Der Kanzler stellt seine Teetasse ab, ohne einen Hehl aus seiner Belustigung zu machen. »Genießt Euren Tee.«