Kapitel 27

Ning

Am nächsten Morgen bekommen Shu und ich ein warmes Frühstück zu essen, und dann warten wir in unserem Zelt darauf, dass die Soldaten mich holen kommen. Aber erst nachdem auch das Mittagessen vorbei ist, wird mir befohlen, dass ich mich für die Reise bereit machen soll. Ich bekomme neue Kleider und schlüpfe in eine graue Tunika mit grobbesticktem Kragen, der schwach nach Pferd riecht, und dazu passende Hosen. Meine Tasche mit den Zutaten geben sie mir jedoch nicht zurück.

»Beschwer dich beim Kommandeur«, herrscht mich einer der Soldaten an, als ich protestiere.

Kommandeur . Mir schnürt sich die Brust zusammen.

Der Kanzler ist da, um uns zu verabschieden. Bruder Huang wird zu uns geführt, seine Hände liegen wieder in Fesseln, und Shu steht mit leichenblasser Miene hinter ihm. Es ist eine eindringliche Erinnerung an mich, was ich zu verlieren habe, wenn ich scheitere.

Kang steht am Eingang des Lagers, er trägt die gleiche graue Tunika wie ich und ist von zwei Männern flankiert. Ihrer Statur und ihrem Auftreten nach sind sie Soldaten, doch aus irgendeinem Grund versuchen auch sie, sich nach außen hin nicht als solche zu erkennen zu geben. Ich frage mich, was sie wohl vorhaben, bis drei gesattelte Pferde herangeführt werden, und mir dämmert, dass mich die Männer auf meiner Reise begleiten werden. Um sicherzustellen, dass ich meinen Auftrag erfülle. Eine jähe Welle des Hasses überläuft mich und bringt mich am ganzen Leib zum Zittern.

Ich verachte den Kanzler und alles, was er repräsentiert. Kang ist eine Erinnerung an diesen Verrat. Ihre Beteiligung an den Morden in Yěliǔ, die Angriffe auf Wǔlín. Die offenkundige Loyalität von Elder Guo, die wechselnden Allianzen Hánxiás. Das im Tee versteckte Gift, diese im Geist manipulierten Schattensoldaten und alte Götter …

Alles, was wir jemals gefürchtet haben, wird Wirklichkeit. Die Eremitin ist vielleicht unsere einzige Hoffnung.

»Ich wünsche dir viel Glück bei deinem Vorhaben«, sagt der Kanzler zu mir, als wäre ich immer noch eine Wettbewerbsteilnehmerin und nicht seine Geisel. Ich zeige ihm die kalte Schulter und gehe stattdessen zu Shu hinüber, um sie in die Arme zu schließen und ihr Lebewohl zu sagen. Ich habe ihr letzte Nacht eingeschärft, dass sie die Feder gut verstecken soll, denn ich weiß nicht, was Kanzler Zhou ihr antäte, wenn er die wie auch immer geartete Macht darin entdecken würde. Es ist eine andere Art von Magie, vielleicht ein Talisman oder Ähnliches.

»Ich bitte Sie, auf sie aufzupassen, solange ich weg bin«, appelliere ich an Bruder Huang aus tiefstem Herzen, während die umstehenden Soldaten in sich hineinfeixen und verächtliche Blicke austauschen.

Er nickt feierlich. »Das tue ich.« Ich weiß, dass er seine Rolle als Beschützer ernst nehmen wird, und darüber bin ich erleichtert.

»Kommandeur Li wird dafür sorgen, dass du deine Aufgabe erfüllst«, sagt Kanzler Zhou. »Sollte mir zu Ohren kommen, dass du versucht hast zu fliehen …« Er blickt zu Shu und Bruder Huang hinüber. »…werden sie sterben.«

Während diese unheilvolle Warnung immer noch in meinen Ohren nachhallt, nähert Kang sich zu Pferde und bleibt neben mir stehen. Wortlos streckt er mir eine Hand hin, und ich begreife, dass ich hinter ihm aufsitzen soll. In Ermangelung anderer Möglichkeiten, gestatte ich ihm, mich hochzuziehen.

Als Kang das Pferd wendet und es zum Traben antreibt, schaue ich zurück zu Shu.

Ich verlasse sie schon wieder. Ich verlasse sie, um sie zu retten.

Schon wieder.

Ich beiße die Zähne zusammen. Ich werde lebend zurückkommen.

Zunächst versuche ich noch, mich am Sattel festzuhalten, während ich beim Auf und Ab des leichten Galopps ordentlich durchgeschüttelt werde. Als das Pferd dann aber unvermutet einem Stein ausweicht, pralle ich mit Schwung gegen Kangs Rücken.

»Halt dich fest!«, höre ich ihn rufen, wobei er an den Zügeln zieht. Die Hufe des Pferdes schlittern durch den Schlamm, während es sich abmüht, den rutschigen Pfad zu erklimmen. Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen, also lege ich sie rechts und links an Kangs Brustkorb. Bis mich ein weiterer kräftiger Ruck erneut gegen ihn schleudert und mir ein Schrei entfährt in dem Moment, als das Pferd wieder Tritt fasst. Ich höre auf, mich noch länger zu sträuben, und klammere mich an ihm fest, als ginge es ums nackte Überleben, während die drei Pferde sich ihren Weg hügelaufwärts Richtung Ràohé bahnen.

Trotz der heftigen Schauer sowie des immer wieder einsetzenden Nieselregens ist diese Straße in einem deutlich besseren Zustand als die Bergpfade, über die Bruder Huang uns gelotst hat. Einige Abschnitte, bei denen der Untergrund abzusinken droht, sind mit Holzplanken befestigt oder mit Steinen gepflastert, die beim Überqueren für sicheren Halt sorgen. Doch auch mit meinen neuen Kleidern werde ich im Nu eins mit der Kälte und der Feuchtigkeit.

Sich während des Reitens zu unterhalten ist unmöglich, und so bin ich hilflos meinen Gedanken ausgeliefert, die unaufhörlich um die vor mir liegende Herausforderung kreisen. Der Rest der Reise entlang der Straße zieht sich elendig in die Länge, und als wir endlich die Stadt zwischen den Bäumen hindurch sehen können, würde ich vor Erleichterung am liebsten losheulen. Mein Rücken, meine Beine, mein Nacken – alles tut mir weh vom krampfhaften Aufrechtsitzen.

Obwohl wir schlicht gekleidet und nicht geharnischt sind wie reisende Kaufleute, sehen wir dennoch fehl am Platz aus. Die Stadtbewohner starren uns an, als wir vorbeireiten. Kinder, die in Pfützen spielen, werden von ihren Familien eilig in die Häuser gezogen, sobald wir uns nähern, und Türen fallen mit einem lauten Knall zu. Sie sind Fremden gegenüber misstrauisch … und sie haben Angst.

Als wir schließlich ein Gasthaus erreichen, übernimmt der Stallbursche die Zügel unserer Pferde. Beim Versuch, abzusitzen, gerate ich ins Rutschen und lande beinahe mit dem Gesicht voran im Matsch, aber Kang kann mich gerade noch rechtzeitig mit beiden Armen auffangen. Die anderen Soldaten wenden diskret den Blick ab, während Kang mich amüsiert mustert. Ich schiebe ihn von mir weg.

»Reiten ist reine Übungssache«, sagt er, um mich aufzumuntern, was allerdings das Gegenteil bewirkt.

»Ist schon gut.« Ich schlucke die Demütigung hinunter.

»Besorgt uns Zimmer, dann können wir uns den Abend über ausruhen«, weist er die beiden Soldaten an. Sie machen sich auf den Weg, um mit dem Gastwirt zu verhandeln, während ich den Blick durch die Gegend schweifen lasse und den Jungen neben mir mit demonstrativer Nichtachtung strafe.

Dieses Gasthaus ist größer als die Wirtschaft in Hu, ganz aus Bambus gebaut, und es erinnert mich an den merkwürdigen Ort mitten im Meer des Vergessens, wo wir die Nacht verbrachten. Ein großes Schild über der Tür weist darauf hin, dass dies das »Fúróng Inn« ist, womit es denselben Namen trägt wie der Fluss und die Hibiskusblüte. Im Erdgeschoss des Hauses gibt es einen Speisebereich im Freien mit mehreren Tischen, von denen die Hälfte besetzt ist. Im Obergeschoss befinden sich die Gästezimmer.

Als der Wirt uns auf unsere Zimmer bringt, damit wir unsere durchnässten Sachen wechseln können, stelle ich mit Schrecken fest, dass ich mir ein Zimmer mit Kang teile.

Als er mein Zögern bemerkt, entschuldigt er sich bei mir. »Wir können nicht dulden, dass du allein schläfst. Vielleicht … ist es dir lieber, wenn einer der beiden anderen bei dir bleibt?«

Beide Optionen sind gleichermaßen entsetzlich, und so schüttelte ich energisch den Kopf, während mir vor Beschämung die Hitze in die Wangen schießt. Ich werfe meine Tasche neben eines der Betten auf den Boden. Es ist jetzt nicht die Zeit, dass ich mich Befindlichkeiten hingebe oder mich in Verlegenheit winde. Ich muss einen klaren Kopf bewahren. Ich muss herausfinden, wo diese Shénnóng-shī steckt und ob sie tatsächlich diese Eremitin ist, von der der Kanzler sprach. Und ich muss außerdem einen Weg finden, zu Wenyis Familie zu gelangen, um seinen Brief zu übergeben. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder nach Ràohé zurückkehren werde.

Im Moment erscheint mir das alles recht aussichtslos.

Doch auch wenn sie mir meine Zutaten abgenommen haben, ich habe immer noch den d ān und den Brief, eingeschlagen in einen Beutel, der unter meiner Kleidung versteckt ist. Sie haben mich kurz nach Waffen abgetastet, den Beutel aber nicht entdeckt. Ein Arztassistent hat meine Zutaten begutachtet und zwei davon aussortiert, weil sie feststellten, dass sie negative Eigenschaften haben. Der Rest wurde an Kang übergeben, der meinen Zugriff darauf kontrollieren soll.

Wir nehmen das Abendessen im Speisesaal ein. Das Gasthaus scheint unter den Einheimischen sehr beliebt zu sein. Eine junge Frau unterhält die Gäste mit Gesang, begleitet von einem Flötenspieler. Auf unserem Tisch stehen kaltes aufgeschnittenes Rindfleisch, eingelegtes Gemüse und Tofu. Herzhafte Kost. Fast wie bei meiner Mutter. Dem Gespräch um mich herum folge ich nur mit einem halben Ohr. Meine Tischgefährten unterhalten sich lieber untereinander und ignorieren meine Anwesenheit.

Kang redet den älteren Soldaten mit Ren-ge an, anscheinend haben sie also ein inniges Verhältnis, wenn er ihn als »älteren Bruder« bezeichnet. Der Jüngere heißt Badu, und er spricht immer in diesem scherzhaften Tonfall und wirkt ständig etwas belustigt.

Als ich mir mit den Stäbchen vom Fleisch nachnehmen will, hält Badu mich zurück. »Wir reichen Ihnen zu essen, Werteste.« Es scheint ihm unangenehm zu sein, mir das sagen zu müssen, aber er tut es trotzdem. »Lassen Sie mich … einfach wissen, was Sie essen möchten.«

Er erinnert mich daran, wo mein Platz ist.

Mich, die Mörderin. Die Giftmischerin.

Doch meine Wut verraucht, als ich das Gemüse betrachte, das in meiner Suppe schwimmt. Ich rühre mit dem Löffel um und stelle fest, dass der Fúling -Pilz darunter ist, zusammen mit prallen weißen Lotussamen. Ich kaue die zarten Hähnchenstückchen, umgeben von den genießerischen Geräuschen und dem leisen Geklapper.

In dem Moment wird mir bewusst, dass ich es längst hätte erkennen sollen. Die Suppe ist nur eine andere Art von Essenz, Zutaten, die in Wasser köcheln und ihre Potenz verstärken. Ich weiß bereits, dass meine Magie nicht nur auf Tee beschränkt ist; die Blätter unterstützen einfach meine Fähigkeit, den Shift zu erreichen. Lotussamen sind ein medizinischer Wirkstoff mit beruhigenden Eigenschaften. Pilze verbessern die Blutzirkulation und Verdauung. Und ich habe Wasser.

Ich greife nach der Schöpfkelle, ziehe dann meine Hand wieder zurück und entschuldige mich. Aber nicht, bevor eine Ranke meiner Magie entweicht und in den tönernen Topf eintaucht. Meine Magie breitet sich unter der blubbernden Oberfläche der Suppe aus und vermengt sich mit den verschiedenen Zutaten.

»Die Suppe ist wirklich gut«, murmle ich, und die anderen stimmen mir zu.

Sie werden meinen subtilen Einfluss nicht wahrnehmen. Die drei werden heute Nacht tief und fest schlafen.

Als wir uns auf unsere Zimmer zurückziehen, bete ich, dass Kang sich nicht noch mit mir unterhalten will, aber er scheint zufrieden zu sein, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Wir sagen uns kurz gute Nacht und legen uns an gegenüberliegenden Wänden des Zimmers zur Ruhe.

Ich warte darauf, dass seine Atemzüge länger werden. Im Palast habe ich ständig gewartet. Ich lauschte auf die Rufe der Stadtschreier, bis endlich die ersehnte Stunde nahte. Ich wartete auf die Prinzessin. Wartete auf … ihn.

Ich ziehe an der Verbindung, die ich während des Abendessens geknüpft habe. Meine Magie streift Kangs Geist, um sicherzugehen, dass er schläft. Ich spüre einen Hauch von Sehnsucht, von Bedauern. Meine Magie flüstert, will mich näher an ihn heranholen, denn sie erkennt ihn als jemand Vertrautes. Aber ich winke sie fort. Ich kann gerade keinen Sentimentalitätsanfall gebrauchen. Das wäre nur hinderlich.

In der zufriedenen Gewissheit, dass Kang fest schläft, schleiche ich mich auf Zehenspitzen zur Tür hinaus. Als ich am Zimmer der anderen Soldaten vorbeikomme, schaue ich auch nach ihnen. Ich spüre den subtilen Sog ihrer Träume. Ich erhasche nur ein paar Bilder von Ren-ge: ein Kaninchen, das im Wald vor ihm wegläuft, während er einen Pfeil von der Bogensehne schnellen lässt. Badu träumt davon, dass er über den Ozean fliegt.

Ich binde mein Haar zurück und steige die Hintertreppe hinab. Die hüpfenden Lichter am Ende der Gasse verraten, dass Patrouillen durch die Straßen ziehen. Ich werde ihnen aus dem Weg gehen müssen – ich weiß nicht, wie viele Wächter Ràohés sich dem Schwarzwasser verbunden fühlen. Und wie mache ich Wenyis Familie ausfindig? Ich kenne nur seinen Namen und weiß, dass seine Mutter eine kleine Nudel-Garküche führt.

Aber die Prinzessin erzählte mir, dass der Inhalt des Briefes schildert, wie die Stadtbewohner leiden, seit das Schwarzwasser-Bataillon in der Gegend wieder aufgetaucht ist; dies könnte der Anknüpfungspunkt sein, den ich zu meinen Gunsten nutzen kann. Die Gast- und Teehausbesitzer einer jeden Stadt sind oftmals die Ersten, die Neuigkeiten erfahren, und sie haben hervorragende Ortskenntnisse, damit sie Reisenden nützliche Hinweise geben können. An sie sollte ich mich also als Erstes wenden.

Ich betrete die Küche im hinteren Teil des Gebäudes und sehe drei Personen auf niedrigen Schemeln neben einem großen Wok sitzen. Von dem Feuer darunter ist nur noch Glut übrig; offenbar sind sie für heute Abend fertig und nehmen nun ihre eigene Mahlzeit ein, nachdem sich alle Gäste ihre Bäuche gefüllt haben. Das Mädchen, das uns bedient hat, blickt hoch und sieht mich. Es lässt die Stäbchen klappernd auf seinen Teller fallen, und der Mann erhebt sich; wie ein Schutzschild stellt er sich vor seine Familie.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt er misstrauisch. »Ist irgendetwas in Ihrem Zimmer nicht zu Ihrer Zufriedenheit?«

Ich werde mit einer Mischung aus Angst und Argwohn gemustert. Es bestätigt alles, was Wenyi über die Menschen hier geschrieben hat. Ich muss das ausnutzen.

»Ich suche nach Familie Lin«, sage ich. »Ihr Sohn gehörte der Yěliǔ-Akademie an und wurde dann für den Shénnóng-tú-Wettbewerb in den Palast entsandt.«

Der Mann betrachtet mich immer noch mit Skepsis. »Warum fragen Sie?«

Ich überlege, wie viel ich ihnen erzählen soll. Ob ich ihnen vertrauen kann oder ob sie mich an die Soldaten verraten werden, aber ich weiß, ich habe keine Zeit, lange um den heißen Brei herumzureden. Außerdem ist die Wahrheit mir immer noch ein hohes Gut. Insbesondere wenn sie als Waffe eingesetzt werden kann.

»Ich habe Wenyi im Palast getroffen. Ich habe eine Nachricht für seine Familie. Er wollte, dass ich sie ihr überbringe. Bitte. Er erzählte mir davon … wie schlimm es in Ràohé geworden ist.«

Der Wirt schaut seine Frau an, plötzlich von Angst ergriffen. Ich spüre, wie die Atmosphäre umschlägt. Schnell hebt er die Hände vor sein Gesicht. »Wir wissen nicht, wovon Sie sprechen. Bitte. Gehen Sie und lassen Sie uns in Ruhe.«

Doch anstatt mich wegschicken zu lassen, rühre ich mich nicht vom Fleck. »Das ist vielleicht meine einzige Chance. Ich flehe Sie an. Ich werde vor Sonnenaufgang zurückkommen. Ich schwöre, Ihnen und Ihrer Familie wird nichts geschehen.«

Seine Frau hinter ihm scheint kurz zu überlegen, dann tritt sie neben ihren Mann und legt ihm eine Hand auf den Arm.

»Die Gegner des Bataillons sind unsere Freunde, vergiss das nie«, sagt sie mit angestrengter Stimme. Dann sieht sie mich an. »Sie finden ihre Nudel-Garküche zwei Querstraßen weiter. Ihr Name steht auf einer weißen Laterne. Wenn Sie tatsächlich eine Bekannte von Wenyi sind, werden Sie es erkennen.«

»Danke.« Ich verbeuge mich vor ihnen und schlüpfe dann in die Nacht hinaus. Ich bleibe im Schutz der Schatten, halte mich von den Patrouillen fern und gehe jeder Bewegung, die ich wahrnehme, aus dem Weg. Ich will heute Nacht niemandes Aufmerksamkeit erregen.

Die Garküche ist leicht zu finden. Eine weiße Laterne mit dem Namenszug »Lin« wiegt sich im Wind. Es ist eher ein Verkaufsstand als ein Laden, mit niedrigen Holztischen im Freien, an denen die Gäste sitzen und einen schnellen Imbiss genießen können.

Eine Frau steht über zwei Töpfe gebeugt. Der eine mit heißem Wasser für die Nudeln, der andere mit Brühe. Sie hebt zur Begrüßung ihr Kinn. »Wollen Sie eine Portion Nudeln kaufen?«

Der Duft von sprudelnder Brühe und Dampfgemüse ist wirklich verlockend, aber es wäre nur eine kurze Zerstreuung, um mich von dem abzulenken, was ich tun muss.

Ich verneige mich und frage mit vor Betroffenheit belegter Stimme: »Sind Sie Wenyis Mutter?«

Eine einfache Frage, aber ihre Miene lässt erkennen, dass sie mir alles am Gesicht und an meiner Stimme ablesen kann.

Die Schöpfkelle fällt ihr aus der Hand und schlägt mit einem Knall gegen den Holzkarren. Ich strecke die Hände aus und fange die Frau auf, bevor sie hinstürzt, helfe ihr auf den Schemel, der hinter ihr steht.

Sie weiß bereits, was ich sagen werde.