Kapitel 28

Ning

»Es tut mir leid«, sage ich zu der älteren Frau. Wenyis Mutter sitzt einen Moment lang einfach nur da, während ich danebenstehe. Sie starrt ins Leere, wie verloren, bevor sie blinzelt und ihr Blick sich klärt.

»Ja, ich bin seine Mutter«, antwortet sie schließlich und wendet sich mir zu. »Und Sie sind hier, um mir zu sagen, dass er nie mehr zurückkommen wird.«

Ich halte den Brief bereits in der Hand und überreiche ihn ihr mit einer weiteren tiefen Verbeugung, um ihr mein Beileid zu bekunden. Sie nimmt ihn entgegen und steht langsam auf.

»Lassen Sie uns drinnen reden.« Sie legt die Deckel auf die Töpfe und löscht das Feuer darunter. Ich helfe ihr, die Stühle auf die Tische zu räumen, und schiebe alles gegen die Mauer neben dem Karren. Dann greift sie nach oben und bläst die Kerze im Inneren der Laterne aus.

»Bitte, kommen Sie herein.« Sie drückt die Torflügel auf, und wir betreten einen kleinen Innenhof. An einer Wand ist gespaltenes Holz aufgeschichtet, Brennstoff für die Garküche. Krüge in verschiedenen Größen säumen eine andere Wand.

Ich folge ihr in den Empfangsraum ihres Hauses. An einer Wand steht ein langer Tisch, auf dem mehrere Holztafeln mit kunstvoll eingeschnitzten Namen stehen. Das muss der Gedenkraum ihrer Familie sein, so wie der im Palast. Es ist eine Sitte des Nordens. Wenyis Mutter stellt sich direkt vor den Tafeln hin und verneigt sich, murmelt ein leises Gebet, dann faltet sie den Brief auseinander und liest ihn schweigend durch.

Der Duft von geräuchertem Moschus, der in der Luft hängt, kratzt in meiner Kehle. Überall im Raum, an den Wänden und auf den Regalen sehe ich Talismane von Bìxì, Huldigungen an die Smaragdschildkröte in Form von Kalligraphien und Gemälden. Es ist unübersehbar, dass diese Familie Bìxì verehrt, was wohl auch erklärt, warum Wenyi bereits in so jungen Jahren nach Yěliǔ geschickt wurde. Aber wie wurde er dann ein Shénnóng-tú? Wieso gestattete man ihm in Yěliǔ, in seinen Studien abzuschweifen?

Sie liest den Brief ein zweites Mal, dann tupft sie sich mit einem Taschentuch die Augenwinkel. Um Fassung ringend, stößt sie schließlich einen langen Seufzer aus und bedeutet mir mit einer Geste, dass ich mich auf einen der Stühle an der einen Seite des Raums setzen soll.

»Wie haben Sie meinen Sohn kennengelernt?«, fragt sie.

Ich erkläre, dass wir uns beim Wettbewerb begegnet sind. Ich erzähle ihr, wie freundlich er war und dass er von den anderen Shénnóng-tú respektiert wurde, von dem Zwischenfall während der letzten Wettkampfrunde und der anschließenden Bestrafung durch den Kanzler. Dass ich bei ihm war, als es zu Ende ging.

Als ich fertig bin, weinen wir beide. »Ich habe noch versucht, ihn davon abzubringen, in den Palast zu gehen«, sagt sie lächelnd trotz der Tränen. »Aber er beharrte darauf, dass er beiden dienen wolle, Bìxì und Shénnóng, und dass er dafür in den Palast gehen und an diesem Wettbewerb teilnehmen müsse.«

In gewisser Weise bin ich wie Wenyi, wird mir klar. Auch wenn meine Magie von Shénnóng stammt, habe ich die Herrin der Weisheit gesehen, und sie ist es, die über mich wacht. Wenn ich frage, dann antworten beide. Vielleicht hatte Wenyi auch keine Wahl.

»Bis zu seinem Ende war er in Gedanken bei Ihnen und Ihrer Familie.« Es sind leere Worte in ihren Ohren, da bin ich sicher, dennoch habe ich das dringende Bedürfnis, sie auszusprechen. Ich hege gespaltene Gefühle, wenn ich an mein Dorf denke. Daran, wie sie meine Familie behandelten, wie sich mein Vater beide Beine für sie ausriss, ohne je etwas zurückzubekommen. Aber als meine Mutter starb, da halfen sie, wo es ging, und gaben uns, was sie entbehren konnten. Zusatzportionen von Dampfreis, bündelweise gesammeltes Grünzeug und Pilze. Mehr als uns mein eigener Onkel anbot, und das habe ich nie vergessen. Wie viel uns damals ein freundliches Wort und eine nette Geste bedeuteten.

Sie wirft mir einen merkwürdigen Blick zu, fast so, als sähe sie mich zum ersten Mal. »Sie wissen, wie es ist zu trauern, nicht wahr?«

Ich starre sie an und frage mich, woher sie das weiß. Ob ich die Trauer wie eine Maske trage oder ob sie zu meinem wahren Gesicht geworden ist.

Ein lautes Poltern im Nebenzimmer, das klingt, als sei etwas umgefallen, unterbricht unsere Unterhaltung. Wenyis Mutter springt auf, und ich folge ihr. Sie schlüpft durch die Tür zum Nebenraum und lässt sie einen Spalt offen, durch den ich spähen kann. Drinnen stehen ein Futonbett und ein paar Tische, auf denen eine Waschschüssel und ein paar zusammengelegte Kleidungsstücke liegen.

Sie redet eindringlich mit gedämpfter Stimme auf jemanden ein. Erneut ist das Geräusch umstürzender Dinge zu hören. Ich schleiche näher an die Tür heran. Etwas in mir zerrt an mir, drängt mich, weiterzugehen. Ich husche durch den Spalt und betrete das Zimmer. Ein schwacher Geruch von Krankheit liegt unter dem Duft des Räucherwerkrauchs, der aus einer Schale in der Ecke aufsteigt.

Wenyis Mutter hält eine sich windende Gestalt auf dem Bett fest. Es ist ein junger Mann, sehe ich, zu jung, um Wenyis Vater zu sein, aber älter als Wenyi. Sein Rücken ist stark durchgebogen, der ganze Oberkörper aufgebäumt, wie eine bis zum Anschlag gespannte Bogensehne, dann sackt er plötzlich aufs Bett herunter. Er dreht sich zu mir, und das Licht der Wandlaterne fällt auf sein Gesicht. Glitzernd fängt es sich in dem Speichel, der ihm von den schlaffen Lippen rinnt, und in den Tränenspuren, die von seinen Augenwinkeln herablaufen. Es ist so dämmrig im Raum, dass es aussieht, als weinte er Blut.

Ich trete näher an ihn heran. Sofort machen meine Augen und mein Verstand sich daran, zu begutachten, zu kategorisieren, die Anzeichen mit den Symptomen abzugleichen, die mir mein Vater unter ungeduldigen Zurechtweisungen eingetrichtert hat. Siehst du es nicht, Ning? Pass besser auf! Aber ich erkenne es an seinen spröden Lippen, an den dunklen Schatten unter seinen glasigen Augen. Als hätte jemand mit von Asche bestäubten Fingern über seine Haut gestrichen. Gift.

Wenyis Mutter sieht zu mir hoch, Wellen der Traurigkeit fließen aus ihr heraus. Ich brauche keine Magie, um zu erkennen, dass sie um jemanden – irgendwen – fleht, der ihm helfen kann.

»Wurde er von den Teeziegeln vergiftet?«, frage ich. Unter Nicken tupft sie ihm die Stirn mit einem feuchten Lappen ab und wuselt fürsorglich um ihn herum.

»Würden Sie mir gestatten, ihn zu untersuchen?«, frage ich.

»Was können Sie schon tun?«, gibt sie mit matter Stimme zurück. »Die Ärzte sind bereits konsultiert worden. Sie haben keine Antworten.«

»Deshalb ist Wenyi nach Jia gegangen«, sage ich, als mir die Erkenntnis dämmert. Wie sehr sich unsere Wege doch ähnelten, und ich wusste es nicht.

»Wenyi eilte aus Yěliǔ zurück, als wir ihm die Nachricht schickten«, sagt sie. »Er sagte, er würde die Eremitin in der Schlucht aufsuchen und sie um Hilfe bitten. Er verschwand einen Monat lang in den Bergen, und als er zurückkam, war er … verändert.«

»Inwiefern verändert?«

»Er trug einen Brief bei sich, in dem stand, er sei der auserwählte Shénnóng-shī der Bǎiniǎo-Schlucht, und er sagte, dass er an diesem Wettbewerb teilnehmen würde. Dass dies der Preis sei für die Medizin, die er mitgebracht hatte.«

»Welche Medizin?« Schnell überschlage ich im Kopf den zeitlichen Ablauf der Ereignisse.

Ràohé muss einer der ersten Orte gewesen sein, die von dem Gift heimgesucht wurden. Inzwischen ist einige Zeit vergangen, seit Wenyi die Nachricht in Yěliǔ erreichte, er zurückreiste, einen Monat verschwand und dann erneut aufbrach Richtung Hauptstadt. Es ist also schon Monate her, seit dieser Mann vergiftet wurde, und er lebt immer noch. Shu konnte sich nur durch die verschiedenen Arzneien, die sie ausprobierte, am Leben halten, darum liegt die Vermutung nahe, dass die Bestandteile der Medizin, die Wenyi mit zurückbrachte, ähnlich sind. Zumindest ausreichend ähnlich, um die Symptome des Mannes zu kontrollieren, aber nicht genügend, um ihn von der anderen Seite zurückzuholen.

»Wenyi sagte, es wäre nur vorübergehend. Um seinen Zustand zu stabilisieren, während er nach dem Gegenmittel suchte.« Wenyis Mutter streicht dem Mann eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Ich verspüre einen Funken Aufregung. Es ist ein Anhaltspunkt. Sie weiß vielleicht, wie man die Eremitin finden kann – möglicherweise hat Wenyi dieses Wissen mit ihr geteilt.

Alles fügt sich zusammen. Der Grund, warum ich hier bin. Der Grund, warum ich Wenyi kennenlernte und der Sterndeuter mich an diesen Ort schickte.

»Man erzählt sich, sie sei einst die Shénnóng-shī gewesen, die den Kaiser beriet. Ist das wahr? Hat Wenyi jemals darüber gesprochen?«, frage ich, eine Spur zu eifrig.

»Wir kennen sie nur als die Eremitin. Eine Lehrmeisterin, die sich vor langer Zeit in die Schlucht zurückzog, um dort zu leben«, sagt sie, und in ihrer Stimme schwingt leises Misstrauen mit. »Auch wenn ich sie dafür hasse, dass sie Wenyi in den Tod schickte, so verdanke ich ihr doch Huayus Leben.«

In meinem Kopf nimmt eine Idee Gestalt an, die mir vielleicht die Antworten liefern kann, die ich so dringend benötige. Aber bevor ich das Gegenmittel ausprobiere, muss ich sicher sein, dass ich mit dem Gift richtigliege – wenn ich ihm die falsche Medizin verabreiche, wenn ich mich bezüglich dessen, was ihn plagt, irre, könnte ich ihn ebenso gut töten oder für immer in diesen Albtraum einsperren, mit dem das Gift ihn belegt hat.

»Ich weiß, Sie haben keinen Grund, mir zu vertrauen, aber ich möchte Ihnen helfen, Huayu zu retten, denn ich schulde Wenyi etwas.« Er hatte sich für mich eingesetzt, auch gegen Shaos Schmähungen, und er betrachtete mich immer als ebenbürtig. Dafür möchte ich mich bei ihm revanchieren. Wenyi hat bereits sein eigenes Leben geopfert. Ich kann nicht zulassen, dass die Machenschaften der Schlange nun auch noch seinen Bruder fordern.

Wenyis Mutter sieht mich lange an. »Und was verlangen Sie als Gegenleistung für Ihre Hilfe?«, fragt sie schließlich.

»Wenn Sie mir einige Teeblätter und etwas heißes Wasser bringen würden und ein Stückchen Ginseng, so Sie es entbehren können«, antworte ich. »Sollte ich es schaffen, ihm zu helfen, bitte ich Sie nur darum, mir zu sagen, wie ich die Eremitin finden kann.«

»Versprechen Sie mir, dass Sie ihr nichts Böses wollen?«, fragt sie.

Ich lege mir eine Hand aufs Herz. »Ich verspreche es.«

Sie nickt knapp und geht dann weg, um mir die gewünschten Dinge zu holen.

Ich setze mich neben Huayu. Seine Lippen bewegen sich, und er murmelt sinnloses Zeug. Es erinnert mich an die Monate der Sorge, als ich Shu den Schweiß von der Stirn wischte und ihr beharrlich die Essenzen einflößte, auch wenn sie versuchte, sie immer wieder auszuspucken. Als sie um ihr Leben kämpfte.

Schon bald kehrt Wenyis Mutter zurück, in den Händen ein Bambustablett mit heißem Wasser, Tassen und dem Tee. Ich ziehe einen der Tische näher ans Bett heran und spüle die Tassen kurz mit heißem Wasser aus. Mit dem Fingernagel steche ich in den Ginseng, um seine Biegsamkeit zu prüfen. Es ist immer noch genug von seiner Essenz vorhanden; ich lege ihn neben die Teeblätter. Das Wasser sickert in die Blätter ein und wirbelt sie durcheinander, und auch in mir sprudelt die Magie und verlangt danach, dass ich sie benutze.

Ich weiß, dass ein gewisses Risiko besteht. Die Ausübung der Magie könnte durchaus erneut die Schlange auf den Plan rufen. Aber ich muss es versuchen. Ich habe keine andere Wahl.

Ich puste über den Tee, um ihn etwas abzukühlen, und trinke einen Schluck. Dann nehme ich das Taschentuch, das Wenyis Mutter mir gegeben hat, tauche einen Zipfel in den heißen Aufguss und fahre damit über Huayus Lippen. Während der Tee in seine Haut eindringt, kippt der Shift die Welt in Schieflage, und ich gleite auf Huayu zu. Dorthin, wo er im Kampf mit dem Gift gefangen ist.