Kapitel 31

Ning

Ich kehre in das dämmrige Zimmer zurück. Schweiß klebt mir am Rücken, mein Atem geht rau. Kang neben mir japst nach Luft, und als ich nach unten blicke, sehe ich zwischen uns noch das Leuchten der Überreste meiner Magie. Sie verbindet mich mit ihnen beiden durch meine Hände. Zitternd lasse ich sie an meinen Seiten herabhängen.

Neben uns stößt Huayu ein schwaches, zittriges Keuchen aus.

Wenyis Mutter schreit auf. Ich erhebe mich und mache ihr Platz, um der Wiedervereinigung mit ihrem Sohn nicht im Weg zu sein. Taumelnd stürze ich fast hin, aber Kang fängt mich auf. Einen Moment lang stehe ich an ihn gelehnt, spüre die Spannung seines Körpers, höre seinen Herzschlag und werde daran erinnert, dass ich wieder zurück bin. Dass die Welt real ist und dass wir nicht länger an diesem kalten, farblosen Ort sind.

Bis ich wieder daran denke, wo ich bin, und zu ihm hochblicke. Er sieht mit einem unergründlichen Ausdruck auf mich hinunter. Die Magie pulsiert zwischen uns. Doch sie folgt nicht mehr dem Sog des Golden Key oder dem bis in die Seele reichenden Drängen des Silver Needle . Sie erkennt ihn einfach.

Ich kenne dich.

Das laute Rasseln von Huayus Husten unterbricht diesen Moment der Nähe, und ich schiebe mich von Kang weg, obwohl der Raum sich immer noch dreht. Ich finde Halt an einer Tischkante.

»Ihr beide …«, krächzt er, aber seine Augen sind klar. Sein Blick gleitet von mir zu Kang und dann wieder zurück. »Ihr wart in meinen Traum.«

»Das ist die Shénnóng-shī, die sagte, sie würde dich von dem Gift heilen«, erklärt seine Mutter und wirft mir einen dankbaren Blick zu.

»Lass mich dich mal ansehen.« Ich trete einen Schritt näher an ihn heran und nicke Madame Lin zu, die ihren Sohn offenbar gar nicht mehr loslassen will. »Darf ich?«

»Ja, natürlich.« Sie weicht zurück, bleibt aber ganz in der Nähe.

Ich helfe Huayu, sich im Bett aufzusetzen, wobei er sich auf einen Arm aufstützt. Den anderen Arm ziehe ich mir vorsichtig auf den Schoß und messe seinen Puls. Sein Herzschlag ist kräftig und ruhig, ein regelmäßiger Rhythmus. Es wird einige Zeit dauern, bis das Gift vollständig aus seinem Körper heraus ist, aber er ist wieder hier. Er sitzt vor mir, atmet und spricht. Und mehr verlange ich nicht.

»Jetzt erinnere ich mich wieder. Mein Bruder wurde vor Jahren nach Yěliǔ geschickt, aber ist er denn wieder zurückgekehrt, während ich … fort war? Ist er jetzt hier? Kann ich ihn sehen?« Aufgeregt blickt sich Huayu nach allen Seiten um.

Ich lasse seine Hand los und schaue Hilfe suchend seine Mutter an. Es wäre nicht richtig, wenn ich es ihm sage. Sie setzt sich neben ihn, doch der Blick ihrer Augen fleht mich an, die Worte für sie auszusprechen.

Huayu sieht uns verwirrt an. »Was?«

»Dein Bruder … dein Bruder ist tot«, sagt Madame Lin sanft.

»Aber … du sagtest, das war er nicht!« Sein anklagender Blick bohrt sich in meinen, seine Augen sind voller Schmerz. »In meinem Traum. Du sagtest, er wäre einfach nur weg.«

»Ich habe dir die Wahrheit gesagt«, entgegne ich. »Er ging fort, kam aber zurück, um dich zu retten, und jetzt ist er tot. Dieser Geist in deinem Traum war ein Bestandteil des Giftes. Es entzieht dir die Erinnerung an jene, die dir lieb sind, und nährt sich von deinem Verlust und Kummer.«

»Wenyi …«, bringt Huayu mühsam hervor, der Rest geht in Schluchzen unter.

»Ich glaube, Sie beide sollten jetzt gehen.« Madame Lin sieht uns an, und in ihren Augen liegt eine sanfte Bitte. »Huayu muss sich ausruhen.«

»Sie haben versprochen, dass Sie mir verraten würden, wie ich zur Eremitin komme.« Ich halte kurz inne, dann füge ich leise hinzu: »Bitte.«

Sie schaut auf ihren Sohn in ihren Armen, dann sieht sie mich an. Ich muss daran denken, wie sehr meine Mutter Shu und mich geliebt hatte. Dass sie alles gegeben hätte, um uns zu beschützen.

»Es gibt einen einsamen Weidenbaum, der auf einem Felsvorsprung wächst, welcher die Bǎiniǎo-Schlucht überblickt, nördlich der Stadt. Die Legende besagt, dass man, wenn man die Eremitin sucht, dorthin gehen und seine Bitte vorbringen soll. Wenn sie einen als würdig erachtet, wird sie antworten.«

»Danke.« Ich verneige mich, und wir verabschieden uns, damit Mutter und Sohn in Ruhe gemeinsam trauern können.

Auf dem Rückweg zum Gasthaus hüllen Kang und ich uns in Schweigen.

Die Schlange wusste, dass ich in Huayus Kopf war. Ich spürte ihr Hingezogensein zu meiner Magie, als ich mich im Schattenreich befand. Es ist ein Vorzeichen kommender Ereignisse, genau wie der Sterndeuter sagte. Es macht mich zu einer Gefahr für die, die in meiner Nähe sind.

Als wir unser Zimmer betreten, überkommt mich ein Gefühl großer Erschöpfung. Es ist nicht mehr viel Zeit bis zum nächsten Morgen, und dann müssen wir uns auf die Suche nach der Eremitin machen.

Kang hält mich auf. »Dein Arm.«

Ich blicke auf die Stelle, wo die Fangzähne der Schlange meine Haut durchbohrt haben. Die Wunde ist nach wie vor verschlossen, die Narbe wulstig, aber unversehrt.

»Nein, da.« Er zeigt auf einen Riss in meinem Ärmel, von dem Fadenfetzen hängen. »Komm, ich helfe dir.«

Ohne auf meinen Protest einzugehen, führt er mich zu einem Tisch und zwei Stühlen, die in einer Ecke des Zimmers stehen. Aus seinem Rucksack holt er eine Schachtel mit Verbandszeug und eine Handvoll verkorkter Fläschchen, auf denen die Namen verschiedener Tinkturen geschrieben stehen. Ich beobachte ihn, wie er mit Hilfe eines Messers den Stoff von meiner Haut ablöst, und ziehe scharf die Luft ein, als er ihn vorsichtig herunterschält.

Als die Wunde offen daliegt, erkenne ich die Löcher, die von den Fischzähnen herrühren. Die Schlange hat mich schon wieder durch das Schattenreich verletzt. Sterndeuter Wu sagte, sie wolle ihre Herrschaft der Finsternis zurückbringen, um die Erde mit Scharen von Ungeheuern zu überziehen. Wie es aussieht, habe ich gerade die Bekanntschaft mit einer weiteren ihrer Abscheulichkeiten gemacht.

Als der Fisch mich biss, fügte sich in meinem Kopf etwas zusammen, und eine weitere Erinnerung blitzte auf. Eine, die nicht mir gehört. Der Kanzler kniet vor mir und verströmt den betäubenden Duft der Angst. Er wird dafür sorgen, dass mein Plan vollendet wird. Schwarze Ranken winden sich um seinen Kopf, dringen in seine Ohren ein, in seine Augen und seine Nase. Er versucht zu schreien, aber es kommt kein Laut heraus …

Kang verzieht das Gesicht und schaut hoch, begegnet meinem Blick. Noch immer summt die Verbindung zwischen uns, und ich weiß, dass auch er dieses Bruchstück der Erinnerung gesehen hat. Es ist die Bestätigung dafür, dass der Kanzler der Bote der Schlange ist.

»Du wusstest es schon«, sage ich überrascht.

»Ich hatte einen Verdacht«, entgegnet er. »Im Palast bin ich den Wǔlín-shī hinterhergeschlichen und wurde so Zeuge, dass sie in widernatürlicher Weise mit dem Kanzler verbunden sind, dass sie unter seiner Kontrolle stehen. Ich wusste nur nicht, wie er sie kontrolliert.«

»Durch die Schatten«, flüstere ich.

Er hält meinen Blick noch einen Moment lang fest, dann richtet er sein Augenmerk auf meine Wunde. »Halt still«, sagt er.

Um die Bissabdrücke herum ist meine Haut blau und geschwollen. Ich ziehe eine Grimasse, als beim Anblick der Wunde mein Arm prompt anfängt zu pochen.

Ich sehe zu, wie Kang den Inhalt eines der Fläschchen über die Wunde schüttet, um sie zu säubern. Aus einem anderen Fläschchen klopft er eine pulverförmige Substanz heraus, die er auf meinem Arm verteilt. Es muss eine Art von Betäubungsmittel sein, denn der Schmerz verblasst zu einem dumpfen Ziehen.

»Sieht aus, als hättest du das schon mal gemacht«, bemerke ich.

»Da kommt man nicht drum herum, wenn man auf dem Schlachtfeld ist«, sagt er und grinst. »So, fertig.«

Ein flüchtiger Gedanke streift mich: Wären wir uns doch nur zu einer anderen Zeit begegnet. Als andere Menschen. Seine Miene wird plötzlich wieder ernst, und ich frage mich, ob er das Gleiche denkt.

Er öffnet den Mund, um zu sprechen, aber ich will es nicht hören. »Dieses Kleinod, das wir von der Eremitin haben wollen«, beeile ich mich zu sagen. »Weißt du, was es ist?«

Er hält inne und lehnt sich zurück. Sein Zögern ist offensichtlich, und ich fühle mich wieder daran erinnert, welche Rollen wir innehaben. Er, der Bewacher, ich, die Gefangene.

»Es handelt sich dabei um eine Reliquie aus der Zeit des Gründungskaisers«, sagte er schließlich. »Eine Kristallkugel, die sie die Nacht Erhellende Perle nennen.«

Ein weiteres Volksmärchen, eine Erzählung, die zwischen die Seiten von Erstaunliche Geschichten aus dem Himmlischen Palast gehört. Als der Gründungskaiser die verschiedenen Kriegsherren, die über die Teile des zersplitterten Reiches herrschten, vereinte, soll sich der Legende nach der Jadedrache dem Hof gezeigt haben. Als der schillernde Drache die Halle umrundete, senkte sich die Kugel vom Himmel herab und fiel in die Hände des Gründungskaisers. In diesem Augenblick verbeugten sich alle Beamten und Kriegsherren vor ihm, denn wer von den Göttern so berührt wurde, der musste der vorherbestimmte Herrscher Dàxīs sein. Die Kugel ging Jahre später nach dem Tode des Gründungskaisers verloren. Aber es kursieren Geschichten, denen zufolge derjenige, der mit der Kugel in der Hand erscheint, der rechtmäßige Herrscher von Dàxī ist.

»Du hast die Realität des Giftes gesehen. Dasselbe Gift, von dem auch meine Schwester befallen war. Diejenigen, die es zu sich nehmen, sind Gefangene, dazu verdammt, in einem lebendig gewordenen Albtraum zu wandeln«, sage ich leise. »Das sind die Qualen, an denen dein Vater die Menschen in seinem Streben nach Macht leiden lässt.«

»Er wäre nicht erfreut zu hören, dass er mittels magischen Einflusses manipuliert wurde«, kontert Kang. »Ich werde einen Weg finden, dass er mir Gehör schenkt. Er wird außer sich sein, wenn er die Wahrheit erfährt.«

Wir starren einander an, keiner von uns beiden ist bereit nachzugeben. Er glaubt, dass der Kanzler die Quelle des verderblichen Einflusses ist, doch ich bin mir nicht sicher, ob der General inzwischen nicht schon völlig von ihm eingenommen wurde.

Es spielt keine Rolle, was Kang im Schattenreich mit mir teilte, als er mir von seiner Essenz gab, um meine Verbindung zu Huayu zu stärken. Es spielt keine Rolle, wie oft er mir sagt, er wolle nur die Wahrheit.

Zwischen uns gähnt eine riesige Kluft, und ich weiß nicht, ob sie je überbrückt werden kann.