Kapitel 33

Ning

Die Narbe ist offen. Aber kein Blut quillt hervor. Stattdessen ist dort nur ein klaffendes Loch. Der Schmerz ist immer noch da, aber dahinter nehme ich eine Bewegung unter meiner Haut wahr, dieses grässliche Gefühl von etwas Zappligem, das ich immer mal wieder spüre.

Ihre Finger dringen in die offene Wunde ein, und ich muss wegschauen, während mir bittere Galle in die Kehle hochschießt und mir schwarz vor Augen wird. Ich nehme ein schmerzhaftes Ziehen wahr, als etwas versucht, sich an meinem Arm festzuklammern, dann spüre ich das Reißen und Zerren beim Kampf, es gewaltsam zu entfernen. Und plötzlich bin ich davon befreit.

Ich zwinge mich dazu, mich wieder der Eremitin zuzuwenden. Durch meinen Tränenschleier hindurch sehe ich ein dunkles, sich windendes Etwas. Es ist ein Tausendfüßer, hoch giftig, seine Beine zappeln in der Luft. Er ist von einem tiefen, dunklen Rot, als hätte er sich die ganze Zeit an meinem Blut gelabt. Erneut steigt Übelkeit in mir auf, als die Eremitin seinen angeschwollenen Leib zwischen ihren Fingern herunterbaumeln lässt.

»Er ernährt sich von der Lebenskraft der Lebenden«, erklärt sie, als wäre er nichts weiter als ein gewöhnlicher Haushaltsschädling. »Aber er liebt den Geschmack der Shénnóng-Magie. Er ergötzt sich daran.«

»Ist es das, was in den vergifteten Teeziegeln steckt?«, frage ich sie.

»Etwas Ähnliches«, sagt sie. »Alle ihre Abscheulichkeiten tragen einen Teil von ihr in sich. Ein Tropfen des Giftes, das von ihren Fangzähnen trieft. Aber du hast es direkt von der Quelle empfangen.«

Eine andere Art von Magie. Der Tausendfüßer strampelt in ihrer Hand, bei dem Versuch, sich zusammenzurollen, er windet und krümmt sich. Ein weiteres Mal spüre ich, wie ihre Magie auflodert, worauf sich rote, seidengleiche Fäden aus dem Körper des Tausendfüßers lösen, bis er bis auf seine Hülle zusammenschrumpft und seine Bewegungen ersterben. Auf einen Schwenk ihrer anderen Hand hin weht der Wind die Hülle davon und lässt sie zu Staub zerfallen. Auch die roten Fäden lösen sich im Wind auf.

»Fortan wird sie dich nicht mehr verfolgen können.« Die Eremitin schenkt sich eine Tasse Tee nach und leert sie, zieht eine Grimasse, als wäre der Geschmack beeinträchtigt.

»Ein Teil der Schlangenmagie steckte in mir drin?« Mich überläuft eine Gänsehaut, und mir ist, als könnte ich ihre Gegenwart immer noch spüren. Die Zähne der Schlange durchbohrten mich, als ich in Shus Traum war – das muss der Moment gewesen sein, als sie mich mit ihrem Gift infizierte. Deshalb also konnte die Schlange mich jedes Mal aufspüren, wenn ich meine Magie anwendete. Deshalb wussten die Schattensoldaten immer, wo ich war. Die Eremitin bestätigt meine Vermutungen mit einem Nicken, als hätte ich sie laut geäußert.

»Danke«, sage ich zu ihr. »Könnten Sie mir bitte Ihren Namen verraten? Damit ich weiß, wie ich Sie ansprechen soll?«

»Du kannst mich Lady An nennen.« Sie neigt ihren Kopf. Dann setzt sie den Hut wieder auf, und ihr Gesicht und ihre Schultern verschwinden abermals unter dem Schleier. »Komm mit, wir werden diese Wunde jetzt säubern und verschließen.«

Ich stehe auf und folge ihr. Sie führt mich einen Pfad entlang, der sich am Steinpavillon vorbeischlängelt und von Bambuspfählen, Blättern und Büschen gesäumt ist, die ihn halb überwuchern. Ein Stück weiter des Weges kommen wir zu unserer Rechten an ein Rankgitter, das unter dem Gewicht von Kürbissen in verschiedenen Größen fast ächzt und über und über mit Kletterreben bedeckt ist. Auf der linken Seite ragt ein weiterer wilder Wirrwarr aus Grünzeug auf, ein Pflanzenwuchs, der mich überrascht angesichts der Höhenlage, in der wir uns befinden. Der Nebel hängt weiter zwischen dem üppigen, satten Grün. Es ist ein ungezähmter Ort, als wäre er einst bewohnt gewesen, aber inzwischen hat die Natur ihn sich zurückerobert.

Lady An bückt sich und hebt eine lange, gebogene Sichel auf, die an einem Baum lehnt. Sie tritt unter das Gitter und schneidet einen Kürbis ab, den sie mir zum Tragen gibt. Sie hackt auch die Spitzen einiger Reben ab und wirft sie in einen bereitstehenden Korb zu ihren Füßen. Mit dem Korb in der Hand stapft sie auf ein üppiges Kräuterfeld, das hinter dem Rankgitter wächst. Die Kräuter stehen hier fast kniehoch und so dicht, dass ihre Waden völlig darin verschwinden. Mit geübten Handgriffen pflückt sie, was sie braucht, und die Erde gibt die Pflanzen bereitwillig her.

Ein Stück weiter vorn befindet sich ein weiteres Gebäude, eine Bambushütte mit einer behelfsmäßigen Küche. Es gibt ein Regalbord, das sich entlang der Hüttenwand zieht, einen gemauerten Herd und einen großen Holztisch. Sie greift nach einer Holzplatte, die an der Wand lehnt, und legt sie auf den Tisch. Dann wetzt sie ein Beil an einem Stein und hackt damit das Grünzeug auf der Platte klein. Die zerkleinerten Stücke gibt sie in eine Steinschale und zerdrückt sie mit Hilfe eines Stößels zu einer breiigen Masse.

Mit einer Geste bedeutet sie mir, den Arm auszustrecken, und ich tue es. Vorsichtig bestreicht sie die Wunde mit einer dünnen Schicht der grünen Paste. Dann pustet sie sacht über die Oberfläche, und ich spüre sofort eine Veränderung. Ein leichtes Kribbeln läuft über meine Haut, als die Magie zu wirken beginnt. Mit einem langen Stoffstreifen fixiert sie den Heilumschlag. Ich wackle mit den Fingern. Alles funktioniert noch so, wie es sollte.

»Weißt du, wie man mit einem Messer in der Küche umgeht?«, fragt sie. Ich bejahe die Frage. Ich wurde dazu erzogen, in der Küche helfend zur Hand zu gehen. Seit ich laufen gelernt hatte, musste ich im Haushalt Aufgaben übernehmen: Feuerholz für den Ofen sammeln, Zutaten für die Arzneien vorbereiten oder beim Essenmachen helfen. Sie reicht mir ein Holzstück als Schneidebrett und weist mich an, den Kürbis zu zerteilen.

Als ich den Kürbis öffne, erkenne ich am grünen Fruchtfleisch und an den flachen weißen Samen, dass es sich um eine Wintermelone handelt. Ich schneide sie in mundgerechte Stücke. Lady An kommt mit einem irdenen Topf zurück, in den ich die Stücke lege, dann streut sie zerdrückten Knoblauch und Ingwerscheibchen darüber. Die Küche wird offensichtlich oft und gut genutzt. Kochutensilien hängen in Reichweite an der Wand, von der Decke baumeln getrockneter Knoblauch und Chili. Während sie in einem anderen Topf rührt, drückt sie mir grüne Bohnen zum Putzen in die Hand. Als sie nach einer Weile den Deckel abnimmt, steigt mir der würzige Duft von Sojasoße, Sesamöl und Basilikum in die Nase. Drei-Tassen-Huhn.

Ich habe alle Hände voll zu tun, während Lady An mich anweist, dieses oder jenes zu hacken oder zu rühren, aber meine innere Anspannung bleibt. Ich habe so viele Fragen, die ich ihr stellen muss. Ob sie tatsächlich die Shénnóng-shī aus der Legende ist, diejenige, die den Kaiser vor einer nahenden Dunkelheit gewarnt hat. Ob sie uns in diesen düsteren Zeiten Beistand gewähren wird, um zu verhindern, dass ein uralter Gott wieder erwacht. Doch es ergibt sich einfach nicht der passende Moment, um diese Dinge anzusprechen.

Der Tisch ist abgeräumt, das Geschirr steht bereit. Wir stellen die dampfenden Töpfe auf den Tisch und essen. Das, was ich für Drei-Tassen-Huhn hielt, entpuppt sich als ein Gericht mit fleischigen Austernpilzstücken, die in einer salzigen, reichhaltigen Soße getränkt sind. Die Suppe hat eine süßliche Note, was ein bekömmliches Gegengewicht zu der Schärfe der grünen Bohnen setzt. Ich esse ein paar Bissen, aber die Zeit drängt immer mehr, und ich weiß, dass ich etwas sagen muss, selbst wenn ich dabei unverschämt und respektlos erscheinen mag.

»Verzeihen Sie vielmals, Lady An.« Ich lege die Essstäbchen hin. »Ich bin außerordentlich dankbar für Ihre Gastfreundschaft, aber ich möchte mit Ihnen über den Grund sprechen, warum ich Sie aufgestört habe.«

Sie nippt an dem gesüßten Wein, den ich ausgeschlagen habe, weil ich einen klaren Kopf bewahren möchte. Ich bin nicht sicher, was sie von mir als Gegenleistung für ihre Hilfe verlangen wird, und muss wachsam sein.

»Lass mich dir eine Geschichte über diejenige erzählen, die dich mit ihrem Gift gezeichnet hat«, sagt sie. Sie trinkt noch einen großen Schluck Pflaumenwein, und als sie den Blick hebt, sehe ich, dass sich der Mond in ihren Augen widerspiegelt. Erschrocken schaue ich zum Himmel empor. Wann ist der Mond aufgegangen? Und wieso ist er so hell und voll? Ich verspüre einen Anflug von Panik. Wie viel Zeit ist bereits vergangen? Was wenn der Kanzler beschlossen hat, dass ich weggelaufen bin, und nun Shu und Bruder Huang hinrichten lässt?

»Keine Sorge«, sagt sie, als sie meine Erregung bemerkt. »Wir haben noch Zeit, das verspreche ich dir.«

Ich zwinge mich, stillzusitzen und zuzuhören. Was bedeutet Zeit für jemanden, der eine solche Magie heraufbeschwören kann? Ich muss geduldig sein.

»Du kennst die Geschichte von der Schlange, die nur mit den vereinten Kräften aller Götter unterworfen werden konnte?« Als ich nicke, fährt sie fort. »Jeder von ihnen opferte dafür eine Komponente seiner Macht. Von Shénnóng kam eine silberne Schuppe. Aus der Krone von Bi-Fang eine Feder. Eine Kralle vom Gott des Donners und der Panzer von Bìxì. Die Feder konnte große Entfernungen überbrücken und zog die Schlange in Reichweite der anderen. Der Panzer schirmte sie ab, so dass sie nicht mehr ihre Elementarkraft benutzen und sich von ihren Fesseln befreien konnte. Die Schuppe fiel auf das Herz ihrer Magie und versiegelte es, so dass sie in ihrer menschlichen Gestalt gefangen war. Dann stachen sie ihr mit der Kralle des Tigers das linke Auge aus, und der Jadedrache warf es in das östliche Meer. Sie rissen ihr einen Oberschenkelknochen heraus, formten ihn zu einem Schwert und versteckten es in den Bergen. Zum Schluss schnitten sie ihr das Herz heraus, das auf den Grund eines Sees sank, wo es viele Jahre unangetastet lag.«

Ich kenne die Geschichte, aber jedes Mal, wenn ich sie höre, kommen neue Details hinzu.

»Du musst ihren Namen kennen und ihn dir merken«, sagt sie. »Gongyu.«

Ich wiederhole den Namen und spüre das Gewicht, das darin ruht.

»Das Knochenschwert wurde schließlich gefunden, und es vergoss einen Strom aus Blut über das Kaiserreich, bevor es niedergeschlagen und wieder versteckt wurde. Das Volk im Norden erbaute einen Turm, um seine schreckliche Macht darin einzumauern«, fährt Lady An fort. »Das Kristallherz wurde entdeckt, als die Menschen damit begannen, Siedlungen zu errichten, Dämme zu bauen und Flüsse umzuleiten. Es war Teil der Gründung Dàxīs, ja, aber es führte auch zu einem Massaker an Unschuldigen. Gongyu erschien als eine verderbte Vision und schlüpfte in die Gestalt der Goldenen Schlange. Sie versuchte, andere dazu zu verleiten, ihren Plan zu vollenden. Das war der Moment, als man mich um Hilfe bat. Ich stahl dem Hof das Herz und wurde gefragt, ob ich bereit wäre, die Welt der Menschen hinter mir zu lassen. Denn das ist der Preis dafür, sein Wächter zu sein.«

Die alterslose Frau betrachtet mich ernst. »Aber nun hat der Wind sich noch einmal zu ihren Gunsten gedreht. Das Jadeauge wurde gefunden, und Gongyus beharrliches Flüstern lockte denjenigen, der es trägt, zum Knochenschwert. Jetzt braucht sie noch das Kristallherz, um sich wieder zu erheben und Tausende menschlicher Seelen zu verschlingen, damit sie wieder in ihre menschliche Gestalt zurückkehren kann. Es ist dieselbe abscheuliche Magie, die sie einst heraufbeschwor, um auf der Erde zu wandeln.«

Ich begreife, was das bedeutet. Worum ich sie bitten muss. Der Preis, um meine Schwester zu retten.

Lady An lächelt. »Mir wurde gesagt, ich solle warten, bis die Zeit gekommen ist, bis die richtige Person die richtigen Fragen stellt. Ich habe auf dich gewartet, Zhang Ning … schon seit langer Zeit.«