Kapitel 35

Kang

Der zähe Nebel ist binnen eines Wimperschlags aufgezogen, und sie sind alle darin verschwunden. Ning. Badu. Ren. Er irrt allein durch eine Welt voller sich verändernder Schemen. Es erinnert ihn an diesen grässlichen Ort, den Ning das Schattenreich nannte. Wo er eine Monstrosität sah, die gar nicht hätte existieren dürfen, und erlebte, wie ein Mann vor seinen Augen alterte.

Kang ruft weiter nach seinen Gefährten, aber er ist nur von Bäumen und Felsen umgeben. Er findet weder den Rand der Klippe, von wo aus er zur Straße zurückkehren könnte, noch die Pferde. Er ist mutterseelenallein im Gebirge, nur begleitet von seinen Gedanken, die sich als schlechte Gesellschaft erweisen.

Es gibt zu viel Raum für Zweifel. Kang hat sich um das Volk von Lǜzhou verdient gemacht. Er gewann seinen Respekt. Er verließ Lǜzhou im Glauben an die Sache seines Vaters – auch wenn er mit dessen Methoden nicht einverstanden war, wusste er, dass für das Volk Opfer gebracht werden mussten. Als er dann die Folgen dieser Opfer mit eigenen Augen sah … war er sich nicht mehr so sicher. Wie soll er den Einsatz eines Giftes rechtfertigen, das nicht nur den Körper, sondern auch den Geist zerstört? Könnte er seinem geliebten Lehrer gegenübertreten, wenn es ihm gelänge, ihn von dem Einfluss des Kanzlers zu befreien? Könnte er Lehrer Qi in die Augen sehen und ihm sagen, dass er seinen Lehren gefolgt ist und sich des Schwarzen Tigers als würdig erwiesen hat?

Kang, der jegliche Orientierung und alles Zeitgefühl verloren hat, ist erleichtert, als er schließlich den Weidenbaum sieht. Hastig rennt er darauf zu.

Eine plötzliche Böe reißt ihn um, und erschrocken sieht er mit an, wie der Wind alle Äste des Baumes entblättert. Hunderte kleiner zusammengefalteter Zettel, die die Wünsche all jener in sich bergen, die vor ihm hier waren, rauschen über ihn hinweg wie eine Schar flatternder Flügel, und ein paar der Schnipsel prallen gegen seine Stirn. Schnell nimmt er die Hand hoch, um seine Augen zu schützen.

Die Papierstückchen werden vom Wind hinfortgeweht, verlieren sich in der Schlucht und nehmen den Nebel mit sich. Als Kang den Arm wieder herunternimmt, sieht er eine Gestalt, die unter dem Baum kniet. Der Baum zittert, seine Äste zeichnen sich dunkel gegen das Weiß des Himmels ab. Noch eben war er von üppigem, hängendem Grün bedeckt gewesen. Jetzt ist er morsch und wirft verschrumpelte braune Blätter ab.

Zögerlich macht er einen Schritt darauf zu, und ein Ast knackt unter seinen Füßen. Die Gestalt blickt hoch, und es ist Ning. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt. Eilends überwindet er die Entfernung zwischen ihnen. In ihren Händen hält sie eine leuchtende Kugel von der Größe eines Hühnereis.

»Die Nacht Erhellende Perle«, flüstert er. »Du hast sie gefunden.«

Sie nickt.

»Wie hast du …«

Sie rappelt sich hoch, und er stützt sie. Sie sieht müde und verloren aus, als ob das Auffinden des Schatzes sehr an ihr gezehrt hätte.

»Wie lange war ich fort?«, fragt sie mit heiserer Stimme.

»Eine Stunde vielleicht, nicht länger als zwei«, erwidert er. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, ist es später Nachmittag.

»Gut.« Ihre angespannten Schultern sacken vor Erleichterung herunter. Sie gibt ihm die Kugel, als könnte sie ihren Anblick nicht ertragen. »Kannst du sie für mich nehmen?«

Kang setzt seinen Rucksack ab und holt ein Stück Stoff heraus, in das eine Reihe von Arzneifläschchen eingeschlagen ist. Er wickelt die Kugel in das Tuch ein, bis ihr Leuchten nicht mehr zu sehen ist, und legt sie vorsichtig in seinen Rucksack.

»Lass die Medizin gleich draußen«, sagt Ning zu ihm. »Du blutest.«

»Das ist nichts weiter«, sagt er und betastet seine Stirn. Als er auf seine Fingerspitzen blickt, sind sie blutbefleckt. »Das waren die Wünsche.«

Kaum sind ihm die Worte über die Lippen gekommen, wird ihm bewusst, wie eigenartig es ist, so etwas zu sagen, und ihrem Blick nach zu urteilen, denkt sie das Gleiche.

Sie lächelt einen Augenblick. »Das war in der Tat ein sehr seltsamer Tag.«

Kang setzt sich auf einen flachen Felsen, und sie hockt sich neben ihn, so dass sie einander ansehen können. Ning streut sich das schmerzlindernde Pulver auf die Finger und tupft es auf die kleinen Schnittwunden auf seiner Stirn. Es brennt nur ein wenig. Er beobachtet jeden ihrer mit großer Behutsamkeit ausgeführten Handgriffe und spürt wieder dieses scharfe Ziehen in seiner Brust. Dieses unerträgliche, schmerzende Verlangen. Doch dann lehnt sie sich von ihm weg, und die Verbindung reißt ab.

Er muss es fragen. »Bist du der Eremitin begegnet?«

»Ja«, antwortet sie, und ihr Gesicht nimmt wieder diesen verlorenen Ausdruck an. »Auf der anderen Seite der Schlucht.«

Kang blickt über die Schlucht hinweg. Er schätzt die Entfernung bis zur anderen Seite auf ungefähr einen Viertel li , eine Spanne, die nicht mal ein Pferd mit einem Sprung überwinden kann. Aber er zweifelt nicht an ihren Worten; sie ist vor seinen Augen verschwunden und wieder aufgetaucht, wurde vom Nebel davongetragen und wieder zurückgebracht.

»Sie ist tot«, sagt sie. Kang weiß nicht, was er sagen soll, um ihr Trost zu spenden, falls sie überhaupt welchen braucht. Stattdessen schaut sie ihn an, und der Klang ihrer Stimme ist von unterschwelligen Emotionen gefärbt. »Du weißt, was passieren wird, wenn du ihm die Nacht Erhellende Perle gibst.«

Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Sie ist ein Symbol«, sagt Kang, »für die Wiedervereinigung des Kaiserreichs. Der Gründungskaiser brachte als Erster das Reich zusammen, und so wird es wieder sein.«

Ning lacht auf, doch es klingt bitter. »Ist es das, was Kanzler Zhou dir erzählt hat? Die Kugel ist kein bloßes Symbol. Sie ist eine Quelle der Magie.«

Ein Symbol. Eine Quelle der Magie. Es könnte beides sein. Er weiß nur, dass dies bedeutet, dass mehr Menschen sterben werden, um seinem Vater den Thron zu sichern.

Kannst du das Gewicht dieser Last tragen?

»Was, wenn … wir sie verschwinden lassen? Wenn wir sie verstecken und ihn irgendwie täuschen?«, fragt Kang.

»Das würdest du tun?«, entgegnet sie. Ihre Frage versetzt ihm einen Stich, aber er hat ihre Einwände zu oft abgewimmelt. Er hat zu lange gebraucht, um ihr zu glauben. Ihr Zweifel ist berechtigt.

»Du hast mir gezeigt, was auf der anderen Seite ist. Was mit den Menschen passiert, die vergiftet wurden«, sagt er. »Hunderte von Menschen sind tot. Weitere Hunderte vegetieren in diesem qualvollen Zustand dahin. Ich glaube wirklich, dass mein Vater unter dem Einfluss des Kanzlers steht, dass er auf irgendeine Weise auch seinen Verstand kontrolliert. Mein Vater ist seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr derselbe, und der Kanzler legt es geradezu darauf an, seine Rachegelüste zu schüren.«

Plötzlich ergreift sie seinen Arm, so fest, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach blaue Flecken zurückbehalten wird. Sie kommt ihm ganz nah.

»Du willst deinen Vater retten, und ich will den Kanzler davon abhalten, seinen Plan zu vollenden«, sagt sie. »Du hast mir schon mal geholfen – ich muss dich darum bitten, es noch einmal zu tun. Denn ich muss glauben können, dass du für die Menschen des Reiches das Beste willst, nicht nur für das Reich selbst.« Ihre Worte sind scharf, und sie treffen ihn bis ins Mark.

»Ich will den Menschen helfen«, erwidert er. »Aber das kann ich nicht, wenn ich nicht weiß, was du weißt. Wirst du es mir sagen?«

Sein Vater hat ihn immerzu im Dunkeln gelassen. Doch bei dem Versuch, sich der Wahrheit zu nähern, hat er sich tiefer und tiefer in ihren Sog begeben, und nun kann er sich nicht mehr daraus befreien. Er weiß jetzt, dass er sich gegen die Herrschaft seines Vaters auflehnen muss, auch wenn Kang durch die ihm versprochene Macht kurzzeitig selbst in Versuchung geraten war. Ein Bataillon anzuführen und die Loyalität aller Soldaten zu gewinnen, das war es, was er glaubte anzustreben, aber nicht zu diesem Preis. So viele tot, so viele leidend. Ihm wird jetzt klar: Das ist nicht die Zukunft, die er sich wünscht.

Ning schaukelt auf die Fersen zurück, bis sie auf dem Boden sitzt. Kang macht sich bereit, um ihre Antwort zu hören. Er wappnet sich, die Wahrheit zu erfahren, in der Hoffnung, sie ertragen zu können.

»Die prophezeite Dunkelheit ist hier«, sagt sie mit ernster Stimme. »Nicht lange nachdem die Welt erschaffen wurde, gab es den Jadedrachen und die Goldene Schlange. Die Schlange lehnte sich gegen die anderen Götter auf und wollte über die Menschen herrschen, und dafür wurde sie bestraft. Und jetzt kehrt die Schlange zurück in die Welt. Sie will wieder leben. Der Kanzler ist nicht mehr der Kanzler. Er ist von der Schlange besetzt worden. Seine Seele wurde möglicherweise bereits aufgezehrt.«

»Die Magie in der Kugel …«, sagt er leise. »Wird sie ihr helfen, ihre Macht wiederzuerlangen?«

Ning nickt. »Es gibt drei Kleinode, die sie zurückgewinnen muss: das Auge, den Oberschenkelknochen und das Herz. Das Jadeauge, das Knochenschwert und die Kristallkugel.«

Ein Teil von ihm möchte sich gegen den Gedanken empören, dass sein Vater dabei die Hand mit im Spiel hatte – der Teil, der dem General gegenüber noch loyal ist. Dem Mann, der ihn bei sich aufnahm und ihn großzog wie sein eigen Fleisch und Blut. Diese Erkenntnis bereitet ihm nichts als Schmerz.

»Du weißt etwas«, sagt sie scharf, als sie seine Reaktion beobachtet.

»Ich weiß nicht, ob es das ist, wovon du sprichst, aber … der Kanzler trägt zwei Jadekugeln bei sich. Er hat meinem Vater ein Schwert aus Knochen geschenkt. Jetzt …« Er schaut auf seinen Rucksack, der die Kristallkugel enthält. »Dies muss das letzte Kleinod sein. Wir dürfen nicht zulassen, dass er es bekommt.«

Das war’s dann also. Die Zerstörung von Dàxī steht unmittelbar bevor. Die Linie wurde gezogen, und Kang muss sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen wird. Doch Nings nächste Worte überraschen ihn.

»Wir müssen die Kristallkugel aushändigen«, sagt sie. »Und zwar nicht nur wegen meiner Schwester …«

»Wir finden einen anderen Weg, um deine Schwester zu retten. Das verspreche ich«, sagt er und meint es mit jeder Faser seines Körpers.

Ning sieht ihn mit einem sanften Ausdruck in den Augen an und schüttelt den Kopf. »Lady An, die Eremitin, sagte, dass er sie bekommen muss. Erst wenn die Schlange ihre ganze Macht erlangt hat, kann sie bezwungen werden.«

Er spürt, dass Ning in dieser Sache hin- und hergerissen ist, genau wie er. Er begreift es nicht. »Aber warum? Hat sie dir einen Grund genannt?«

Ning verzieht den Mund zu einer grimmigen Linie. »Ich verstehe es auch nicht. Nur, dass wir es tun müssen.«

»Kommandeur Li!« Plötzlich ertönen die Stimmen von Ren und Badu aus der Richtung der Bäume und kommen näher.

Kang sieht Ning fragend an. Bist du bereit?

Sie antwortet mit einem resoluten Nicken.

Sie werden es gemeinsam schaffen.