Kang 康
Er träumt von dem Feuer, das die Türen des Palastes auffraß. Der Leibwächter seiner Mutter platzt in sein Zimmer und reißt ihn aus seinem Bett. Er ist umgeben vom Gestank von Rauch und Metall. Schreie. Weinen. Er ist wieder neun Jahre alt, kleiner als alle anderen, und wird inmitten des Chaos hektisch von Arm zu Arm gereicht. Seine Mutter, deren Augen so scharf sind wie die gebogene Klinge an ihrer Seite, schleust die Menschen durch das hintere Tor hinaus ins Freie.
Geh mit ihnen, Kang! , befiehlt sie und wendet sich ab, um sich wieder in den Kampf zu stürzen.
Nein! , protestiert er, aber ein paar Hände heben ihn hoch und tragen ihn fort …
Er wacht wild um sich schlagend in seinem Bett auf, ist schweißgebadet. Es ist mitten in der Nacht. Er ist wieder im Palast. Halb erstickt vom Geruch des Räucherwerks. Umgeben von Holz und Papier. Alles so leicht entflammbar.
»Kang?«
Jemand ruft seinen Namen. Es hört sich an wie Ning.
»Kang!«
Diesmal klingt die Stimme dringlicher.
Seine Füße berühren den Boden. Er muss der Stimme folgen.
Sie wartet auf ihn im mondbeschienenen Garten, wo die Prinzessin ihn einst niederknien ließ und ihn einen Verräter nannte. Der Garten gehört jetzt ihm, aber er verweilt dort nie. Er zieht es vor, ihn eilenden Schrittes zu durchqueren, um nicht an jene Nacht denken zu müssen. Gar zu mühelos kann er die anklagenden Worte seiner Cousine ins Gedächtnis rufen, und doch wird das alles sich nun erfüllen.
Ein sanftes Lüftchen wirbelt Nings Haar auf. Sie ist so gekleidet, wie er sich am liebsten an sie erinnert: in ihre Wettbewerbsrobe, wie an jenem Tag auf dem Markt. Ist das ein Traum? Er ist sich nicht sicher. Ihre Wege haben sich immer wieder gekreuzt. Die Fügung brachte sie zusammen, und ihre Fäden verwickelten sich, bis ihre Schicksale unwiderruflich verstrickt waren.
»Bist du tatsächlich hier?«, fragt er sie.
Sie lächelt und bedeutet ihm mit einer Geste, sich hinzusetzen. »Es ist alles ein Traum.«
Er lässt sich auf der Steinbank nieder. Sie fühlt sich echt unter ihm an, fest und hart. Als er sich an den Schmerz der Brandmarkung durch die Soldaten des Kaisers erinnert, und daran, wie sie ihn aus dem einzigen Zuhause, das er kannte, herausgerissen hatten. Als er mit ansah, wie sie seiner Mutter und seinem Vater das Gleiche antaten. Er begegnet Nings Blick und weiß, dass sie die Last dieser Erinnerung spüren kann. Die Wut und die Scham. Aber sie verurteilt ihn nicht. Sie weiß, wie es ist, einen Menschen zu lieben und ihn zu verlieren. Sie weiß, wie es ist, einen Menschen zu lieben und von ihm enttäuscht zu werden.
Sie schenkt ihm eine Tasse Tee ein, ihre Bewegungen sind so anmutig, wie er sie erinnert, geübt und wie aus einem Guss.
»Morgen werde ich deinem Vater die verbliebenen Reliquien bringen«, erklärt sie, und ihre Stimme ist so luftig wie die Brise, die hinter ihr in den Blättern des Baumes spielt. Als würde sie ihm erzählen, dass sie ihn in seiner Residenz besuchen und Geschenke mitbringen wird. So, wie es seine zukünftige Gemahlin tun würde, wenn Ning seine Braut wäre. Wenn sie sich zu einem anderen Zeitpunkt begegnet wären. Wenn sie zwei andere Menschen wären.
»Das hat Gongyu verlangt«, stößt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Der Kanzler tut dies, weil sie ihn bloßgestellt hat, und er tut es, um Kang zu verletzen. »Er ist von dir besessen. Damit würdest du dich ihm beugen. Geh nicht.«
Sie widerspricht ihm nicht. »Du klingst genau wie die Prinzessin.« Sie lächelt, und in ihren Worten schwingt eine gewisse Zärtlichkeit mit. »Sie hat auch versucht, es mir auszureden, aber begreifst du nicht? Was immer mich mit dir verbindet, verbindet mich auch mit ihm. Es ist der Ort, an dem ich sein soll.«
Ning schiebt ihm die Teetasse über den Tisch zu, und mit ihrer anderen Hand greift sie nach seiner geballten Faust. Behutsam streicht sie mit dem Daumen über seine Knöchel, eine Berührung, so zart wie ein Hauch. Er erlaubt ihr, seine Faust zu öffnen, über jede Linie und jede Furche seiner Hand zu fahren, über seine Schwielen zu streichen, was ihm einen Schauer durch den ganzen Körper jagt. Bis er fast vergisst, dass sie ja gar nicht da ist, nicht wirklich jedenfalls.
»Die Hand eines Kriegers«, sagt sie und runzelt die Stirn. »Ich hasse es, dass ich dich bitten muss, das zu tun.«
Er sieht hoch und begegnet ihrem Blick, spürt ihr Zögern. Das Bedauern.
»Du kannst es mir sagen«, sagt er.
»Du solltest lieber den Tee trinken«, erklärt sie grimmig und zieht ihre Hand weg.
Der Tee rinnt ihm glatt die Kehle hinunter. Leicht und grün, mit einer zarten blumigen Note. Er staunt, dass der Aufguss sogar in einem Traum diesen Geschmack entfalten kann. Er schmeckt fast so echt wie in der Realität.
»Die Prinzessin und der General werden ihre Truppen auf das Feld vor den Toren Jias stellen«, sagt Ning. »Die Prinzessin hat um ein Treffen mit dem General gebeten, sie hat es als mögliche Kapitulation dargestellt, und als Zeichen des guten Willens wird sie ihm eine Reliquie überlassen.«
Kang weiß es bereits. Der Panzer von Bìxì. Wie die Berater seines Vaters triumphiert hatten, als sie die Nachricht hörten, überzeugt davon, dass Zhen schwach und ängstlich ist. Aber nach allem, was er über seine Cousine weiß, kann es so einfach nicht sein. Er weiß, dass der Kanzler eine Antwort geschickt hat. Er wusste nicht, dass diese Ning involviert.
»Es sind die Reliquien, von denen Lady An sagte, dass man sie vielleicht braucht, um die Schlange aufzuhalten, so, wie sie es schon einmal geschafft haben«, sagt sie. »Shénnóngs Schuppe. Bìxìs Panzer. Bi-Fangs Feder. Die Kralle des Schwarzen Tigers.«
Die Luft um sie herum erzittert, als sie diese Worte äußert, so als würde sich dieses Traumreich, in dem sie sich befinden, vor der Macht der alten Götter ehrfürchtig verneigen.
»Und die Prinzessin ist einverstanden, dass du ihm die Reliquie übergibst? Glaubt sie denn, dass eine Waffenruhe möglich ist?«, fragt er. »Dass mein Vater dazu gebracht werden kann aufzuhören, ohne dass Blut vergossen wird?« Selbst er weiß, dass es ein törichtes Unterfangen ist. Sein Vater hat seinen Ruf nicht ohne Grund. Er trachtet danach, die Nachfolge auf dem Thron anzutreten, koste es, was es wolle.
Ning schüttelt den Kopf. »Das spielt für mich keine Rolle. Ich möchte verhindern, dass das Volk von Dàxī einem Schicksal anheimfällt, das schlimmer ist als der Tod.«
Abscheulichkeiten, die zum Leben erwachen. Die aus den Eingeweiden der Erde herauskriechen. Durch seine Verbindung zu ihr sieht Kang das alles vor seinem geistigen Auge, Bilder, von denen eines grausiger ist als das nächste.
»Hat er noch weitere Bedingungen gestellt?«, fragt Kang. Er weiß, dass der Kanzler zu großer List fähig ist, und es muss einen tieferen Grund für seine Strategie geben. Einen Grund, den er nicht durchschaut.
»Nur was den Zeitpunkt betrifft. Die Übergabe muss morgen vonstattengehen.«
Warum einem Treffen zustimmen, wenn sich daraus kein echter Vorteil ergibt? Wenn die Kornkammern Jias gefüllt sind, wenn die Stadt eine leicht zu verteidigende Stellung am höchsten Punkt des Tals innehat. Wenn die Palastwachen und die Stadtwachen, die Soldaten aus Sù und Lǜzhou dort stehen. Jia kann einer Belagerung problemlos standhalten. Sein Vater kann zu einem günstigen Zeitpunkt zum Kaiser aufsteigen, in der sicheren Abgeschiedenheit hinter den Mauern von Jia. Zu seinem Vorteil ist, dass er Zeit hat, auf weitere Verstärkung aus Lǜzhou zu warten und darauf, dass sich die Unruhen in Ānhé wieder beruhigen, denn es gibt zwar Fraktionen, die dem ehemaligen Kaiser treu ergeben sind, aber auch solche, die den Aufstieg des Generals lautstark unterstützen.
»Warum ausgerechnet morgen?«, murmelt er und versucht, die Lage militärisch zu bewerten und das Ganze aus dem Blickwinkel seines Vaters zu betrachten.
»Sie warnte mich vor der Magie der Schlange«, sagt Ning. »Sie wird Opfer verlangen, um sich an ihre menschliche Gestalt zu binden. Sie hat kein eigenes Blut, keinen Lebenssaft. Sie kann die menschliche Form nur eine Zeitlang aufrechterhalten, als Trugbild. Sie wird die dunkelste Magie ausüben müssen, um den Körper des Kanzlers vollständig zu übernehmen, damit sie wieder auf Erden wandeln kann. Aber nicht als Parasit, nicht als Marionettenspielerin, sondern mit einem echten eigenen menschlichen Körper.«
Kang möchte die nächste Frage am liebsten gar nicht stellen. »Was verlangt sie?«
»Tausend Seelen. Sie muss sich tausend Seelen einverleiben, um wieder auf Erden wandeln zu können.«
Kang erschaudert bei dem Gedanken.
»Sobald sie die Macht des Auges, des Beins und des Herzens einsetzt, wird ihr menschliches Gefäß verfallen. Wir glauben, dass ihr nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, sich diese Seelen einzuverleiben, um zu leben – deshalb der Zeitplan.«
»Wie kann sie so viele Seelen auf einmal verschlingen?«
»Vielleicht mit Hilfe irgendeines Rituals?« Sie reibt sich die Stirn.
»Moment …«, sagt er. »Die Übergabe. Wie viele Leute sollen dorthin kommen?«
Ning denkt darüber nach, und dann dämmert ihnen beiden gleichzeitig die Erkenntnis. Sie haut mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Sie will das Tal überfluten! Jeden töten, der sich im Korridor zwischen Jia und Huadu befindet. Kein Wunder, dass der Kanzler den Bedingungen der Kapitulation zustimmte, warum Zhen sich vor den Toren der Stadt zeigen soll. Aber sie wird natürlich nicht allein dort stehen. Sie wird ihr schützendes Bataillon um sich haben.« Ning springt auf und pirscht auf und ab. »Wenn die Schlange es schafft, nur an einen Teil ihrer Magie zu gelangen, könnte ihr das vielleicht schon reichen. Die Flüsse sind bereits vom Regen angeschwollen, von den Hochwassern, die seit dem Spätwinter auftreten … und dann dieser Regen, wie wir ihn seit hundert Jahren nicht gesehen haben. Das war alles sie. Sie hat Vorbereitungen getroffen.«
»Der alte Name für den Fluss des Klaren Wassers ist ›das Gold‹«, sagt er bedächtig. »Denn der Fluss war manchmal klar, und manchmal waren seine Wasser gelb, und er führte zerstörerische Geröllmassen mit sich, die sich in den Jade ergossen und sein Wasser eine Zeitlang ungenießbar machten …«
Die Jade und das Gold. Der Drache und die Schlange.
»Wir wissen jetzt, was zu tun ist – und genau das ist es, worum ich dich bitten muss.« Sie tritt nah an ihn heran und ergreift seine Hände.
Aber er hat schon längst begriffen. »Du willst, dass ich die Schlange töte. Dass ich den Kanzler töte.«
»Nimm das Knochenschwert und stoße es ihm ins Herz, wenn er am verwundbarsten ist. Bevor die Schlange die Gelegenheit hat, jene tausend Seelen zu verschlingen, die sie braucht, um ihre Magie zu entfalten«, sagt sie mit Entschlossenheit.
Er versteht. Alle Wege münden ins Unausweichliche. Sie müssen dafür sorgen, dass die Schlange fällt.
Gift mit Gift bekämpfen , schnappt er aus ihren Gedanken auf.
»Das Knochenschwert ist unsere größte Chance, sie niederzustrecken, denn es enthält einen Teil von ihr. Wir werden ihre eigene Magie gegen sie verwenden«, stößt sie hastig hervor, während sie im Kopf bereits die Wahrscheinlichkeiten überschlägt.
Kang wird an dem Kanzler Rache üben können dafür, dass er dieses Übel über das Reich gebracht und seinen Vater in diese Machenschaften mit hineingezogen hat.
»Pass auf dich auf«, flüstert Ning, sieht ihm in die Augen und streichelt über seine Wange. Er legt seine Hand auf die ihre, spürt, wie ihre Wärme in ihn einsickert.
»Wir sehen uns morgen«, flüstert er. Im nächsten Moment beginnt dieser Traum um sie herum zu zerbröckeln. Die Mauern verschwinden ins Nichts. Der Garten schrumpft zusammen, wird kleiner und kleiner. Bis er weg ist.