Kapitel 43

Ning

Die Schlange schaut mit ihren roten Augen auf mich herunter. Sie sieht mich, wie ich an den Fäden ziehe, die diese Welt mit der nächsten verbinden. Sie schickt eine Botschaft direkt in meinen Kopf.

Ich hätte dich töten sollen, als ich die Chance dazu hatte, und jetzt werde ich es nicht bereuen. Ich werde alle deine lächerlichen Träume und Wünsche verschlingen. Deinen törichten Glauben, du könntest immer noch die Prinzessin retten und dieses Reich vor dem Untergang bewahren.

Die Erde unter mir grollt und rumpelt, während die Trommeln um uns weiter erklingen. Aus der Stadt dringen die Schreie all der Menschen, die dort gefangen sind.

Ich spüre den Druck, den die Umwindung der Schlange auf Kangs Körper ausübt. Diese zermalmende Kraft, die ihn überwältigt, bis er kaum noch atmen kann. Ich spüre jedes Quäntchen dieses Schmerzes, als müsste mein eigener Körper ihn ertragen, und so, wie Ruyi neben mir kauert, weiß ich, dass sie ihn auch spürt. Als die Luft aus Kangs Lungen gepresst wird, verlieren auch wir das Bewusstsein. Als meine Wahrnehmung schwindet, sehe ich noch die Schattensoldaten über uns auftauchen. Sie tragen uns fort.

Ich erwache mit einem Keuchen. Ein teilnahmslos dreinblickender Soldat trägt mich auf seinen Armen. Ich versuche, ihn mit einer Ranke meiner Magie zu erreichen – ein verzweifelter Überredungsversuch –, aber sie stößt gegen eine nackte Wand.

Er ist irgendwo, verloren und unerreichbar. Ich habe keinen d ān . Ich habe nur zwei Reliquien, die Hälfte dessen, was erforderlich ist, um Gongyus Macht zu durchbrechen. Aber die Schlange steht kurz davor, ihre wahre Gestalt zu erobern. Sie hat das Tal nicht überflutet, und ich habe keine Ahnung, was sie vorhat. Ruyi neben mir holt ebenfalls zitternd Luft und windet sich in den Fängen des Soldaten, der sie trägt. Sie zappelt und kämpft, aber er ist zu stark, und sie wird von den anderen leicht gebändigt. Ihre Hände und Füße werden als Strafe für ihren Widerstand gefesselt.

Ich schicke eine vorsichtig tastende Faser meiner Magie in Kangs Richtung, versuche, ihn mittels unserer Verbindung zu spüren. Die Verbindung ist zwar schwach, aber sie ist vorhanden. Er entfernt sich von mir und ist ohne Bewusstsein.

Wir werden durch die stillen Straßen der Stadt transportiert. Es gibt niemanden außer uns. Keine Gestalten, die uns durch die hölzernen Fenstergitter hindurch beobachten. Keine Leute, die uns in den Gassen hinterhersehen. Es ist totenstill. Geradezu unheimlich. Als würde man sich durch eine Geisterstadt bewegen. Das Gefühl des Unbehagens verstärkt sich in mir. Wo sind bloß alle? Zehntausende Menschen leben in Jia. Sie können nicht alle vor dem Tumult geflohen sein.

Wir betreten den Palast durch eines der Seitentore. Man trägt uns durch Flure und an Höfen vorbei, in denen sich viele Menschen zu geordneten Reihen formiert haben. Es ist immer noch still. Zu still. Ich verstehe nicht, warum sie alle so lammfromm dastehen. Ich versuche zu schreien, um ihnen zu sagen, dass sie abhauen sollen, doch schnell wird mir ein Stück Stoff in den Mund gestopft, das mich verstummen lässt, noch bevor ich einen Laut von mir geben kann.

Dies ist der Hof der Vielversprechenden Zukunft, ein Ort, der mir vertraut ist. Seine Mauern waren Zeuge meiner vielen Prüfungen im Palast. Wir werden die weißen Marmorstufen zu den großen offenen Türen der Halle des Ewigen Lichts hinaufgeschleppt, wie gemästete Schweine, die zum Schlachten, für ein Festmahl, bestimmt sind. Hinter uns herrscht großes Gedränge. Es sind so viele Menschen hier. Soldaten und Bürger und Händler. So viele Menschen, und doch sind alle still. Die Stille ist spürbar, und ich habe Angst.

In dem Moment, als wir durch die Türen eintreten, sehe ich, was los ist. Die mächtige Gestalt der Schlange nimmt die gesamte rückwärtige Wand ein. Sie hat den Thron umschlungen, auf dem eigentlich der Kaiser sitzen würde, um Würdenträger und Ehrungen zu empfangen. Aber anstatt der langen Reihen von Tischen, an denen normalerweise die Beamten sitzen, stapeln sich die einst so prächtigen Rotholzmöbel zu einem zersplitterten Trümmerhaufen in der Ecke. Vasen liegen in Scherben auf dem Boden, während die Soldaten die Leute zu der Schlange führen.

Voller Grauen sehe ich, wie sich der riesige Kopf der Schlange auf den ersten Menschen an der Spitze der Reihe herabsenkt. Es ist eine Frau mit einem seelenruhigen Lächeln, die in einem schlampigen Knicks versinkt. Der Kopf der Schlange verharrt über ihr. Magie zuckt aus ihm heraus wie Peitschenhiebe, aber die Frau verzieht keine Miene, auch nicht, als sie in ihre Haut eindringt. Dann werden Stränge ihrer Essenz aus ihr herausgezogen, aus ihren Augen, ihrer Nase, ihrer Kehle … und landen im weit aufgesperrten Schlangenschlund. Der Gott speist.

Das Gesicht der Frau wird vor unseren Augen zusehends fahl und mergelt aus, ihre Augen sinken in die Höhlen zurück, ihr Fleisch erschlafft, bis sie zu Staub zerfällt. Als der letzte Strahl ihrer Lebenskraft im Maul der Schlange versickert, bildet sich auf ihrem Rücken eine einzige, makellose Schuppe, die golden leuchtet. Alles, was von der Frau übrig bleibt, ist ein Haufen Asche, der unter den Sohlen des nächsten herangewinkten Opfers zertreten wird. Die glitzernden Körnchen am Boden, die ich für Sand gehalten habe, sind die Überreste der Menschen, die bereits getötet wurden.

Die einst prächtige Halle, die Herrlichkeit von Dàxī, ist zu einem Friedhof geworden.

Die Schattensoldaten tragen uns nach vorne und stoßen uns vor der Schlange auf die Knie, das Stoffstück zerrt man mir brutal aus dem Mund. Die Schlange hält in ihrem Seelenschmaus inne, um uns hämisch anzugrinsen, sichtlich ergötzt von ihrer Macht und dem Erfolg ihres Plans.

»Werdet meine Zeugen!«, ruft sie laut aus, und der Klang ihrer grässlichen Stimme hallt durch den Raum, prallt von Wänden und Böden ab. »Ich werde die Bewohner von Jia verschlingen und meine volle Macht erlangen. Ich werde euch zeigen, wie sinnlos euer Kampf ist.«

Einer der Schattensoldaten nähert sich, in den Händen ein Tablett mit allerlei Gegenständen. Als ich sie erkenne, entfährt mir ein Keuchen.

»Ja, ganz genau, eure armseligen Schätze«, knurrt die Schlange. »Was von euren ehemals glorreichen Göttern noch übrig ist.«

Grobe Hände fummeln an meiner Schärpe herum und ziehen den Panzer von Bìxì hervor. Ich kann nichts weiter tun, als zuzusehen, wie er weggebracht und neben die anderen Schätze aufs Tablett gelegt wird.

»Eine Schale. Ein Dolch. Eine Scheibe«, höhnt die Schlange. Sie sind alle da. Alle Reliquien, nach denen wir gesucht haben. Die Feder, die sich in einen Fächer verwandelt hat, trage ich direkt am Körper. Vielleicht kann ich …

Aber bereits mit dem nächsten Atemzug wird meine Hoffnung zunichtegemacht. Einer der Soldaten nimmt die Scheibe in die Hand, zertrümmert sie und schleudert die Bruchstücke gegen die Wand. Die Schale zermalmt er mit bloßen Händen, und dann bricht er den Dolch glatt in zwei Hälften, indem er die Schneide vom Griff abtrennt. Ich stoße einen verzweifelten Schrei aus.

»Mach, dass du zu deinen Göttern und deinem Prinzen kommst.« Die Schlange lacht, als die Schattensoldaten mich hochreißen und gegen die Wand schleudern. Mit einem dumpfen Knall schlage ich auf und lande dann auf dem Boden. Ein Stoffbündel, das unweit von mir in den Schatten liegt, bewegt sich leicht, und ich erkenne, dass es ein Mensch ist.

Kang. Er röchelt mit jedem Atemzug. Ich spüre seine gebrochenen Rippen, seine geschundene Lunge.

»Brecht ihr die Beine!«, befiehlt die Schlange, worauf einer der Soldaten Ruyi packt, die sich nach Kräften wehrt, und ein anderer Soldat mit einem Stab auf sie einprügelt, bis sie schreit. Ich spüre, wie ihre Knochen splittern, als wären es meine eigenen. Auch sie wird wie Unrat bei uns abgeladen, und meine Beine brennen von ihren Schmerzen.

»Euch drei werde ich mir einverleiben, wenn ich hier fertig bin«, spottet die Schlange gehässig.

Die Bruchstücke der Reliquien liegen verstreut um uns herum. Unschuldige Seelen werden vor unseren Augen verschlungen, eine nach der anderen. Wir können nur mit unseren armseligen geborstenen Körpern daliegen und zusehen. Wieder einmal werde ich mit meinem unumgänglichen Scheitern konfrontiert.

Ich schaffe es, zu Ruyi hinüberzukriechen, obwohl mir bei jeder stockenden Bewegung Schmerzen durch den Körper schießen. Ich lausche auf ihren flachen Atem, streiche ihr das Haar aus den Augen. Ich schöpfe aus dem Pfuhl der Magie in mir, aus den restlichen Heilkräften des Pilzes und des Tees. Ich teile meine eigene Essenz mit der ihren.

»Das ist leider alles, was ich für dich tun kann«, flüstere ich ihr zu. Mit der wenigen Kraft, die ich habe. Sie nickt mir zu, und ich spüre ihren Dank.

Als Nächstes sehe ich nach Kang. Er ringt sich für mich ein Lächeln ab, doch schon beim nächsten Atemzug verzerrt er schmerzerfüllt das Gesicht. Ich schicke auch ihm ein wenig von meiner Magie, um den Druck in seinen Seiten zu mindern und die Ränder seines Schmerzes zu glätten. Ich lasse mich neben ihm schwer auf die Fersen zurückfallen, bereit, meinen kommenden Tod zu akzeptieren, als sich etwas in meine Handfläche bohrt.

Die eine Hälfte der Jadescheibe. Shénnóngs Schuppe. Sie ist zerbrochen und ihre Kanten sind so scharf, dass sie meine Haut einritzen. Ich blicke zu der Schlange und den Soldaten hinüber. Ihre Aufmerksamkeit liegt nicht auf mir, jedenfalls nicht im Moment. Unbemerkt mache ich mich daran, an den schartigen Rändern unsere Fesseln zu zerschneiden.

Als meine Hände endlich frei sind, gehe ich zu Ruyi und helfe auch ihr, ihre Arme und Beine zu befreien, obwohl sie gar nicht laufen kann. Die Schlange frisst seelenruhig weiter. Ich sammle die Bruchstücke der Reliquien ein, um zu sehen, was sich vielleicht noch retten lässt. Doch alles ist unwiderruflich zerstört.

Ich blicke hoch. Die Gestalt der Schlange strahlt jetzt fast zu hell, um sie noch anzuschauen – nur noch wenige schwarze Schuppen sind übrig. Jetzt verstehe ich, warum man sie einst für einen Gott hielt. Gongyu, der Bruder des Jadedrachen, ein Gott der Träume und der Albträume. Mit einem Mal flammt etwas feuerheiß an meiner Seite auf, und ich ersticke schnell den aufsteigenden Schrei. Der Fächer. Ich ziehe ihn aus seinem Versteck. Er liegt in meiner Hand, makellos und weiß.

Ich spüre, wie sich Kangs Hand um mein Bein spannt.

Sieh nur!

Die Bruchstücke der Reliquien fangen an zu zittern.