Ning 寧
Unter meinem erstaunten Blick fügt Shénnóngs Scheibe sich wieder zu einem makellosen Kreis zusammen. Bìxìs Panzer wellt und wölbt sich, als wäre er aus weichem Ton, und formt sich von selbst wieder zu einer Schale. Mit einem hörbaren Klicken fügen sich die zwei Hälften der Tigerkralle aneinander, dann kreiselt die Reliquie um sich selbst, bis sie wieder in einem Stück ist.
Eine verzierte Scheibe. Eine Steinschale. Ein metallener Dolch. Ein Papierfächer.
Schlichte, alltägliche Gegenstände, die leicht zu übersehen sind. Leicht außer Acht gelassen werden.
Aber sie summen vor Macht, strotzen vor Magie, auf die ich sofort reagiere. Die Magie strömt in mich ein, und ich leite sie aus mir heraus in die zwei Körper neben mir und stelle die Verbindung her. Shénnóngs Kraft fließt durch Kang und Ruyi, setzt gebrochene Knochen zusammen, flickt Löcher, stoppt die Blutung, bis wir alle wieder heil und wir selbst sind. Wir sind verbunden durch die Magie, denken und bewegen uns, als wären wir eins. Ich hebe die Scheibe zusammen mit dem Fächer auf. Ruyi schnappt sich die Schale. Kang ergreift den Dolch.
Feuer reinigt. Ich höre die Stimme der Herrin der Weisheit in meinem Geist flüstern, und ich weiß, dass meine Gefährten sie auch hören.
Ich schlage den Fächer auf und wedele damit vor meinem Gesicht. Heißes Feuer strömt aus und springt auf den Stapel zertrümmerter Möbel über, der sofort in Flammen aufgeht.
Die Schlange fährt ruckartig herum, lässt von dem Körper ab, den sie gerade im Begriff ist zu verschlingen, und kommt auf uns zu. Ihre Augen rollen in ihren Höhlen, ihr Schwanz peitscht herum und schnellt in unsere Richtung. Ruyis Bewegung hallt in meinen eigenen Gliedern wider, und ich tue es ihr gleich. Mit einem kräftigen Sprung hechten wir zur Seite.
Das Feuer greift in Windeseile auf die Holzpaneele über, die, wie ich weiß, regelmäßig geölt werden, damit sie ihren Glanz bewahren. Der ganze Raum ist wie eine Zunderbüchse und steht Sekunden später in Flammen. Die Hauptgebäude des Palastes sind nicht auf einem Steinfundament, sondern auf einem aus Holz errichtet, um die baumeisterlichen Feinheiten der architektonischen Wunderwerke Dàxīs zu demonstrieren. Hinzu kommt die tragende Holzrahmenkonstruktion, für die die mächtigsten Stämme aus den tiefsten Wäldern Yúns geborgen wurden. Das alles führt dazu, das das Feuer sich rasend schnell ausbreitet; die Flammen lodern an den dicken Holzbalken hoch, suchen gierig nach immer mehr Nahrung.
Die Schlange stürzt sich blitzschnell zwischen uns, während die Soldaten uns den Fluchtweg abschneiden. Rücken an Rücken weichen Ruyi und ich von Kang ab, als er, den Dolch in der Hand, zum Angriff gegen die Schattensoldaten ausholt. Im Handumdrehen füllt der Raum sich mit blakendem Rauch. Ruyi duckt sich unter dem peitschenden Schwanz der Schlange hindurch, macht einen Satz nach vorn und rammt ihr die Schale seitlich in den Leib. Sofort bersten grüne Ringe an der Stelle heraus und bilden die Symbole von Bìxì. Die Ringe winden sich eng um die Schlange, dann wandern sie schnell an ihr empor und schnüren sie abschnittweise ab, wobei sie ein seltsames Glimmen umgibt.
»Was ist das?« Ihr Körper beginnt wild zu zucken, ihre Zunge schnellt vor und zurück.
Ruyi hebt ein Schwert auf, das ihr vor die Füße gefallen ist, und hämmert damit auf die goldenen Schuppen ein, was ein markerschütterndes Klirren erzeugt. Dann erwischt sie mit der Spitze den Rand einer schwarzen Schuppe, findet eine weiche Stelle und schlitzt sie auf. Schwarzes Blut spritzt hervor, aber wo immer es auf Haut trifft, brennt es wie Säure. Ruyi stößt ein Zischen hervor, ihre Arme sind mit rauchenden Flecken übersät. Sie beißt die Zähne zusammen und rückt ihr Schwert zurecht, stößt noch einmal vor und reißt eine weitere Schuppe ab.
Sie wird wieder in Fesseln liegen. Diesmal ist es ein Chor von Stimmen.
Die Schlange brüllt, wendet sich ab und holt mit ihrer Schwanzspitze gegen uns aus. Doch Bìxìs grüne Ringe zurren sich fest um ihren Leib, ziehen ihn unerbittlich zusammen. Unbeirrt setzt Ruyi ihr blutiges Werk fort und reißt Schuppe um Schuppe ab, indem sie den Dao als Stemmeisen benutzt. Das Blut sprudelt nur so, aber diesmal weiß Ruyi, wie es spritzen wird, und springt rechtzeitig zur Seite. Zischend klatscht es auf den Boden, wo es seltsame Muster ins Holz frisst – sie sehen beinahe aus wie Blumen.
Hinter mir gellen Schreie auf. Bìxì ist die Gottheit der Wahrheit – unter ihrem Einfluss hat das Trugbild der Schlange keinen Bestand mehr. Die Schattensoldaten schreien und halten ihre Köpfe umklammert, während Gonguys Wirkmacht auf ihren Geist langsam abebbt. Sie beginnen sich zu erinnern, wer sie sind.
Los! , rufe ich Kang zu.
Jetzt, da die Schattensoldaten von ihm abgelassen haben, hält ihn nichts mehr auf. Die Tigerkralle fest in der Hand schlitzt er den Bauch der Schlange mit einem einzigen Hieb von unten bis oben auf.
Eine Flut schwarzen Blutes ergießt sich, während sich der Schlangenkörper in Krämpfen windet. Die grünen Ringe schrumpfen langsam zusammen, und ein Mann kriecht hustend und würgend aus dem Kadaver heraus. Um Hals, Arme und Beine liegen Fesseln aus grünen Ketten; er starrt uns hasserfüllt an, auf allen vieren zwar, aber weit davon entfernt, sich zu unterwerfen. Er ist immer noch als der General zu erkennen, immer noch als Kangs Vater. Er schenkt uns ein bitteres, breitgezerrtes Lächeln.
»Glaubt ihr etwa, ihr könntet mich mit diesen läppischen Spielzeugen bezwingen, mit diesem Abklatsch der Göttermacht? Ich habe sie alle bekämpft, und ein Teil von mir ist immer noch da.« Er wirft den Kopf zurück und lacht. »Mein physischer Leib ist geschwächt, aber ich bin geheilt. Ich kann nicht verhungern, ich kann nicht verdursten. Ich kann warten. Warten, bis einer von euch törichten Sterblichen mich wieder befreien will, bis jemand einen Weg findet, um zu vollenden, was ich begonnen habe.«
Die Reliquie von Shénnóng schimmert auf dem Boden. Sie steigt in die Luft auf, verwandelt sich von einer Scheibe in eine Schuppe, nimmt wieder ihre wahre Gestalt an und setzt sich in die Mitte von Gongyus Kopf. Zappelnd versucht der Mann, sich wegzuwinden, aber die grünen Ketten halten ihn in Schach. Die Schuppe schrumpft zusammen, bis sie in seine Stirn einsinkt. Und ihn brandmarkt.
Ruyi und Kang ziehen ihn aus dem triefenden Leib der Bestie heraus und zwingen ihn auf die Füße. Der Rest der prunkvollen Halle um uns herum brennt lichterloh wie ein Scheiterhaufen. Da ist Kleiner Wu an der Tür, der die Leute hinausscheucht. Neben ihm stehen A’bing sowie weitere Küchenbedienstete. Sie sehen mich erschrocken und entgeistert an, als ich Ruyi und Kang die Stufen hinunterfolge.
»Helft ihnen!«, rufe ich Kleiner Wu und A’bing zu. »Da drinnen sind noch mehr Menschen!« Sie nicken, kehren zu der offenen Tür des brennenden Gebäudes zurück und rufen nach denen, die noch im Inneren sind. Der General fällt auf die Knie nieder, und sein Sohn sammelt ihn auf.
Dicke, schwere Rauchwolken hängen über dem Hof der Vielversprechenden Zukunft. Über ganz Jia.