Prolog
Der schwarze 2003er Dodge Durango war schon etwas in die Jahre gekommen, doch der 5,9 Liter V8 Magnum schnurrte noch immer in einem satten Bass. Paddy saß hinter dem Steuer und rieb sich über seine müden Augen. Sie fuhren auf die Interstate 10, die sich wie eine hässliche Narbe durch die weitläufigen Waldflächen des Bayou-Staates Louisiana zog. Er war davon ausgegangen, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit ihr Ziel, den alten Trailer am Ufer des Lake Charles, erreichen würden, doch das Wetter hatte sich rapide verschlechtert und ihnen – der ganzen gottverdammten Familie O’Reilly – einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.
Sie waren in den frühen Morgenstunden mit dem ersten Licht der Sonne in Mobile, Alabama aufgebrochen. Seither fuhren sie Richtung Westen, weil in letzter Zeit einiges aus dem Ruder lief. Auf dem Beifahrersitz saß Paddys Frau Charlotte und schlief. Ihr Kopf ruhte an der Seitenscheibe, das blonde Haar hing ihr wirr ins Gesicht. Paddy hätte sie am liebsten zu sich herangezogen, um sie zu küssen, um ihr zu versichern, dass sie es schaffen konnten.
Hinten auf der Rückbank schlief Andy, ihr achtjähriger Sohn, der seine irische Abstammung ebenso wenig verleugnen konnte wie sein Vater. Neben ihm saß Sue, die nicht nur ihrer Mutter zum Verwechseln ähnlich sah, sondern zu allem Überfluss den gleichen unnachgiebigen Dickschädel hatte. In letzter Zeit machte sie auf Punk, trug zerrissene Jeans, die in offenen Armeestiefeln steckten, und eine schwarze Lederjacke; zu allem Überfluss rasierte sie sich den Kopf an den Seiten und bleichte sich die langen Haare. Als sie den Blick ihres Vaters im Rückspiegel bemerkte, streckte sie ihm die Zunge heraus und schnitt eine genervte Grimasse. Sie hatte vor einer Woche ihren fünfzehnten Geburtstag gefeiert, doch die Probleme hatten vor mehr als einem Jahr angefangen. Paddy und Charlotte schafften es kaum noch, Einfluss auf ihre Tochter zu nehmen. Sue wurde wegen der Einmischung ihrer Eltern in ihr Leben aggressiv und hing mit den falschen Leuten ab. Erst letzte Woche hatten sie die Cops nach Hause gebracht, weil man sie beim Klauen erwischt hatte.
Sie hatten alles versucht, um zu ihr durchzukommen, angefangen mit gutem Zureden bis hin zur Androhung von Schlägen, doch egal, was sie taten, das Mädchen lachte sie einfach nur aus. Eine Therapie kam nicht in Frage, denn dafür hatten sie kein Geld. Ihre letzte Hoffnung war der alte Trailer am Lake Charles, den Paddy von seinem Vater geerbt hatte. Dort wollten sie die Sommerferien verbringen, ein verzweifelter Versuch, ihre Familie zu kitten, denn unter Sues Eskapaden litt zusehends die Beziehung zu Charlotte.
Aus dem Nichts waren schwarze Wolken aufgezogen und es hatte angefangen zu regnen, was die Stimmung im Wagen noch weiter drückte. Das Wetter in Louisiana war eine unstete Sache, vor allem während der schwülen Sommermonate. Tagsüber brannte die Sonne vom Himmel und verdampfte das Wasser in den Bayous, es bildeten sich Wolken, die sich wiederum in heftigen Gewittern entluden – ein unendlicher Zyklus.
Paddy fuhr sich mit den Fingern durch die kurzen rotblonden Haare. Seine Arme waren mit typisch irischen Symbolen tätowiert: der Harfe, dem Shamrock und natürlich auch dem Leprechaun mit weit aufgerissenem Mund und spitzen, bedrohlich wirkenden Zähnen. Früher war er Mitglied einer irischen Gang gewesen, alles harte Jungs, die nicht zögerten, ihren Willen mit den Fäusten durchzusetzen. Sein Weg auf der schiefen Bahn schien vorgezeichnet, doch dann lernte er während eines Ausflugs in die Glades Charlotte kennen. Die Liebe seines Lebens änderte alles. Kaum dass sie sich kannten, zogen sie zusammen. Drei Monate später wurde geheiratet, kurz darauf kamen die Kinder. So entschlossen, wie er sich einst gegen familiäre Bande gewehrt hatte, so schnell und unwiderruflich ließ er sich nun darauf ein – und das Gangleben hinter sich. Er nahm einen festen Job als Lagerarbeiter an, denn er musste das erste Mal in seinem Leben Verantwortung für einen anderen Menschen übernehmen. Und er tat es gerne, denn Charlotte und die Kinder gaben ihm den Halt, den er dringend brauchte. Die Familie war für ihn zu etwas Heiligem geworden, für das er ohne zu zögern sterben würde.
Charlotte regte sich, richtete sich in ihrem Sitz auf und gähnte. »Mein Gott, Paddy! … Wieso ist es verdammt noch mal so dunkel?«
»Fluch nicht vor den Kindern, Charly, es ist nur der Regen. Und weil’s Nacht ist.« Paddy blinzelte, weil er von einem Wagen hinter ihnen geblendet wurde. Wie zwei glühende Augen strahlten ihn die Scheinwerfer durch den Rückspiegel an. »Dieser verdammte Idiot …«
»Wie war das mit dem Fluchen?«, feixte Charlotte und boxte ihm spielerisch in die Seite.
»Sorry Baby …«
Er griff nach oben und drehte den Spiegel, damit er nicht mehr geblendet wurde. »Aber dieser Kerl fährt uns gleich in den Kofferraum. Hat der keine Augen im Kopf?«
Charlotte drehte sich im Sitz um und sah nach hinten. Der Wagen war jetzt dicht hinter ihnen. Wegen des grellen Fernlichts musste sie die Augen zusammenkneifen. »Muss ein ziemlich schwerer Wagen sein.«
Ihr Dodge Durango war ebenfalls kein Kleinkaliber, allerdings war er schwerfällig und langsam. Andy wachte auf und sah sie aus müden Augen an. Charlotte lächelte ihn an. »Alles in Ordnung, kleiner Engel … Schlaf weiter, es ist nicht mehr weit.«
Als sie wieder an ihm vorbei durch die Heckscheibe sah, war der fremde Wagen auf bedrängende Weise näher gekommen. »Paddy, das ist nicht normal, der spinnt doch!«
Paddy hielt mit zusammengekniffenen Augen das Lenkrad fest. Vor ihnen erstreckte sich die Interstate kerzengerade durch ein Niemandsland aus dicht stehenden Bäumen, zwischen denen Wasser im Scheinwerferlicht glitzerte. Das Gummi der Scheibenwischer schrammte nervtötend im schier aussichtslosen Kampf gegen den Regen über die Frontscheibe. Jenseits des Scheinwerferlichts versank alles in undurchdringlicher Dunkelheit. Niemand sonst war hier unterwegs. Niemand außer ihnen und dem Arschloch mit den aufgeblendeten Scheinwerfern.
Er sah, wie der Wagen des Arschlochs zum Überholen ausscherte, sich aber wieder zurückfallen ließ.
»Hast recht, Baby, das ist nicht in Ordnung. Womöglich ist er betrunken. Sieht dieser Arsch denn nicht, dass wir Kinder dabei haben?«
Charlotte sah besorgt nach hinten. »Sue, zieh deinen Gurt fester!«
»Leck mich«, lautete die schnippische Antwort ihrer Tochter.
»Sue … Nicht in diesem Ton! Zieh deinen verdammten Sicherheitsgurt fest, sonst …« Das war einer dieser typischen Momente. Ein falsches Wort und es würde eskalieren.
»Sonst was? … was willst du dann tun, Ma?«
Sue sah aus dem Fenster und würdigte ihre Mutter keines weiteren Blickes.
Charlotte seufzte schwer und sah Paddy hilfesuchend an.
»Mein Gott, dann beug dich nach hinten und schnall das Kind selber fest«, fuhr Paddy seine Frau schärfer an als gewollt. Er sah zwischen der Straße vor sich und dem Seitenspiegel hin und her. Der Wagen scherte erneut aus, kam näher. »Dieser Schwachkopf dort hinten hat wirklich nen Knall!«
Charlotte versuchte, zu Sue zu gelangen, aber ihr eigener Gurt hinderte sie daran. Sie schnallte sich ab und kletterte zwischen den Sitzen nach hinten, um ihrer schmollenden Tochter den Gurt festzuziehen. »Ich hab langsam die Nase voll von deinem Rumgezicke … dieser ganze Teenykram, wirst schon sehen, das nimmt ’n bitteres Ende«, zischte sie Sue ins Ohr.
»Laber mich nicht voll«, war die einzige Antwort.
Paddys Augen weiteten sich vor Entsetzen: »Charly, sieh zu, dass du nach vorne kommst, der Typ hat was vor, ich glaube er …«
Der Aufprall erfolgte mit der Wucht eines überzüchteten und verdammt wütenden Bullen. Die Kinder schrien. Paddy hatte zwar damit gerechnet, wurde aber dennoch gegen das Lenkrad geschleudert. Er sah, wie Charlotte erst nach hinten und dann nach vorne flog, sich den Kopf am Armaturenbrett anschlug und in den Fußraum rutschte. Der schwere Dodge schlingerte und kam auf die Gegenfahrbahn, doch Paddy bekam ihn wieder unter Kontrolle.
»Mein Gott, Charly! … Dieser verdammte Bastard, ich werde …«
»Daddy!«, wimmerte Andy ängstlich.
Sue klammerte sich am Haltegriff ihrer Tür fest und starrte ihren Vater mit aufgerissenen Augen durch den Rückspiegel an. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
Paddy gab Gas, wollte Abstand gewinnen, doch der Dodge beschleunigte nur träge. Der Motor ihres Verfolgers röhrte auf und katapultierte den Wagen erneut auf sie zu. Der Aufprall erfolgte genau in dem Moment, als sich Charlotte auf den Beifahrersitz zog und versuchte, sich anzuschnallen.
Ihr Angreifer scherte kurz vor dem eigentlichen Zusammenstoß seitlich aus und erwischte sie an der linken hinteren Fahrzeugkante. Dieses Mal hatte Paddy keine Chance, die Kontrolle zu behalten. Der Dodge drehte sich mit kreischenden Reifen. Hilflos musste Paddy mit ansehen, wie seine Frau mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe schlug und einen roten Fleck hinterließ, bevor sein eigener Körper den Fliehkräften nachgab. Paddy biss die Zähne zusammen und spürte, wie sich ein Stück vom Schneidezahn löste. Die Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit und wirbelten wie suchende Finger zwischen den Bäumen hindurch. Das fremde Auto rammte den schleudernden Dogde und beschleunigte so die Drehung. Die immense Masse war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Wo zuvor Asphalt war, knirschte nun Schotter unter den breiten Reifen. Der Wagen raste mit der Front voran einen Abhang hinab, der auf nassem Gras direkt in den Sumpfwald führte.
Paddy schrie auf und versuchte, seine Frau festzuhalten. Dann krachte der Dodge gegen einen der Bäume. Metall verbog sich mit lautem Kreischen, Glas splitterte und der Airbag drosch ihm in die linke Gesichtshälfte, bevor ihn Schwärze umfing.
Regen brachte Paddy wieder zur Besinnung, wusch ihm Tropfen für Tropfen die Benommenheit aus dem Gesicht. Die Frontscheibe gab es nicht mehr und von Charlotte fehlte jede Spur. Paddy kämpfte sich aus dem weißen Stoff des Airbags und sah nach den Kindern. Seine Nackenmuskeln schmerzten, als er den Kopf drehte. Andy weinte und streckte die Hände nach ihm aus. Sue hatte sich abgeschnallt und war im Begriff, auszusteigen. Paddy musste husten und der helle Stoff färbte sich rot. Benommen löste er seinen Gurt, öffnete die Tür und kippte nach draußen ins nasse Gras.
Heißer Dampf zischte aus einem Loch im Kühler. Ein Frontscheinwerfer war intakt und leuchtete in den Wald, erhellte einen Baum. Dort lag Charlotte. Sie rührte sich nicht, ihr Körper erschien ihm auf unnatürliche Weise verdreht. Paddys Mund öffnete sich und schrie ihren Namen, doch er konnte seine Stimme nicht hören.
Endlich zog er sich nach oben, von einem unbändigen Willen getrieben, Charlotte und den Kindern beizustehen. Blut lief ihm in die Augen, ein Schnitt quer über den Unterarm jagte schmerzhafte Schauer durch seinen Körper. Er sah, wie Sue zu ihrer Mutter lief, während Andy im Dodge auf der Rückbank saß und sich die Seele aus dem Leib weinte. Oben auf der Interstate stand ein bulliger Truck. Einer, wie ihn die Army verwendete, wenn schwere Lasten zu bewegen waren, mit zwei Hinterachsen anstatt nur einer. Im Scheinwerferlicht stand ein Mann mit einem Cowboyhut auf dem Kopf. Seine dunkle, vom Regen umwirbelte Gestalt wirkte unnatürlich.
»Dafür wirst du bezahlen«, krächzte Paddy. Er ging zur hinteren Tür zu Andy, der ihn mit großen, verweinten Augen ansah. Manchmal wünschte er sich, dass Andy den Mumm von Sue hätte und Sue sich mehr wie ein Mädchen verhalten würde, aber so war das nun mal. Immerhin schien Andy nicht verletzt zu sein. Er gab ihm zu verstehen, dass er bleiben solle, wo er war, denn die Rückbank war im Moment der sicherste Ort. Ich muss Charly helfen, hämmerte es in seinem Kopf, sie ist sicher nur blöd gefallen, nichts weiter.
Nichts, was ein guter Arzt nicht richten könnte.
Als Paddy wieder nach oben zur Straße sah, stand der Fremde nicht mehr im Scheinwerferlicht, sondern hantierte an der Plane herum, welche die abdeckte Ladefläche. Dann zog er einen langen Gegenstand darunter hervor.
Dieser Bastard hat ein Gewehr!
Es trieb ihn so sehr zu seiner verletzten Frau, dass es in seiner Brust weh tat. Doch das kranke Arschloch oben auf der Straße hatte ein verdammtes Gewehr. Er würde sie alle umbringen, wenn Paddy ihn nicht daran hinderte.
Er erinnerte sich an den alten .38 Revolver, den er von seinem Bruder, Gott sei seiner armen Seele gnädig, geerbt hatte. Aus einer Gewohnheit heraus, die er sich in seiner langjährigen Gangmitgliedschaft angeeignet hatte, hatte er ihn nach kurzem Zögern vor ihrer Abreise in die Kühlbox getan, die hinten im Wagen stand. Die Waffe war nicht registriert und hatte keine erkennbare Nummer. Die Cops würden sich nicht die Hände schmutzig machen und unter dem Eis der Kühlbox nachsehen, sollten sie in eine Kontrolle geraten. Paddy war wegen einiger kleinerer Delikte aus seiner Gangzeit vorbestraft, er musste also aufpassen. Ein Fehler, und die Cops würden ihn in den Knast stecken. Dennoch lag die Waffe in der Box, sein Instinkt hatte ihn auch dieses Mal nicht im Stich gelassen. Der Griff zum Revolver schien die einzige Möglichkeit zu sein, um diesen Wahnsinnigen zu stoppen. Paddy musste sich beeilen, denn der Typ machte sich daran, die Böschung hinab zu steigen, das Gewehr lässig über die breiten Schultern gelegt.
Paddy tastete sich auf dem rutschigen Untergrund nach hinten zum Heck des wuchtigen Wagens und öffnete den Kofferraum. Charlottes geblümte Reisetasche fiel ihm entgegen, gefolgt von Andys Spielzeugbox und, natürlich, der großen Kühlbox. Alles ergoss sich mit einem schmatzenden Geräusch auf den vom Wasser satten Boden. Er ließ sich auf die Knie fallen und wühlte in den Sachen herum. Paddy wusste, dass er sich beeilen musste, um schneller zu sein als der Bastard hinter ihm. Regenwasser lief ihm in die Augen, durchnässte sein Shirt, die Hosen, drang in die Schuhe ein, doch das war ihm gleich. Endlich spürte er den kalten Griff der Waffe. Seine Finger umschlossen ihn so fest, dass die Knöchel knackten. Er war ein Mann von der Straße, der nie einem Kampf aus dem Weg gegangen war, und er wusste genau, dass es in solchen Situationen nicht darauf ankam, cool zu sein. Es kam darauf an, dass man schnell handelte, ohne nachdenken zu müssen. Er würde mit dem Kerl kein Wort wechseln, sondern sich nur auf dem Boden sitzend umdrehen und abdrücken, so lange, bis der Schweinehund selbst am Boden lag. Erst, wenn dieses Schwein ausgeschaltet war, war seine Familie in Sicherheit und er konnte sich um sie kümmern.
Die kalte Mündung an seinem Hinterkopf machte ihm überdeutlich klar, dass er zu langsam gewesen war. Paddy schob die kurzläufige Waffe unter Andys Spielzeug und hob die Hände.
»Mister … das müssen Sie nicht tun … hör 'n Sie? …«
Gib mir nur eine Chance, eine winzige, klitzekleine Chance und ich leg dich um, du dreckiger Bastard!
Der Kerl sagte nichts, doch die Mündung der Waffe drückte fester gegen Paddys Kopf. Er wusste nur zu gut, was das zu bedeuten hatte.
»Ich flehe Sie an, lassen Sie wenigstens die Kinder gehen … Bitte! … Wenigstens die Kinder! Die haben Ihnen doch nichts …«
Das Mündungsfeuer brannte sich in Paddys Kopf und jagte ihm das Projektil mit einer solchen Wucht durch den Schädel, das sein ganzer Kopf explodierte. Ein Gemisch aus Knochensplittern, Haaren, Blut und Gehirnmasse verteilte sich auf dem Reisegepäck der Familie, fügte weitere Farbspiele hinzu, die in feuchten Bahnen in das Gewebe eindrangen.
Paddys Körper kippte nach vorn und rutschte am Dodge nach unten, um mit dem Gesicht voran ins nasse Gras zu fallen. Aus dem faustgroßen Loch in seinem Hinterkopf stieg Rauch auf, ein Geruch aus verbranntem Fleisch und versengten Haaren vermischte sich mit dem von regengetränktem Laub und frischen Gräsern. Ohne Notiz von dem zuckenden Körper zu nehmen, wandte sich der Fremde um, fing an, ein Lied zu pfeifen, schulterte sein Gewehr und kletterte wieder die Böschung hinauf. Er schien überhaupt kein Interesse an den Kindern oder der sterbenden Frau zu haben.
Andy sah alles über den Rückspiegel mit an. Wie sich sein Vater auf den Boden kniete. Den Mann mit dem Gewehr, der seinen Vater auslöschte. Der Donner des Schusses hallte mit einem grellen Pfeifen in Andys Kopf. In diesem Augenblick hörte er auf zu weinen. Er starrte wie hypnotisiert auf den Spiegel und hoffte darauf, dass sein Vater aufstehen würde, wie er es immer getan hatte. Doch das Einzige, was er im Spiegel sah, war dieser schreckliche Mann und wie er die Böschung hinauf stapfte, als wäre nichts gewesen.
Am Waldrand, im Scheinwerferlicht …
»Mum … bitte, mach keinen Scheiß … Mam!«
Sue kniete neben ihrer Mutter am Fuß des Baumes und versuchte, sie in eine sitzende Position zu bringen. Charlottes Haare waren voller Glassplitter und nass von Blut und Regen. Es lief ihr vom Scheitel übers Gesicht und leuchtete im künstlichen Licht des Scheinwerfers in einem grellen, unerträglichen Rot.
Charlotte hustete und spuckte dabei Blut. Sie öffnete die Augen, die unstet umherirrten.
»Was …«
»Dad!«
Sue blickte Hilfe suchend zurück zum Wagen und rief Paddys Namen. Geblendet durch das Licht, nahm sie ihren Vater nur als verschwommenen Schatten wahr. Er schien um den Wagen herumzulaufen, als wüsste er nicht, wo er hingehen sollte. Oben auf der Straße stand der andere Wagen und Sue bekam Angst. Von einer Sekunde zur nächsten war aus dem rebellierenden, starken Mädchen wieder ein Kind geworden, welches der Situation nicht gewachsen war.
»Mein Kopf … da ist was mit meinem Kopf nicht in Ordnung …«
Charlotte wimmerte, als sie ihren geschundenen Körper am Baumstamm nach oben schob. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die raue Rinde und suchte die Hand ihrer Tochter.
»Sue … bitte … hol … hol Paddy, er … wird wissen, was zu tun ist.«
Der Regen wusch ihr das Blut vom Gesicht. Das Blut und die Tränen, alles wurde eins und löste sich im Wasser auf. Charlotte wusste, dass ihr Paddy nicht mehr helfen konnte. Sie wollte nur noch einmal seine raue, aber dennoch sanfte Hand spüren, in seine schönen, traurigen Augen sehen, ihn ein letztes Mal riechen.
Als sie durch die Windschutzscheibe geschleudert wurde, war sie im hohen Bogen durch die Luft geflogen und mit dem Rücken gegen diesen verdammten Baum gekracht. Dabei war etwas Wichtiges in ihrem Körper zerbrochen und jetzt spürte sie ihre Beine nicht mehr. Ein Bein war gebrochen. Sie konnte den offenen Bruch sehen, aber sie fühlte es nicht, kein Kribbeln und keinen Schmerz. Dann die Sache mit ihrem Kopf. Mit ihm hatte sie das Glas durchbrochen. Es hatte sich angefühlt, als hätte ihr jemand mit dem Vorschlaghammer auf den Kopf geschlagen. Charlotte war beim besten Willen keine Ärztin, aber ihr war klar, dass die Wucht des Aufpralls ihren Schädel zertrümmert hatte. Sie konnte es spüren, an und in ihrem Kopf. Sie fühlte, wie sich die Knochensplitter in ihr Hirn bohrten und sich jetzt darin bewegten. Sie spürte, wie ihr die Flüssigkeit aus dem Kopf lief. Charlotte wusste, dass sie heute Nacht sterben würde, am Rand der verfluchten Interstate 10, bei strömenden Regen im verdammten Louisiana, mitten im Nirgendwo.
Ihre Sichtweise veränderte sich. Wenn man dalag und auf den Tod wartete, wurde alles rein und absolut klar. Man nahm Dinge wahr, die man zuvor weder gehört noch gesehen hätte. Womöglich lag das daran, dass es die letzten Momente eines Lebens waren, welche die Seele, die es offensichtlich doch gab, in sich aufnahm, um sie mit hinüberzunehmen, in dieses ferne, kalte Nichts.
Hinter ihr, in der Dunkelheit des Waldes, lauerte etwas Gefährlicheres als der Psycho aus dem Truck. Es wurde von einer dunklen, bedrohlichen Aura umgeben, welche die Finsternis der Nacht um ein Vielfaches übertraf, womöglich sogar in sich einsog. Ein schwarzes Loch, das alles Lebende verschlang. Es näherte sich, langsam, lauernd, auf den geeigneten Moment wartend.
Charlotte packte die Hand ihrer Tochter, die verzweifelt versuchte, ihr Bein wieder in Ordnung zu bringen.
»Lauf! …«
»Was … ich …« Sue verstand nicht, was ihre Mutter genau meinte. »Dein Bein … es ist … ich hole Dad …«
»Dazu bleibt keine Zeit. Lauf weg … so schnell und so weit, wie du nur kannst … und … bleib nicht stehen, egal was geschieht. Lauf, Sue, lauf!«
Ihre Finger krallten sich schmerzhaft in den Arm ihrer Tochter. Sie musste sie dazu bringen, davonzulaufen, egal, was aus dem Rest der Familie wurde.
Sue überkam eine bis dahin unbekannte Angst, die ihren Körper erzittern ließ. Das Flehen in den Augen ihrer Mutter tat ihr in der Seele weh. Wenn Charlotte sagte, dass sie laufen sollte, musste es einen triftigen Grund dafür geben. Einen, der weit über den Unfall und diesen Bastard, der ihn verursacht hatte, hinausging. Sie wünschte sich, dass Paddy endlich kommen würde, um das alles zu regeln, so wie ihr Vater das sonst auch immer tat. Doch er kam nicht. Der Ire war ein für alle Mal am Boden.
»Mum …«, flüsterte Sue an Charlottes Ohr, »Ich … ich hab dich lieb!«
Sie konnte nicht gehen. Nicht so.
Charlottes Lippen bebten, aus ihren Mundwinkeln lief Blut und vermischte sich mit dem Regens. Er floss aus ihr heraus, wie ihr verdammtes, armseliges Leben.
»Sue … mach einmal das, was ich dir sage … du musst überleben!«
Die Bedrohung kam näher, unaufhaltsam und absolut tödlich, während sich ihre Tochter an etwas klammerte, das bald nicht mehr existieren würde: die Familie Paddy und Charlotte O’Reilly. Sue schien es ebenfalls zu spüren, denn das Mädchen sah immer wieder nervös in den Wald.
Der Bann löste sich mit dem Donnern der Schrotflinte, es befreite sie aus ihrer Starre. Das Mündungsfeuer erschien ihr als greller Blitz.
»Daddy!«
Das Mädchen wollte nach oben schnellen, doch Charlotte packte ihre Hand mit unerwarteter Kraft.
»Lauf, Sue, lauf um dein Leben!«, flehte sie ihre Tochter an.
Sue wand sich aus dem Griff ihrer Mutter und stand auf. Du darfst jetzt nicht die Nerven verlieren … denk nach, verdammt, denk nach! Du musst hier weg!
Nervös sah sie zu dem Durango, suchte ihren Vater und fand ihn nicht, da er von dem wuchtigen Heck verdeckt wurde. Das Unbekannte im Wald kam näher.
»Hallo? … Wenn dort jemand ist, wir brauchen Hilfe!«
Das Gewitter tobte derweil mit unverminderter Kraft. Blitze zuckten in den Wolken, gefolgt von einem tiefen Grollen, das ihr durch Mark und Bein ging.
Im Wald brachen Äste. Etwas bahnte sich einen Weg durch das regennasse Unterholz. Sue wich einen Schritt zurück. Die Furcht kroch ihr hinterher, erfüllte sie, hüllte sie ein. Sie drang von dem fremden Fahrzeug oben auf der Straße auf sie ein. Von der am Boden liegenden Mutter, die ihr mit ihren Worten Angst machte. Aus dem Sumpfwald, in dem sich das Unbekannte auf sie zu bewegte. Letztlich vom Dodge Durango, aus dem sie die wimmernden Schreie ihres verdammten kleinen Bruders hörte, den sie bis aufs Blut hasste, weil er ihr die Aufmerksamkeit ihrer Eltern gestohlen hatte, und dennoch wollte sie nicht, dass ihm etwas geschah. Wenn sie Luft holte, atmete sie Furcht ein.
Der Regen nahm sintflutartige Ausmaße an, doch Sue hatte andere Sorgen. Ein ferner Donner rollte übers Land, gefolgt von einem grellen Blitz, der die gespenstische Szenerie in sein kaltes Licht tauchte. Sues Herz setzte für einen Moment aus, weil sich der Umriss eines großen und schweren Mannes zwischen den Bäumen abzeichnete. Er stand bewegungslos da, wie die fleischgewordene Bedrohung in einem dieser Filme, die sie zusammen mit ihren Freunden sah, obwohl sie zu jung dafür war.
Dann versank alles wieder in undurchdringlicher Dunkelheit und weckte Zweifel. Sie konnte sich geirrt haben, vielleicht war es gar keine reale Gestalt, sondern nur ein Trugbild ihrer Sinne. Oder sie hatte sich nicht getäuscht, und der Mann näherte sich ihr jetzt, schlich auf sie zu, streckte seine gierigen Hände nach ihr aus, um sie zu packen. Das alles machte ihr eine Scheißangst.
Sue musste eine Entscheidung treffen. Vor ihr lag ihre Mutter, die zwar schlank, aber dennoch zu schwer war, als dass sie sie tragen und von hier wegschaffen konnte. Selbst wenn, wusste sie nicht, wohin sie ihre Mutter schleppen sollte. Der Dodge schied aus, denn die Frontscheibe gab es nicht mehr, die Heckklappe stand sperrangelweit offen. Und sie hatte den Schuss gehört, der dort gefallen war. Dort gab es keinen Schutz.
Lauf um dein Leben!
In Sues Kopf ertönten erneut die Worte ihrer Mutter, die sie mit flehendem Blick ansah.
Lauf so schnell und so weit du nur kannst!
Den entscheidenden Impuls lieferte das Brüllen des Unbekannten, der sich tatsächlich genähert hatte, und das sie an einen Wahnsinnigen erinnerte. Sue konnte ihn nicht sehen, aber sie wusste, dass ihn nur wenige Meter von ihr trennten. Charlotte nickte schwach, lächelte, als wollte sie ihr sagen, dass es okay war, wenn sie ging. Sue warf sich herum und rannte. Sie lief am Dodge vorbei und sah ihren Vater, wie er hinter dem Heck des Wagens mit dem Gesicht nach unten im nassen Gras lag, die Beine weit von sich gestreckt. Sie wollte stehen bleiben und ihm helfen, sah das faustgroße Loch in seinem Kopf und wusste, dass es dafür zu spät war.
Ein animalischer Schrei ließ sie erschrocken aufsehen. Es war der Wahnsinnige. Er sprang direkt neben ihrer Mutter aus der Finsternis des Sumpfwaldes, riss beide Arme nach oben und schrie erneut. Eine lange, gezackte Klinge glänzte im Licht des Scheinwerfers. Bis auf eine dunkle Hose schien er nackt zu sein. Was sie von seinem muskulösen Körper sehen konnte, war mit Dreck beschmiert. Seine Schreie überschlugen sich, wurden dunkler, bösartiger.
Von Todesangst getrieben, kletterte Sue die Böschung hinauf. Das Gras war nass und sie glitt mehrmals aus, dennoch erreichte sie die Straße, genau hinter diesem verfluchten Truck. Der Regen trommelte laut auf das Blechdach der Fahrerkabine. Sie konnte den Mann durch die Heckscheibe sehen. Sein Cowboyhut bewegte sich im Takt der Musik, die aus dem Wageninneren klang. Zigarettenrauch kräuselte sich um seinen Kopf. Der Motor des Trucks blubberte in einem satten Bass. Der Bastard saß tatsächlich in seinem Wagen, rauchte, hörte diese beschissene Countrymusik und sah dabei zu, wie ihre Familie von einem Wahnsinnigen abgeschlachtet wurde?
Der Kerl kauerte über ihrer Mutter, den Kopf auf ihren Körper herabgesenkt. Erst begriff sie nicht, was er tat, doch als er sich für einen Moment zur Seite drehte, um nach ihr zu sehen, offenbarte sich das Grauen in einem blutigen Rot. Der geöffnete Körper ihrer Mutter lag wie ein aufgeschlagenes Buch unter ihm. Sue sah mit an, wie der Wahnsinnige von ihrer Mutter fraß, wie Charlottes Kopf bei jedem Biss hin und her schaukelte, als säße er auf einem viel zu lockeren Gelenk. In Sue ging etwas kaputt, für immer. Es zerbrach, wie ihre Familie in dieser Nacht zerbrochen war.
Die Schreie ihres Bruders holten sie zurück. Sue blinzelte und wischte sich den Regen, vielleicht auch Tränen, aus den Augen. Sie machte einen zögerlichen Schritt auf den Durango zu. Sue hatte ihren Bruder nie gemocht, doch er war das Letzte, was von ihrer Familie geblieben war. Als sie den dritten Schritt machte, lies der Wahnsinnige von ihrer Mutter ab, drehte sich zu ihr um und fixierte sie mit seinen zusammengekniffenen, bösen Augen. Sue erstarrte. Sie wagte es nicht einmal mehr, zu atmen. Dann setzte er sich in Bewegung, langsam und selbstsicher trottete er auf sie zu, in einem leichten, bequemen Lauf. Er wusste, dass sie ihm nicht entkommen konnte.
Sue! Lauf um dein Leben, Sue … Lauf so schnell und so weit, wie du nur kannst!
Ihr Weg zu Andy war wesentlich kürzer als die Distanz zwischen dem Wahnsinnigen und ihrem Bruder.
»Du bekommst mich nicht, du verdammtes Scheusal«, brüllte sie ihm durch den tosenden Regen voller wut entgegen. Sie warf sich herum und fing an zu laufen, so schnell wie noch nie in ihrem kurzen Leben. An Andy durfte sie nicht mehr denken, wenn sie überleben wollte. Doch seine Schreie brannten sich erbarmungslos in ihr Gedächtnis ein. Sue lief nicht die Straße entlang, sondern auf der anderen Seite die Böschung hinab und in den Wald, der sich wie eine dunkle Haut öffnete und sie in sich aufnahm. Sie spürte weder die Zweige, die ihre Haut zerschnitten, noch die Dornen, die an der Kleidung zerrten. Auch nicht das Wasser in ihren Schuhen. Wenn sie stürzte, rappelte sie sich auf und rannte weiter …