Sie wollen meine Meinung dazu hören?
»Verdammt soll der Tag sein, der mich in dieses moskitoverseuchte Drecknest geführt hat«. Angewidert musterte Mason das Insekt zwischen seinen Fingern. Als er es zerdrückte, quoll ein dicker Blutstropfen aus dessen Hinterleib. Zufrieden schnippte er es aus dem offenen Fenster seines alten Honda Civic. Er hatte den halben Tag gebraucht, um von Baton Rouge über die Interstate 10 nach Butte la Rose zu gelangen. Mitten im Atchafalaya National Wildlife Refuge gelegen, war es die einzige befestigte Straße, die in diese Wildnis aus dichten Wäldern und sumpfigen Bayous führte, in denen trübes, stinkendes Wasser stand. Jetzt parkte er vor der Polizeistation und schwitzte sein letztes Hemd nass. Die Luft war schwül und flimmerte über dem heißen Asphalt, nach den Wolken zu urteilen würde es bald einen gehörigen Regenguss geben.
Mason klappte die Sonnenblende nach unten und musterte sich im Spiegel. Seine blaugrauen Augen blickten ihm müde entgegen, die halblangen, dunklen Haare waren verwuschelt, die Wangen unrasiert – dennoch nickte er zufrieden. Mit fünfundzwanzig Jahren war er recht jung, um als Journalist ernst genommen zu werden, doch unabhängig dessen besaß er diese für den Beruf wichtige Eigenschaft, Vertrauen bei seinen Gesprächspartnern zu erwecken. Wer mit ihm sprach, sah in ihm keine Bedrohung, sondern jemanden, dem er gerne sein Herz ausschütten würde. Das lag zum Großteil an Masons Alter. Die Jugend war sein bester Trumpf. Das, und der Umstand, dass er ein ziemlich ehrgeiziger Mann war, der für seine Recherchen sogar in die Hölle gehen würde.
Das hier war sein erster, ernsthafter Job. Man hatte ihm einen großzügigen Vorschuss und zwei Wochen Zeit gegeben, eine Story abzuliefern, die es Wert war, gedruckt zu werden. Die gut genug war, um es auf die Titelseite des Wochenmagazins zu schaffen. Eine Story um einen Serienkiller, der auf der Interstate 10 ahnungslose Reisende von der Straße drängte, um sie zu verschleppen. Wer in seine Fänge geriet, verschwand auf Nimmerwiedersehen. Männer, Frauen, Kinder, der Täter macht da keinen Unterschied. Was zurückblieb, waren die verlassenen Fahrzeuge im Straßengraben. Manchmal waren die Koffer durchwühlt, und jedes Mal gab es eine Menge Blut. Leichen hatte man bisher keine gefunden, aber das viele Blut vermittelte eine eindeutige Botschaft: Hier waren Menschen gestorben, abgeschlachtet worden, weil sie zur falschen Zeit auf der falschen Straße unterwegs gewesen waren!
Das Atchafalaya National Wildlife Refuge war ein unübersichtliches Areal, das genug Nahrung für die wildesten Fantasien bot. Während von offizieller Seite nichts außer Schweigen zu erwarten war, versuchten die Nachrichtensender, sich gegenseitig mit immer verrückteren Schauermärchen zu überbieten. Es war von Menschenhandel die Rede, von zur Prostitution gezwungener Frauen und natürlich, oh Wunder, von dem berühmten Serienkiller aus dem Sumpf. Ein lokales Blatt berichtete sogar von einem Sumpfmonster, das die Leute ins Wasser zerrte, um sie dort zu verspeisen. Deswegen seien keine Leichen zu finden. Mason glaubte nicht an diesen Quatsch und genau deshalb war er in den Süden gefahren, um der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Eine Kombination aus Reporter und Detektiv, das war genau sein Ding. So könnte er sich sein Leben gut vorstellen. Er setzte sein gewinnendes Lächeln auf und klappte die Sonnenblende nach oben.
Die Opfer waren allesamt auf der Interstate 10 unterwegs gewesen; im Niemandsland zwischen Lafayette und Baton Rouge trafen sie auf den oder die Verbrecher. Das Problem daran war, das der Highway schnurgerade durch die Bayous des Wildlife Refuge führte und unzählige Wege von ihm abgingen, die in keiner Karte verzeichnet waren. Es war unmöglich, in diesem Labyrinth aus Wäldern, Kanälen, sumpfigen Flächen und Wasserläufen eine brauchbare Spur zu finden. Erschwerend kam hinzu, dass sich die örtlichen Sheriffs in lächerlicher Klischeetreue gegen eine Zusammenarbeit mit dem FBI sträubten.
Das hier war Masons Chance, groß rauszukommen. Womöglich war es die einzige, die er bekommen würde, und genau deswegen legte er sich mächtig ins Zeug. Er klapperte jeden Truck Stop und jede Tankstelle ab, sogar die schäbigen Diner entlang der Interstate; er schäkerte mit dem Personal und sprach mit den Tankwarten und Truckern. Eine Menge Geld wanderte zu kleinen Briefchen zusammengefaltet über die abgewetzten Tresen der Diner. Er war drauf und dran, zurück nach Baton Rouge zu fahren, als er die entscheidende Information erhielt. Bisher hieß es in den Nachrichten, dass es nur Durchreisende getroffen hatte, ahnungslose Leute, die von A nach B wollten. In einem Diner namens Pecan Hole erzählte ihm jedoch eine Bedienung hinter vorgehaltener Hand, dass es zwei Jäger hier aus der Gegend erwischt hatte. Das war etwa vier Wochen her. Die Männer stammten, man höre und staune, aus Butte la Rose. Und genau deswegen stand Mason nun vor der Polizeistation der Kleinstadt. Er wollte herausfinden, ob es nur ein Zufall war oder ob tatsächlich ein Serienkiller dahintersteckte.
Als er das Sheriffsoffice betrat, fing es an, zu regnen. Das Wasser platschte auf den heißen Asphalt und Dampf stieg auf. Die Feuchtigkeit machte das Atmen unerträglich und jede Bewegung mühsam. Mason beeilte sich, ins Trockene zu kommen. Über der Tür des Büros war eine altmodische Klingel angebracht, die mit ihrem schrillen Klang die junge Frau hinter dem Tresen aufschreckte.
»Hi Sir, verflixter Regen, right? Was kann ich für Sie tun?« Ihre Stimme hatte einen nörgelnd hellen Klang, der schnell nervig werden konnte, aber dennoch sexy war. Mason setzte sein bewährtes Lächeln auf, mit dem er schon auf der Highschool so manches Mädchen gewonnen hatte. »Hi … ja, tolles Wetter habt ihr hier …« Er wischte sich mit einer lässigen Bewegung das Regenwasser aus dem Gesicht und streckte ihr die Hand entgegen. «Mason Asthley, ich hab mit Sheriff Carter telefoniert, hab nen Termin … es geht um diese Überfälle auf der Interstate 10.«
Das rothaarige Mädchen lächelte ihn an, ergriff seine Hand jedoch nicht, und hob ihre schmalen Schultern. »Ist nun mal August, da isses verdammt heiß … der Gewittermonat, jeden Tag das gleiche Spiel, wenn Sie wissen, was ich meine«, erklärte sie und stand auf. »Setzen Sie sich doch, ich gehe eben zum Chief und sag, dass Sie da sind.« Mason sah ihr nach, als sie zu Carters Büro ging. Sie trug eine nette, geblümte Bluse, enge Jeans und Cowboystiefel. Ein hübsches Countrygirl, das durchaus seinen Reiz hatte.
Mason nahm auf der harten Bank an der Wand Platz und sah sich um. An der Wand hing eine alte, vergilbte Landkarte der Gegend. Unten am Rand stand
Juli 1965
. Ein Wasserspender blubberte in unregelmäßigen Abständen und es roch nach aufgewärmten Kaffee. In einem der Zimmer lief ein Radio oder Fernsehgerät, es ging um die Jagdsaison, die letztes Wochenende begonnen hatte. Hier im Wildlife Refuge tickten die Uhren anders, langsamer eben.
Wir sind in den verdammten Bayous
, ging es Mason durch den Kopf und wedelte genervt mit der Hand vor seinem Gesicht herum, um eine lästige Mücke zu verscheuchen.
»Mr. Mason … der Chief erwartet Sie.« Mason erschrak, denn er hatte gar nicht bemerkt, dass das Mädchen zurückgekommen war. Er nickte ihr zu und stand auf, im Vorbeigehen nahm er den Vanilleduft ihres Haars wahr.
»Danke …«
Sheriff Carter war ein kräftiger Mann mit kantigem Kinn und einem stoppeligen Haarschnitt, der an grobkörniges Schleifpapier erinnerte. Als Mason eintrat, machte er sich nicht einmal die Mühe, aufzustehen, sondern blieb hinter seinem gigantischen Teakholzschreibtisch sitzen und hielt ein Glas Eiswasser in der Hand. Hinter ihm an der Wand hingen Bilder, die ihn nach erfolgreicher Jagd mit seiner Beute zeigten. Alligatoren, Hirsche, Wildschweine, sogar ein Bär war dabei, aber das war weit oben im Norden gewesen, wie Mason aufgrund der Landschaft vermutete.
»Mason … richtig?« Mason nickte und der Sheriff fuhr fort. «Sie sind spät dran, wollte eben los … Ist wohl nicht ganz einfach, aus der großen Stadt hierher zu finden, right?« Seine Stimme klang schroff und abweisend. Er stellte damit klar, dass er kein Interesse hatte, mit Journalisten zu sprechen und noch weniger, wenn sie nicht aus der Gegend kamen.
»Sorry, Sheriff Carter, es war wirklich nicht leicht … Danke, dass sie sich trotzdem für mich Zeit nehmen, ich weiß, sie sind sicher viel beschäftigt und«
»Kommen Sie zur Sache, okay? Hab meine Zeit nicht gestohlen!«, schnitt ihm Carter das Wort ab.
Mason hätte sonst was für ein Glas des Eiswassers gegeben, aber es war so unerreichbar für ihn wie der Gipfel des Mount Everest. Also räusperte er sich, um seinem trockenen Hals entgegenzuwirken, und auf die Gnade des Sheriffs zu hoffen, ihm dennoch eins anzubieten. »Ich werde versuchen, es so kurz wie möglich zu machen … Wie sie wissen, bin ich wegen der beiden Jäger hier, die auf der Interstate 10 verschwunden sind … Hab herausgefunden, dass sie aus Butte la Rose kamen, sind Jungs von hier. Die Highway Patrol hat ne Menge Blut bei ihrem Wagen gefunden, Haare sogar … Haare, an denen Hautfetzen hingen« er machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion des Sheriffs, in dessen Gesicht sich nicht ein Muskel regte.
»Hat nen komischen Klang, wenn einer wie Sie von Jungs von hier spricht … Aber ja, die kamen in der Tat aus Butte la Rose … waren gute Jungs, da lass ich nichts drauf kommen, verstehen Sie, was ich meine?«
Mason nickte. »Schon klar, aber mich würde dennoch interessieren, weshalb der Killer dieses eine Mal von seiner bekannten Vorgehensweise abwich … Warum überfällt er zwei bewaffnete Männer, die ihm gefährlich werden können und nicht wie bisher, unbedarfte Reisende. Was meinen Sie, Sheriff Carter?«
»Was ich meine? Sie wollen wirklich meine Meinung dazu hören? … Ich sage, das es nur ein verdammter Zufall war und dieses perverse Schwein einen großen Fehler gemacht hat, sich an jemandem von hier zu vergreifen … Sehen Sie sich hier um, hier kennt man sich seit Kindesbeinen an. Passiert ne Schweinerei wie die auf der 10, wird das schnell zu was Persönlichem … Die Highway Patrol ist vielleicht für die Interstate zuständig, aber das Land, durch das diese verfluchte Straße führt, gehört mir!« Carters Gesicht nahm eine rötliche Färbung an. »Genau das hab ich auch den Anzugträgern vom FBI gesagt, während die hier rumgeschnüffelt haben … erst gestern waren sie wieder da, wegen dieser neuen Sache. Haben bestimmt davon gehört, hm?«
»Sorry Sheriff, es ist mein Job, nachzufragen … ich wollte damit niemandem auf die Füße treten. Sie sagen, es hat wieder nen Überfall gegeben?« Mason wusste natürlich von der Sache, doch manchmal war es besser, sich dumm zu stellen.
Der Sheriff musterte ihn misstrauisch und fuhr sich dabei mit der Hand übers Kinn. Es gab ein schabendes Geräusch. »Dieses Mal hat es ne ganze Familie erwischt. Sie waren in nem verdammten Dodge Durango nach Westen unterwegs … Wieder dieselbe Masche. Erst hat man sie von der Straße gedrängt und … nun, es gab ne Menge Blut, das darauf schließen lässt, das sich ne verdammte Tragödie abgespielt hat. Vater, Mutter, Tochter und Sohn, alle spurlos verschwunden … Das FBI sagt, dass mindestens einer erschossen wurde, was in diesem Zusammenhang die große Ausnahme bildet.« Sheriff Carter legte seine fleischigen Hände auf die polierte Tischplatte und musterte Mason aufmerksam.
Mason war der Blick des Sheriffs unangenehm. Es war dieses Mustern und Prüfen, als säße er als Verdächtiger in einem Verhörzimmer und nicht auf der anderen Seite des Schreibtischs.
Er war einer von außerhalb, dem man nicht trauen konnte – daraus machte der Sherrif keinen Hehl. Daher wollte Mason das Gespräch schleunigst zurück auf die beiden Jäger lenken deswegen war er schließlich hier. »Kommen wir zu den Jägern aus Butte la Rose zurück. Was können Sie mir über die Männer sagen? … Wie waren sie, was hat sie ausgemacht, geben Sie mir etwas, das mir weiterhelfen kann.«
Carter stellte sein Glas ab und beugte sich nach vorne. »Sie meinen was Persönliches? Wie sie gelebt haben und so?«
Mason nickte. »Die Menschen sollen mitfühlen. Was fürs Herz, verstehen Sie?« Im gleichen Augenblick wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte.
»Damit Sie es in ihrem Schmierenblatt breittreten können, hm? Ist es das?« Der Sheriff knurrte wie ein wütender Hund und sah Mason aus zusammengekniffenen Augen warnend an. »… Ich sage nur eins: Die Junge waren ehrliche, aufrichtige Kerle, die sich für keine Arbeit zu schade waren und ein geregeltes Leben führten, was sonst war, geht Sie und ihre Leser einen feuchten Scheißdreck an … Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Carters Stimme wurde dabei gefährlich leise und schneidend. »Und jetzt stehlen Sie mir nicht mehr meine Zeit, ich habe Polizeiarbeit zu erledigen!«
Mason schluckte. »Schon gut, Sheriff.« Er stand auf und nickte. »Danke für ihre Zeit.« Er wusste genau, wann es besser war, keine Fragen mehr zu stellen.
»Einen Rat habe ich allerdings für Sie«, sagte Carter und erhob sich ebenfalls von seinem Sessel. »Nehmen Sie sich ein Zimmer und genießen Sie das Wochenende in Butte la Rose … Gehen Sie meinetwegen angeln oder sehen sie sich die Schildkröten im Sumpf an, aber halten Sie sich aus unseren Angelegenheiten raus!« Er kam um seinen Schreibtisch herum und reichte Mason die Hand. »Kommen Sie mir nicht in die Quere und wir zwei haben kein Problem miteinander … andernfalls …« Masons Hand knackte im schraubstockartigen Griff des Sheriffs. »Andernfalls lernen Sie den vollen Umfang der Gastfreundschaft Louisianas kennen.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Mason wieder beruhigt hatte. Er stand draußen vor dem Office, lehnte an seinem vom Regen nassen Wagen und zündete sich eine Zigarette an. Er mochte diese Typen nicht, die sich wie Platzhirsche aufführten, nur weil sie durch ein Amt gewisse Macht besaßen. Das ging ihm total gegen den Strich. Aber da war noch etwas anderes. Dieses »
was sonst noch war«
von Sheriff Carter hatte Mason stutzig gemacht. Er war sich sicher, dass ihm der Sheriff etwas verschwieg. Es war nur ein Gefühl, dem Mason folgte, und das ihn dazu bewog, hierzubleiben. Er hatte vor, den Leuten von Butte la Rose auf den Zahn zu fühlen. Jemand würde schon reden, denn einer redete immer. Er erinnerte sich an die Worte eines alten Hasen der Zeitung, für die er arbeitete. Er hatte ihm einst den Rat gegeben, in den örtlichen Bibliotheken mit den Recherchen anzufangen. Dort würde er die Wahrheit finden, denn in den Archiven waren die Wurzeln einer jeden Gemeinde verankert. Im Guten wie im Bösen. Mason beschloss, genau damit anzufangen.