Männer aus den Bayous
Der Kaffee war lauwarm und schmeckte bitter. Mason verzog das Gesicht und schüttelte sich. Er rieb sich die müden Augen und beugte sich wieder nach vorne zum flimmernden Bildschirm, um sich durch abertausende Ausgaben des regionalen Amtsblattes zu klicken. Das Kinn auf die Hand gestützt überflog er Überschriften, die von großen Fischen handelten. Von Alligatoren, die in Pools gekrochen waren, von Jägern, die sich selbst in den Fuß geschossen hatten. Sterbenslangweiliges Zeug und nichts, was mit der Interstate zu tun hatte.
»Sir, entschuldigen Sie meine Aufdringlichkeit, aber … Sie sind jetzt schon ne ganze Weile hier … was suchen Sie denn? … Womöglich kann ich Ihnen mit der richtigen Ausgabe weiterhelfen, wenn sie’s mir sagen. Ich meine, Sie könnten sich ne Menge Zeit sparen und ich, nun ja, mein Feierabendsteak im Diner zu mir nehmen.« Der Bibliothekar, genaugenommen war er der ehrenamtliche Mitarbeiter dieser drei Zimmer umfassenden öffentlichen Einrichtung namens Leihbücherei, sah mit einem mitfühlenden Lächeln auf Mason herab.
»Ähm … ich weiß nicht genau …«, erwiderte Mason. Der Mann sah aus wie ein gerupfter alter Geier und hätte genauso gut der Leichenbestatter dieses Nests sein können. Womöglich war er das ja auch. Andererseits, wenn jemand etwas wusste, dann er. »Yes, Sir, Sie haben recht … es geht um diese Überfälle, die entlang der Interstate 10 verübt wurden.«
»Ich hörte davon, schreckliche Sache das … und was haben Sie damit zu tun, wenn Sie die Frage gestatten«, wollte der Geier wissen.
»Keine Bange, ich bin Journalist und bin da an was dran. Es ist so, dass ich Nachforschungen zu diesen Morden anstelle. Insbesondere, was den Tod der beiden Jäger aus Butte la Rose betrifft. Wissen Sie, wen ich meine?«
Der Geier nickte langsam. »Ja … das waren Hudson und Meyers, die hatten ihre Bootswerkstadt ein Stück weiter die Parish Road runter. Ziemlich üble Sache, hinterlassen Familien«, antwortete der Geier und beugte sich vor. Sein Atem roch nach scharfem Mundwasser. »Niemand hätte je damit gerechnet, dass es nach all den Jahren wieder losgeht.« Die spitze Nase stach wie ein Nagel aus seinem Gesicht.
Mason stutzte. »Wie meinen Sie das denn?«
Der Geier sah sich um und nickte verschwörerisch, weil er feststellte, dass sie die einzigen Personen in der Leihbücherei waren. »Nun ja, ich habe es die ganze Zeit über im Fernsehen verfolgt … Weil … na, weil es das schon mal gab, nämlich in den Sechzigern!«
»Sie meinen, Sie hatten hier schon mal nen Serienkiller? Das ist … wow!« Mit einem Schlag war Mason hellwach. Hatte ihn sein Instinkt zum richtigen Mann geführt?
»Ich muss alles darüber wissen, hören Sie? … Es ist wirklich wichtig für mich! … Und für die Leser meiner Zeitung, denn das muss unbedingt an die Öffentlichkeit!« Mason leere den Kaffee und stöhnte angewidert auf. »Mann Gottes, trinken Sie dieses Zeug etwa?«
Der Geier lachte krächzend. »Nicht wirklich … der ist nur für die Besucher, ich dagegen trinke … oh, verzeihen Sie, ich schweife ab …« Er lachte erneut. Es hörte sich an, als würde er eine rostige Kette durch seine Lunge ziehen. »Also: Es war 1958, ich arbeitete bei Jefferson an der Tankstelle, gab es eine für die damalige Zeit recht ungewöhnliche Mordserie …« Der Geier machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen.
Mason hielt es auf seinem Stuhl nicht mehr aus. Das war eine Wendung, die er nicht erwartet hatte. Das könnte die Story werden. »Erzählen Sie nur weiter, Mister, ich bin ganz Ohr!«
»Na ja, die Interstate war damals noch nicht so ausgebaut wie heute. Und der Verkehr, nun, der Verkehr eher mäßig … zu diesen Zeiten waren die Bayous nicht sehr beliebt, verstehen Sie. Niemand kam hierher, um sich die Mistviecher in den Sümpfen anzusehen oder einen auf Naturfreund zu machen. Übrigens gab es in den heißen Sommermonaten '58 eine ganze Reihe ähnlicher Mordfälle. Ich habe es gegengelesen, es passt einfach alles!«
Mason kratzte sich am Kinn. Das tat er immer, wenn er nervös war und nachdenken musste. »Also traf es damals hauptsächlich Fremde, die auf der Durchreise waren? … Sie spannen mich auf die Folter, Mister.«
»Exakt. Die Killer hielten die Autos an und zerrten die armen Menschen nach draußen …«
Mason runzelte die Stirn. »Sie sagen die Killer?«
»Ganz genau … aber lassen Sie mich die ganze Geschichte erzählen, damit Sie begreifen, was ich meine. Anfangs gab es keine Spur von den Leuten, selbst ihre Fahrzeuge verschwanden. Dann fand der damalige Sheriff, ich habe seinen Namen vergessen, eine Spur, die ihn zu einer Gruppe von Leuten führte, die in den Bayous auf die Jagd gingen.«
»Na ja, das erscheint mir nicht besonders ungewöhnlich«, erwiderte Mason.
»Warten Sie ab, bis Sie die ganze Geschichte gehört haben … Der Sheriff stoppte den Wagen dieser Jäger, weil ein Rücklicht nicht funktionierte. Jedenfalls fand er bei der Kontrolle einen verdammten rosa Koffer, auf dem sich ein Aufkleber des Florida State befand. Trotz allem war das weder außergewöhnlich noch verdächtig, wenn man davon absah, dass es nicht zu den Männern passte … aber raten Sie mal, wem dieser Koffer gehörte!«
»Einer der verschwundenen Personen?« Mason konnte kaum an sich halten, so aufgeregt war er.
»Bingo! Genauer gesagt einer jungen Frau, die einige Tage zuvor verschwunden war und zu einer ausländischen Reisegruppe gehörte. Das machte den Koffer für die Presse interessant genug, um ihn in der Zeitung zusammen mit ner Suchmeldung abzudrucken … Der Sheriff erinnerte sich sofort an den Koffer, aber er hatte ja keine Ahnung, auf was er da wirklich gestoßen war. Er trommelte seine Deputys zusammen und folgte den Männern zu ihrem Unterschlupf ein Stück die Parish Road runter, zu diesem Motel, dem Hunters Inn … Das gibt es übrigens heute noch.« Der Geier sah Masons vor Aufregung gerötetes Gesicht und grinste.
»Also waren es mehrere Killer? Wie die Manson Family? … Das wäre ja der Hammer!«
»Es war nicht nur eine Gruppe von Killern. Es waren Leute, die sich einen Spaß daraus machten, harmlose Menschen aus ihren Fahrzeugen zu ziehen und durch die Sümpfe zu treiben … Verstehen Sie, was ich meine? … Das waren verdammte Menschenjäger!« Es schien, dass der Geier erst jetzt wieder anfing, zu atmen. Röchelnd und hohl sog er die abgestandene Luft der Bibliothek in seine Lungen.
»Wow, das ist ja ne tolle Geschichte, aber ich sehe keinen direkten Zusammenhang zu den Vorfällen von heute. Immerhin ist es ne Weile her und diese Jäger haben wahrscheinlich schon alle das Zeitliche gesegnet«, sagte Mason.
»Das will ich Ihnen erklären«, antwortete der Geier feixend. »Ich habe im Fernsehen gesehen, dass keine Leichen gefunden wurden, sondern nur jede Menge Blut.«
»Das ist richtig. Laut meinen Informationen genug Blut, um von einer Mordserie auszugehen«, bestätigte Mason.
»Das war '58 genauso. Die Menschen verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Es wurde Blut gefunden, manchmal auch Hautfetzen oder Haare. Sogar Knochensplitter waren dabei … war es ne verdammt grausige Sache.«
Mason wusste nicht, ob mehr als Blut gefunden worden war, aber er sah die Schlagzeile bereits vor sich. Jäger veranstalten Menschenjagd in den Sümpfen Louisianas. »Und Sie meinen, es könnten ein weiteres Mal Jäger sein?«
»Nun ja«, antwortete der Geier. »Es ist wieder Jagdzeit!«
Mason nickte. Was ihm allerdings fehlte, war eine handfeste Spur und einen Hauch von Zusammenhang. »Ich sollte nochmal mit dem Sheriff sprechen, es gibt doch garantiert Unterlagen über die Sache.«
Der Geier trat einen schnellen Schritt näher, packte Mason unverhofft mit ungeahnter Kraft an den Schultern. »Lassen Sie um Gottes Willen den Sheriff da raus … denn die Geschichte, die ich Ihnen erzählt habe, geht noch weiter.«
Mason hob die Hände. Ihm war die Berührung unangenehm. Er konnte die dürren Finger durch den Stoff seines Hemdes spüren. Aber die Gier nach der Story war größer. »Erzählen Sie es mir … ich muss alles wissen!«
Der Geier nahm die Hände wieder weg und sah sie an, als wären es nicht seine. Schließlich steckte er sie in die Taschen der viel zu weiten Hosen. »Also … Ich hoffe, Sie haben Zeit mitgebracht. Gestatten Sie mir, dass ich dazu etwas aushole?«
Mason nickte. Der Geier lächelte und fuhr fort. »Ihnen ist bekannt, dass die meisten Leute von hier, die heutigen Cajuns, von Arcadians abstammen?«
Mason runzelte die Stirn. »Klar, die Arcadians wurden im 18ten Jahrhundert von den Briten aus Kanada vertrieben und siedelten sich in Louisiana an. Man braucht sich nur die Namen der Städte hier anzusehen. Deswegen gilt heute wie damals das kontinentaleuropäische Recht streng nach französischem Vorbild.«
»Jetzt überraschen Sie mich«, antwortete der Geier.
»Das sind nur die Überbleibsel meiner Semester in Rechtswissenschaften, bevor ich beschloss, Journalist zu werden. Aber was hat das mit diesen Jägern zu tun?«
»Ziemlich viel will ich meinen«, sagte der Geier, zog sich einen Stuhl bei und setzte sich hin. »Diese Jäger waren waschechte Arcadians. Alles Männer aus den Bayous, deren Ahnenlinie bis zu den ersten Siedlern aus Kanada zurückreichte. Ich weiß das, weil ich hier die Archive verwalte. Wenn ich Zeit habe, recherchiere ich ne Menge komisches Zeug!«
Mason zuckte mit den Schultern. »Ja … und? … Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Bleiben wir bei der Historie und bei den Wurzeln dieses Landes … Ist Ihnen der Marquis de Lafayette ein Begriff? … Der Mann an George Washingtons Seite, der zuerst den Engländern in den Hintern trat und an der Französischen Revolution nicht ganz unbeteiligt war?«
»Ich habe im Geschichtsunterricht nicht geschlafen … aber ich bitte Sie, kommen Sie endlich zur Sache.« Mason gingen seine ausschweifenden Ausführungen langsam auf die Nerven. Höchstwahrscheinlich hatte der Mann am Ende doch nur Schwachsinn zu bieten. Uninteressantes Zeug, das man in jeder Bibliothek leicht selber nachlesen konnte. Masons Interesse begann abzuklingen. Er setzte sich und sehnte sich nach einem Whiskey.
»Was Sie im Geschichtsunterricht sicher nicht gelernt haben, ist, dass die alteingesessenen Cajuns Lafayette einen Verräter nannten. Auch heute. Sie sind der Ansicht, dass er mit seinen Aktivitäten an der Seite der Leute um Washington die französischen Wurzeln verraten hat. Von seiner Teilnahme an der Revolution ganz zu schweigen. Immerhin waren viele der Arcadians überaus eifrige Royalisten.« Der Geier schabte sich mit der Hand über sein Gesicht. »Na ja … in der Nähe gibt es ein recht ansehnliches Anwesen, welches sich im Besitz der Lafayettes befindet.«
Mason rieb sich gelangweilt die Augen. »Wow …«
»Als sich der Sheriff damals anschickte, die Menschenjäger zu stellen, kam er ihnen auf dem Anwesen der Lafayettes während des Massakers in die Quere. Es kam zu einem Schusswechsel, den man durchaus legendär kann. Als sie keine Kugeln mehr hatten, warfen sie die Flinten weg und griffen nach ihren Messern, nach Äxten, eben nach allem, was sich dazu eignete, andere Menschen umzubringen. Am Ende waren die Menschenjäger bis auf einen tot und der Sheriff lag ebenfalls mit dem Gesicht nach unten im Dreck.«
»Warum kam es ausgerechnet dort zu diesem Kampf? Und was geschah mit den Lafayettes?«, wollte Mason nun doch wissen.
»Da wollte wohl jemand eine alte Rechnung begleichen und die Verräter endlich auslöschen.« Der Geier holte rasselnd Luft. »Die Schande der Arcadians bereinigen. Nur zwei von ihnen haben das Feuergefecht überlebt … soweit ich weiß, sind sie weggezogen. Sind wohl zurückgegangen nach Frankreich.« Der Geier rieb sich die Hände. »Aber wir dürfen nicht den einen Jäger vergessen, den Mann, der überlebt hat, denn der wird noch eine wichtige Rolle spielen.«
»Was ist mit ihm?«, wollte Mason wissen.
»Es hatte ihn ziemlich übel erwischt und er floh schwerverletzt in die Sümpfe. Allerdings nicht, ohne den Lafayettes vorher Blutrache zu schwören. Er schwor, jeden ihres Geschlechts zu töten, sollte er es wagen, jemals wieder einen Fuß in die Sümpfe Louisianas setzen.«
»Wow, harter Stoff … allerdings, wenn das '58 war, sollte der Mann zu alt sein, um als Serienkiller die Interstate unsicher zu machen. Oder tot, was wahrscheinlicher ist«
Der Geier hob seine dürren Schultern und nickte nachdenklich. »Es wurde nie festgestellt, wer dieser Mann wirklich war. Es gab keinen Namen, keine Papiere, nichts. Als wenn er nur ein Phantom gewesen wäre.« Er knackte mit seinen Fingerknochen. »Nun, um die Story abzuschließen und Ihnen einen finalen Zusammenhang zur aktuellen Geschichte zu liefern … die Lafayettes sind wieder in die Bayous zurückgekehrt, exakt vier Wochen, bevor es zum ersten Mord auf der Interstate 10 kam … Wie finden Sie das, hm? Ist doch ein merkwürdiger Zufall oder etwa nicht?«
Mason klappte förmlich die Kinnlade nach unten. »Sie meinen, der Jäger hat überlebt und zieht das Ganze ein weiteres Mal durch?« Das ist die Story!
»Oh ja … Er ist wieder da und er wird schrecklicher wüten als jemals zuvor! Er ist gekommen, um zu vollenden, was vor fünfzig Jahren begonnen hat!«