Lauf!
Sue kroch aus den Büschen hervor, in denen sie sich Stunden zuvor versteckt hatte. Ihre Kleidung war verdreckt und klatschnass. Sie hatte ihre Schuhe verloren und es nicht einmal gemerkt, jetzt brannten ihre geschundenen Fußsohlen wie Feuer und jeder Schritt wurde zur Willensfrage. Wie lang sie schon auf der Flucht war, wusste sie nicht mehr. Es war zu etwas Belanglosem geworden, verschwindend unwichtig gegen das, was geschehen war. Sue wusste nicht einmal genau, ob sie weiter davonlaufen oder sich ihrem Schicksal hingeben sollte.
Als sie sich umsah, leuchteten ihre Augen wie helle Ovale in ihrem dreckverkrusteten Gesicht. Eine Weile hatte es ausgesehen, als hätte sie diesen Irren abgehängt. Er hatte sich mit der Beharrlichkeit eines Jägers, der wusste, dass er seine Beute früher oder später zur Strecke bringen würde, auf ihre Spur gesetzt. Schwere Regentropfen fielen von den dichten Blättern zu Boden. Es war stockdunkel. Obgleich der Regen warm und die Luft vom vergangenen Tag derart erhitzt war, dass die Feuchtigkeit dampfte und als Nebel durch die Bäume zog, fröstelte sie.
Sue dachte an Charlotte, Paddy, an ihren verdammten Bruder … und ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie wollte sich auf den Boden legen, die Augen schließen und warten, bis es vorbei war.
Einschlafen, sich in eine andere Welt träumen, raus aus der Scheiße!
Lauf um dein Leben, so lang und so weit du nur kannst
, hallten die letzten Worte ihrer Mutter in ihrem Kopf nach. Sie musste einfach weitermachen.
Auf allen vieren saß sie da, Hände und Knie versanken im aufgeweichten Boden, bildeten Kuhlen, die sich mit Wasser füllten. Sue sog die Luft ein, die nach Waldboden und Moder roch.
Das entfernte Brummen eines Motors hatte sie aus ihrem Versteck gelockt, doch sie blieb vorsichtig. Es konnte die Rettung bedeuten, aber auch den Tod, wenn es der falsche Wagen war. Einmal hatte sie sogar gedacht, Scheinwerferlicht zu sehen, aber alles war vage und mit der Gefahr verbunden, dem Mörder in die Hände zu laufen.
Sue erhob sich, langsam, nach allen Seiten sichernd, und bewegte sich auf das Motorengeräusch zu. Das Knacken eines Zweiges in ihrer Nähe ließ sie verharren. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, die zwischen den Bäumen im Unterholz herrschte, dennoch gab es zu viele Stellen, die in einer bodenlosen Finsternis verschwanden. Es knackte ein weiteres Mal und Sue ging einen vorsichtigen Schritt zurück. War das da vor ihr der Umriss eines massigen Mannes, der sich langsam näherte?
Sue wich zurück und entfernte sich damit von dem Hoffnung verheißenden Geräusch. Die Bewegungen des Mannes kamen ihr komisch vor. Er lief nicht, wie er sollte, sondern schwankte, als würde es ihm Mühe bereiten, aufrecht zu gehen. Und da war noch etwas anderes. Sie konnte sich irren, aber sein Kopf hatte sicher nicht die Form eines Menschen. Er war langgezogen, wie bei einem Hund oder Raubtier. Ein dumpfes Grollen bestätigte ihre Vermutung, dass es sich nicht um einen Menschen handelte. Doch aufrecht gehende Raubtiere gab es nicht.
Alle Schmerzen ignorierend, warf sie sich herum und rannte los. Direkt in die Fänge eines Schattens, der sich hinter ihr aus dem Geäst erhob. Sie hatte ihn weder gehört noch gesehen, der brutale Hieb der Pranke kam aus dem Nichts. Sue spürte, wie sich die langen Klauen mit einem heißen Schmerz in ihren Körper bohrten, erst die Haut und dann das Fleisch darunter aufschlitzten. Von einem Moment zum nächsten hatte sie keinen Boden mehr unter ihren bloßen Füßen und hörte, wie sie das Ungetüm anbrüllte. Sie konnte sein weit aufgerissenes Maul sehen, die langen, gebogenen Zähne und die Augen, die in einem unnatürlichen Licht böse und hungrig funkelten. Der Hieb schleuderte sie durch die Luft. Sue zog instinktiv den Kopf ein und rechnete mit einem harten Aufprall, stattdessen schlug sie mit einem lauten Platschen auf eine Wasserfläche, tauchte unter und schrammte mit der Wange über einen abgestorbenen Ast. Mit aufgerissenen Augen sah sie den riesigen, bedrohlichen Schatten, der sich über ihr erhob. Dann tauchte sie vollends unter. Das trübe Wasser schloss sich wie der Theatervorhang nach einem tragischen Akt. Das war das Ende, das musste es einfach sein.