Mach dich nicht über meine Mutter lustig …
»Eins würde ich gerne wissen«, sagte Nina, während der Wagen über den aufgeweichten Weg rumpelte.
»Was denn?«
Ninas Stimme klang misstrauisch. »Na ja, es ist mitten in der Nacht. Es regnet, als würde sich die nächste Sintflut ankündigen und Sie laufen hier in einem leichten Sommerkleidchen barfuß durch die Sumpfwälder der Bayous. Das erweckt einen komischen Eindruck, nicht wahr?«
Eric räusperte sich. »Nina, bitte … ich glaube nicht, dass jetzt …«
»Ist kein Problem, kann das erklären«, fiel ihm Yuna ins Wort. »Eigentlich wollte ich niemanden in die Angelegenheit mit reinziehen …«
»In die Angelegenheit mit reinziehen? Hört sich an, als stecken Sie in Schwierigkeiten.« Nina zog eine Augenbraue nach oben, sah erst Eric warnend an, und dann zu dem Mädchen auf der Rückbank.
Yuna kaute auf ihrer Unterlippe herum, nickte. »Ich hatte Ärger mit ein paar Leuten aus der Stadt. Nichts Großartiges, aber dennoch … unangenehm.« Sie beugte sich nach vorne und sah zwischen den Vordersitzen hindurch. Um ihren Hals baumelte ein dünner Lederriemen, an dem ein in Holz eingefasster Zahn befestigt war. »Ich war heute Mittag in Butte la Rose, um für meinen Vater ein Paket von der Poststation abzuholen. Er wartet schon ziemlich lang darauf. Ihr müsst wissen, dass er …«
»Bitte«, unterbrach Nina ihren Redefluss. »Ich möchte nur wissen, was Sie mitten in der Nacht in den Wald getrieben hat, mehr nicht!«
»Ist ja schon gut!« Yuna hob beschwichtigend die Hände. »… Ich blieb ne Weile, aß nen Eisbecher bei Becky's und hab darüber die Zeit vergessen. Als es dunkel wurde und die Regenwolken aufzogen, machte ich mich auf den Weg. Viele haben Angst, in der Nacht in die Wälder zu gehen, aber für mich ist das kein Problem … kenn mich in den Wäldern hier ja aus wie in meines Vaters Westentasche!« Yuna lachte glucksend über ihren Vergleich. »Ich hatte bereits den halben Weg hinter mir, da bemerkte ich, dass mich einer verfolgte …«
Eric zog eine Augenbraue hoch, sah aber weiter nach vorne. Er wollte den gleichen Fehler nicht nochmal machen. »Wie bemerkt man denn sowas … Ich meine, der Wind tost durch die Bäume und Regen prasselt auf den Boden, zudem ist es stockdunkel. Nicht das Idealbild einer stillen Umgebung, würde ich sagen.«
Nina nickte bestätigend.
»Scheiße, ich bin hier aufgewachsen, verdammt, kenne jeden Strauch«, erklärte Yuna. »Ich kann den Tritt der Tiere in den Bayous erkennen, egal bei welchem Wetter. Spätestens, wenn sie laut geben, weiß ich, womit ich es zu tun habe … Anfangs war es nur ein Gefühl, doch dann war ich mir sicher. Was mich verfolgte, war kein Tier. Und es war nicht nur einer. Es waren mindestens drei, und sie versuchten, mich einzukreisen … Ich bekam es mit der Angst zu tun, fing an zu rennen, weil ich bemerkte, wer sich da auf meine Fährte gesetzt hatte!«
Nina strich sich fröstelnd über die Arme. »Ich glaube, mit dem ruhig Schlafen wird es heute Nacht nichts mehr … aber erzähl weiter!«
»Es waren Menschen! Ich konnte es nicht nur an ihren schweren Schritten erkennen, sondern auch an ihrem Gestank, den sie wie eine zähe Wolke vor sich her schoben …«
Eric bremste abrupt den Wagen ab und drehte sich um. »Menschen? Sie sagen ernsthaft, dass Sie von Menschen durch den Wald gejagt wurden?«
Yuna nickte eifrig. »Da bin ich mir absolut sicher … und ich hatte nicht vor, anzuhalten, um nachzufragen, warum sie mir hinterherliefen.« Sie strich sich ihre kastanienbraunen Locken aus dem Gesicht und fing an, sich in aller Seelenruhe einen dicken Zopf zu flechten. »Bin mir ziemlich sicher, dass ich sie abhängen konnte, und, na, den Rest kennt ihr ja …«
»Wow«, war alles, was Nina herausbrachte. »Das sind ja großartige Aussichten.« Sie sah unsicher durchs Fenster.
»Wir sollten besser zu den Cops fahren, was meinst du? … Ich glaube, ich hab in Butte la Rose ein Sheriffsoffice gesehen«, flüsterte Eric. Er sah sich um, blickte durch die nassen Scheiben des Dodge. Es hatte aufgehört zu regnen und der Boden dampfte.
Sie könnten direkt hinter uns sein und ich würde sie nicht sehen!
»Das halte ich für keine gute Idee …«, gab Yuna zu bedenken. »Das mit dem Sheriff in Butte la Rose ist so ne Sache …«
»Immerhin könnten wir ihm den Vorfall schildern und er den Unfall aufnehmen, damit wir von derselben Sache sprechen, wenn es Probleme gibt.« Nina fand die Idee mit dem Sheriff gar nicht so verkehrt. Wer konnte schon wissen, mit welchen Ideen das Mädchen noch kommen würde, wenn sie Zeit hatte, um über den Unfall nachzudenken. »Außerdem, es gibt in jedem Kaff dieselben Idioten, die denken, in der Nacht Mädchen erschrecken zu müssen … er wird seine üblichen Verdächtigen sicher kennen!«
Yuna lachte auf. »Schon klar, der Punkt ist nur, dass der Sheriff nichts Besseres zu tun hat, als meinem Vater ans Bein zu pissen … Sorry, aber anders kann ich es nicht ausdrücken …«
»Wir haben mit deinem Vater nichts zu schaffen«, stellte Eric fest.
»Es reicht schon, wenn ihr mit mir zusammen gesehen werdet. Es hat mit unserem Familienbesitz zu tun, einem großen Stück Land am Cow Island Lake, ein paar Meilen den Atchafalaya River runter. Sheriff Carter ist seit Jahren scharf darauf, der Bürgermeister ebenfalls. Warum, kann euch mein Vater erklären, wenn ihr mich zuhause abliefert.«
Eric sah Nina an. Ihr war anzusehen, dass sie sich in der Situation nicht wohl fühlte. Sie konnten das Mädchen allerdings auch nicht zwingen, zum Sheriff zu gehen. »Yuna hat Recht, es ist womöglich das Beste, wenn wir sie nach Hause bringen … außerdem geht uns die Sache im Grunde nichts an, hm?«
Eine halbe Stunde später …
Yuna klopfte Eric auf die Schulter. »Da vorne, wo der alte Baum steht, dort musst du rechts abbiegen … Das ist die Zufahrt zu unserem Anwesen.«
Eric hatte Nina gegenüber ein schlechtes Gewissen. Sie saß mit verschränkten Armen neben ihm und schwieg. So ein Verhalten implizierte bei Eric immer, dass er etwas falsch gemacht hatte. Vermutlich hatte er das auch, von dem Moment an, als er die Interstate verlassen hatte. Aber das brachte ihn jetzt nicht weiter. »Alles klar, und dann?«
»Immer dem Weg folgen«, sagte Yuna. »Nach hundert Metern sollte ein Tor kommen. Dort musst du anhalten.«
Yuna hatte sie gekonnt aus den Sümpfen geführt, und einmal hatten sie sogar die Lichter von Butte la Rose gesehen. Sie folgten einer Straße, die sie in einen dichten, finsteren Wald brachte. Zweimal überquerten sie mittels Holzbohlenbrücken kleinere Seitenarme des Atchafalaya River. Der Weg war gesäumt von undurchdringlich erscheinendem Bewuchs. Riesenhafte Bäume wucherten so hoch, dass die Wipfel nicht zu sehen waren. Ihre schweren, mit Moos bewachsenen Äste beugten sich wie ein Dach über den Weg.
»Sieht ja nicht gerade vertrauenerweckend aus«, flüsterte Nina. Die erste Nacht ihres Ausflugs hatte sie sich erheblich angenehmer vorgestellt. Dabei hatte alles so gut angefangen. Die Fahrt auf der Interstate, das leckere Essen, einen entspannten Eric außerhalb der Arbeit.
Kann ja noch werden, es kann alles noch werden!
Im Scheinwerferlicht tauchte ein rostiges, altmodisch verschnörkeltes Tor auf, das den Weg versperrte. Es war an mächtigen Backsteinsäulen befestigt und ragte wie ein Bollwerk vor ihnen auf.
Da könnte ich in drei Jahren nicht drüber klettern , ging es Eric durch den Kopf, während er die eisernen Spitzen musterte, die oben am Tor angebracht waren. Yuna atmete sichtlich erleichtert auf. »Endlich zuhause … wartet einen Moment, ich steige aus und mache das Tor für euch auf.« Kaum, dass sie den Satz beendet hatte, war sie draußen.
Eric und Nina beobachteten das Mädchen, wie es an einem schweren Vorhängeschloss herumnestelte, das mit einer dicken Kette verbunden, die Zufahrt verwehrte. »Ich frage mich, warum die sich einschließen … das ist doch merkwürdig, oder nicht?« Ninas Stimme klang leise und dünn. Ihr gingen diverse Szenarien aus Horrorfilmen durch den Kopf, in denen arglose Reisende in genau diese Situation kamen.
Und was machen wir? Wir erfüllen jedes noch so dämliche Klischee der Opfer, die nichtsahnend in die Falle tappen. Als hätte ich nie solch einen Film gesehen.
Eric wollte Nina etwas von ihrer Angst nehmen. »Keine Ahnung, wie man das hier normalerweise macht. In Europa, vor allem von dort, wo ich herkomme, ist es vollkommen normal, das man abschließt und die Grundstücke mit Zäunen umgibt.« Deutschland halt, dachte er, und war trotz der Umstände froh, in den Staaten zu sein.
»Trotzdem … wir kennen diese Leute doch gar nicht … Wäre es nicht besser, umzukehren oder wenigstens das Auto hier auf dem Weg stehen zu lassen?« Nina fasste Eric am Arm. »Ich will ja nicht schwarzmalen, aber du kennst die Geschichten …«
»Wir liefern sie ab, sagen Hallo, wechseln ein paar belanglose, aber höfliche Worte, und fahren gleich wieder … einverstanden?« Eric zwinkerte ihr aufmunternd zu.
Ehe Nina antworten konnte, schob Yuna das in den rostigen Scharnieren kreischende Tor auf. Vögel flatterten davon und protestierten ob der Störung. Yuna winkte sie durch und verschloss das Tor, bevor sie sich auf die Rückbank schwang.
»Hättest es ruhig offenlassen können, wir fahren ja gleich wieder«, sagte Eric.
»Mein Vater möchte, dass das Tor stets verschlossen und verriegelt ist … Wenn ihr fahrt, komme ich kurz mit und lasse euch raus.«
Die Vegetation war jenseits des Tors undurchdringlich dicht. Es roch intensiv, aber auf eine angenehme Weise nach stehendem Gewässer. Sie folgten dem Weg, bis sich der Wald lichtete und in eine locker bewachsene Wiese überging, auf der kleinere, mit Moos und Ranken bedeckte Bäume standen. Eine verwunschene, romantische Welt.
»Schau, Glühwürmchen«, sagte Nina und zeigte aus dem Fenster auf einige von winzigen Lichtern umschwirrten Büsche.
»Als ich klein war, erzählte mir meine Mama immer, dass mir die Glühwürmchen den Weg nach Hause zeigen würden, ganz gleich, wie sehr ich mich verlaufen hatte«, flüsterte Yuna. Zikaden spielten ihr monotones Lied, im nassen Unterholz quakten Frösche. Der düstere, dunstige Wald war einer romantischen Sommernachtvision gewichen.
Die letzten Bäume wichen zurück und vor ihnen lag eine große Wiese, in deren Zentrum ein in die Jahre gekommenes und dennoch gepflegtes Herrenhaus stand, wie man sie aus der Kolonialzeit kannte. Eric pfiff leise durch die Zähne. »Das hätte ich jetzt nicht erwartet …« Hinter dem zweigeschossigen Haus, aus dessen hell erleuchteten Fenstern warmes Licht fiel, floss ein breiter Fluss. Es war zu dunkel, um das gegenüberliegende Ufer zu erkennen.
Yuna deutete Erics Blick. »Das ist der Atchafalaya River … Beeindruckend, nicht wahr?«
»Das kann man wohl sagen«, antwortete Eric und lenkte den Dodge vor die geschwungene Treppe, die zum Eingang des Hauses führte, der weit offen stand.
Etwas abseits, am Rand der Wiese, konnte man unter ausladenden Bäumen die dunklen Umrisse weiteren Häuser und einiger Hütten erkennen.
»Endlich Zuhause!« Yuna wirkte nervös. Es war schwer zu deuten, ob sie glücklich darüber war oder nicht. Kaum, dass der Wagen stand, riss sie die Tür auf und rannte die Treppe zum Hauseingang hinauf. Sie blieb oben stehen und winkte Eric und Nina auffordernd zu. »Na macht schon, kommt herein, wir beißen nicht! … Ich möchte euch meine Eltern vorstellen!«
Nina schnaufte und sah Eric an. Sie hatte sich beim Anblick dieses kleinen Paradieses zwar entspannt, blieb aber dennoch skeptisch. »Was meinst du? Sorry, ich war in Gedanken.«
»Sich vorzustellen wäre nur höflich.« Eric war müde und gähnte verstohlen. Ihn juckte der Schweiß auf der Haut, er sehnte sich nach einer Dusche und frischen Sachen und einem Bett natürlich, auf dem er sich lang machen konnte. Aber das war alles unglaublich fern und in den nächsten Stunden unerreichbar. Er machte den Motor aus und schnallte sich ab. »Na komm, sicher gibt es da drin ja für dich was Kaltes zu trinken und für mich nen starken Kaffee.«
Yuna lachte sie an, als sie die Treppe nach oben kamen. Verlegen folgten sie dem Mädchen ins Haus. Die polierten Holzdielen knarrten unter ihren Schuhen, es roch nach einer Mischung aus süßem Tabak und Lavendel. Anstelle von elektrischem Licht wurde der Vorraum, der die Ausmaße einer kleinen Wohnung hatte, von Kerzen erleuchtet, die in vielarmigen Leuchtern an den Wänden angebracht waren. Am rückwärtigen Ende führte eine schön geschwungene Treppe nach oben. Dort hing ein großes Gemälde, welches einen Gentleman des achtzehnten Jahrhunderts zeigte. Er stützte sich, in eine blau-rote Uniform gekleidet, auf einen Gehstock und blickte über ein weites, unbekanntes Land. Im Hintergrund konnte man feuernde Kanonen sehen und Soldaten, die Fahnen schwangen.
Yuna bemerkte Erics Blick. »Das ist unser Urahn, der berühmte Marie-Josef du Motier oder besser bekannt als Marquis de La Fayette!« Ein stolzes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, die sich enttäuscht nach unten zogen, weil Eric nicht darauf ansprang. »Du kennst ihn nicht?«
»Ähm, nun … tut mir leid, aber … nein«, antwortete Eric leise und sah hilfesuchend zu Nina, die mit den Schultern zuckte.
»Yuna … Wir haben uns Sorgen gemacht!«, klang eine angenehm dunkle Stimme von oben herab. Eric zuckte erschrocken zusammen und trat einen Schritt zurück. Das war eindeutig Yunas Vater.
»Papa! … Ich bin heilfroh, zu Hause zu sein! … Ich habe Freunde mitgebracht«, erklärte Yuna in einem Ton, der Eric eine Spur zu überschwänglich erschien. Vor allem, was den Ausdruck Freunde betraf. »Darf ich vorstellen: Eric und Nina! Wir sind ein paar Meilen flussaufwärts aufeinandergetroffen. Sie hatten sich verirrt und ich war froh, jemanden gefunden zu haben, der mich zu euch bringt.«
Der große Mann kam in einer Haltung, die gewohnte Autorität signalisierte, die Treppe hinab. Sein Gesicht zeigte eine extreme Ähnlichkeit zu dem des Marquis. Yunas Vater trug eine Art Gehrock aus dunkelgrauem Stoff, darunter ein weiches weißes Hemd. Überrascht stellte Eric fest, dass der Mann unter der schwarzen Hose wie seine Tochter weder Schuhe noch Socken trug.
»Sie müssen meinen Aufzug entschuldigen, aber wir haben heute nicht mehr mit Gästen gerechnet. Ich zog es daher vor, was Bequemes zu tragen.« Er lächelte ihnen offen entgegen. »Aber ich vergesse meine Manieren.« Er breitete die Arme aus. »Ich heiße Sie auf dem Anwesen der Familie Lafayette herzlich willkommen!« Mit einer nebensächlichen Geste strich er sich eine Strähne seines langen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haars zurück.
Seine Präsenz war überwältigend. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass er Yunas Vater war. Beide hatten die gleichen schmalen Gesichter mit den ausgeprägten Wangenknochen und dieselben finsteren, mystischen Augen. Sein Haar war dunkler als das seiner Tochter und von grauen Strähnen durchzogen.
Er nahm Ninas Hand und gab ihr auf altmodische Art einen Handkuss. »Madame, es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Selbstverständlich berührten seine Lippen dabei nicht Ninas Handrücken, sondern verharrten für einen kurzen Moment darüber. Es hatte den Anschein, dass er den Geruch ihrer Haut einatmete. Aber das konnte natürlich nur Einbildung sein.
Er wandte sich Eric zu und reichte ihm die Hand. Sein Händedruck war kräftig und entsprach seinen breiten Schultern. »Willkommen in meinem Haus. Seien Sie meine Gäste und geben Sie mir die Chance, mich zu revanchieren.«
Eric kam sich in diesem Moment kläglich vor und suchte nach den passenden Worten, um der Präsenz des Mannes standzuhalten. »Guten Abend … Herr Lafayette, nehme ich an?« Und wieder kläglich gescheitert, dachte er.
Der Mann lächelte breit in die Runde. »Chander … Chander Lafayette!«
»Vielen Dank für ihr Angebot, aber wir müssen gleich weiter. Wir wollten es heute bis New Orleans schaffen«, startete Eric einen kläglichen Versuch, das Gespräch abzukürzen.
»Die werden sich im Hotel sicher wundern und sich fragen, wo wir bleiben«, pflichtete ihm Nina bei. Auch wenn sie den Mann ziemlich aufregend fand, er war ihr unheimlich. Als er ihr den Handkuss gegeben hatte, den ersten ihres Lebens, hatte sie einen intensiven Geruch nach Sandelholz wahrgenommen, der seinen Körper wie ein elektrisch geladenes Feld umgab und dem man sich nicht entziehen konnte. Sie hatte das Gefühl, von dem Duft eingelullt zu werden.
»Unsinn, Sie sind unsere Gäste. Und außerdem, ich lasse Sie doch nicht mitten in der Nacht durch die Sümpfe irren. Wer weiß, was ihnen da zustoßen kann … Es ist eine alte Tradition der Arcadians, dass man niemanden durstig, hungrig oder müde auf den Weg schickt, und Sie sehen mir beide danach aus, als würden alle drei Eigenschaften auf Sie zutreffen«, schuf Lafayette eine Tatsache, der Nina und Eric mit ihren unentschlossenen Gemütern nichts entgegenzusetzen hatten. Eric war ehrlich gesagt zu müde, um aufzubegehren, aber ihm entging nicht, das Chander Lafayette seiner Tochter einen Blick zuwarf, den das Mädchen mit einem Zwinkern beantwortete.
»Wenn ihr meinen Vater mögt, werdet ihr Mutter lieben«, scherzte Yuna, ergriff Ninas Hand und zog sie hinter sich her. »Los, gehen wir zu ihr!«
Chander lächelte den beiden Frauen hinterher. »Sie ist ein Prachtstück, nicht wahr? Auch, wenn sie mich oft an den Rand der Verzweiflung bringt.« Er legte einen Arm um Erics Schultern und schob ihn neben sich her. »Und jetzt zu Ihnen … Sie müssen mir alles erzählen, was sich zugetragen hat!«
Nina lief Yuna hinterher, was blieb ihr in diesem fremden Haus auch anderes übrig. Ihr Weg führte sie durch eine altmodische Küche, in der Töpfe und Pfannen an Haken von der Decke hingen und dicke Sträuße aus getrockneten Kräutern nur darauf warteten, für die nächste Mahlzeit benutzt zu werden. Ein Geruch nach Gewürzen und frischem Fleisch stieg Nina in die Nase.
»Komm, beeil dich. Mama erwartet uns am Fluss!«, sagte Yuna mit atemloser Stimme und trat durch eine offene Tür nach draußen.
Na meinetwegen, dachte Nina und folgte dem Mädchen in die kühle Nacht hinaus. Weit mehr als dieses eigenmächtige Du verunsicherte sie etwas anderes: Woher weiß Yuna, dass ihre Mutter am Fluss ist und auf sie wartet?
Der Gedanke daran war Nina unangenehm, dennoch lief sie weiter. Die Luft war feucht vom Regen und ihr Atem dampfte. Yuna eilte voraus. Nina beobachtete sie dabei, wie sie barfuß und mit schwingendem Sommerkleid in fast kindlicher Manier über die Wiese rannte. Verblüfft lauschte Nina dem Rauschen des Atchafalaya River. Der Fluss musste nah sein, denn sie konnte das Wasser riechen.
Das feuchte Gras schmatzte unter den Sohlen Ninas Sneakers, als sie weiterging. Das Mädchen war zwischen zwei großen Bäumen stehengeblieben und sah sich zu ihr um. Das Haus, diese Oase inmitten der Sümpfe, Yunas Vater, all das kam Nina seltsam vor und doch war es auf zauberhafte Weise anders als alles, was sie je gesehen hatte. Der Ort hier schien ein von der Magie des Südens umspielter Juwel zu sein, der sich gut in den sumpfigen Wäldern versteckte. Ein Ort, den man nicht fand, sondern zu dem man gerufen wurde.
Es gibt einen Grund, weswegen wir hier sind, ging es Nina durch den Kopf. Sie schnaufte und verwarf den Gedanken sogleich wieder, weil er ihr albern vorkam. Bleib rational, Eric wartet sicher schon auf dich, um endlich weiterzufahren. Sag Hallo, wechsle ein paar Worte und verabschiede dich.
Yuna lief zwischen den großen Bäumen hindurch, von denen lange Moosschleier herunterhingen, die sich im Wind bewegten. Nina sah, dass sich das Ufer des Atchafalaya River direkt dahinter befand. Sein Wasser floss nicht besonders schnell. Viele Meilen weiter würde es sich mit dem des Mississippi vereinen, um ins Meer zu fließen. Das Wasser wirkte in der Dunkelheit wie eine zähe, schwarze Masse, die einen oder hundert Fuß tief sein konnte. Sie stockte und hielt sich schwer atmend mit einer Hand an einem der Bäume fest. Nina trieb keinen Sport und aß zu wenig, was man ihr nicht nur ansah, es zeigte sich auch dann, wenn sie sich körperlich anstrengte. Die Distanz, die sie gelaufen war, reichte aus, um ihr Herz schneller schlagen zu lassen.
Aber da war noch etwas anderes, was ihren Puls beschleunigte. Jenseits der Bäume lief ein schmaler Holzsteg weit in den Fluss hinaus, an dem sich nicht einmal ein Geländer befand. Das Holz wirkte alt und brüchig. Ganz vorne, mitten über dem dunklen Fluss, standen Yuna und eine große, schlanke Frau, die nur ihre Mutter sein konnte. Sie trug ein langes, weißes Sommerkleid und hatte das gleiche wallende Haar wie ihre Tochter. Und sie war selbstredend barfuß. Scheint wohl bei denen eine Art schräge Tradition zu sein, dachte Nina.
»Nina, worauf wartest du, komm zu uns!«, rief Yuna und winkte ihr freudig zu.
K omm wieder runter, Mädchen.
Nina hatte plötzlich einen trockenen Mund. Nervös knetete sie ihre Finger. »Hi … ähm … ich glaube, ich warte hier lieber auf euch, Okay?«
Keinen Fuß setze ich auf diesen wackligen Steg.
Nina hatte panische Angst vor fließenden Gewässern. In ihrem Kopf sah sie die Monster, die unter der trüben Oberfläche lauerten, um sie in die Tiefe zu ziehen. Ein weiteres, endgültiges Mal.
»Na kommen Sie schon, der Steg ist absolut sicher und hier draußen über dem Fluss ist es angenehm kühl … Nach dem schwülen Tag wird Ihnen eine Erfrischung gut tun«, forderte sie Yunas Mutter auf, zu ihnen aufs Wasser zu kommen.
Nina schüttelte den Kopf, machte aber dennoch einen zögerlichen Schritt nach vorne auf die erste Planke. Das Wasser gluckste, wenn es auf den Ufersand schwappte.
Sie erschrak, weil Yunas Mutter direkt vor ihr stand. Diese blickte sie mit rotbraunen Augen an, lächelte und ergriff Ninas Hand. »Geben Sie mir ihre Hand, ich helfe Ihnen, es ist ganz leicht.«
Nina erwiderte ihr Lächeln, wenn auch zaghaft. »Ich weiß nicht … mir sind trübe Gewässer nicht geheuer …« Sie reichte der Frau die Hand. »Ich bin übrigens Nina, aber das wissen Sie ja schon.«
Die schlanken Finger von Yunas Mutter ergriffen ihre Hand. »Natürlich … ich bin Poebe!« Die Frau interpretierte Ninas fragenden Blick und lachte. »… das bedeutet die Leuchtende, die Helle.« Ihre Stimme hatte einen ruhigen, angenehmen Klang, der Vertrauen schuf.
»Gehen wir los? …«, sprach Poebe mit leiser Stimme.
Nina konnte nicht anders. Sie überwand ihre Furcht und folgte Poebe mit kleinen, vorsichtigen Schritten hinaus über das Wasser. »Und der Steg ist wirklich sicher?«
»Pssst … nicht reden jetzt … Atmen Sie die frische Luft. Spüren Sie, wie sie in Ihre Lungen strömt, sie ausfüllt … werden Sie Teil des Ganzen«, flüsterte Poebe. Endlich erreichten sie das Ende des Stegs, wo Yuna auf sie wartete.
»War doch gar nicht so schwer, hm?«, sagte Yuna mit einem verschwörerischen Lächeln.
Nina sah sich von dunklem, träge fließendem Wasser umgeben. Sie schwitzte und klammerte sich an Poebes Hand. »Ja, ganz toll … aber jetzt würde ich gerne zurückgehen, ja?« Allein der Gedanke an das, was sich unter der Oberfläche verbergen konnte, weckte die ursprüngliche Angst vor der undurchschaubaren Tiefe.
War das Wasser flach oder ging es viele Meter weit in die Tiefe?
Gab es hier diese riesenhaften Welse, die am Grund auf Beute lauerten und von denen man behauptete, dass sie sogar Menschen angriffen?
Schlingpflanzen? Alligatoren? Schlangen?
Poebe, in deren Hand sie förmlich ihr Leben gelegt hatte, und Yuna, dieses seltsame Mädchen aus den Bayous, trugen nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei.
»Genießen Sie den Triumph über ihre Angst … fühlen Sie den kühlen Wind auf ihrer Haut.« Poebe lächelte sie geheimnisvoll an. »Manchmal, in schöneren Nächten als heute, steht der Mond hoch oben am Himmel und taucht die Wälder der Bayous in sein silbernes Licht … ich glaube, es würde Ihnen gefallen.«
»Es ist atemberaubend …« Ninas Stimme vibrierte vor Angst. Ein Vogel kreischte protestierend in den Bäumen, woanders platsche es schwer im Wasser. Das reichte aus, um weitere Bilder in Ninas Kopf zu erzeugen, die sie an Land zwangen. » … doch wenn ich ehrlich bin, würde ich jetzt gerne wieder zu Eric gehen.«
Poebe strich ihr sanft mit dem Handrücken über die Wange. »Sie sind so dünn … weit entfernt, von allem, was Ihnen Mutter Natur gegeben hat. Was ist geschehen?«
Nina erschauerte unter Poebes Berührung. »Ich verstehe nicht, was Sie meinen … mir geht’s gut, ich fühle mich wohl … und jetzt würde ich wirklich gerne reingehen!« Nina löste sich von Poebe, drehte sich um und lief los, den Blick starr nach vorne auf die Bäume gerichtet, die Arme eng um den Körper geschlungen. Poebe machte ihr im Moment mehr Angst als das Wasser.
»Bleiben Sie doch hier, ich würde es wirklich gerne wissen … und, nun ja … womöglich kann ich Ihnen helfen!«
Kaum, dass Nina das rettende Ufer erreicht hatte, näherten sich Schritte. Es war Yuna. Sie lief neben ihr zum Haus zurück. »Meine Mutter mag manchmal unangenehm direkt sein … aber sie ist immer ehrlich!«
»Kann man wohl sagen … wie meinte sie das mit Mutter Natur und, dass sie mir helfen kann, hm?«
Yuna blieb stehen und ergriff Ninas Arm. »Sie meint es nur gut, verstehst du? …«
Nina stockte und wollte einem ersten Impuls folgend Yunas Hand packen und das Mädchen wegstoßen, doch sie traute sich nicht. Stattdessen zuckte sie mit den Schultern, um das hier abzukürzen. Sie wollte jetzt wirklich zu Eric zurück. »Ja, klar, ist ne esoterische Sache mit der Verbundenheit zur Natur und so, aber jetzt … bitte … lass mich los!«
Yunas Griff verstärkte sich. »Mach dich nicht über meine Mutter lustig, hörst du!« Sie war wesentlich stärker als Nina. Von einem Augenblick auf den anderen schlug Yunas Stimmung um, wandelte sich in etwas Bedrohliches. Ihre Augen nahmen dabei einen finsteren Glanz an. »Wir leben hier im Einklang mit der Natur, bringen ihr Achtung entgegen, das siehst du vollkommen richtig. Anders als diese Idioten in Butte la Rose, die nichts im Kopf haben, außer alles abzuknallen, was ihnen vor die Flinten kommt. Wir sind die Einzigen, die in der Lage sind, das alles …«
»Yuna! Nein! Du schweigst auf der Stelle!«
Poebes Stimme war laut und schneidend. Sie stand direkt hinter Nina, die erschrocken aufwimmerte, denn sie hatte gar nicht gehört, dass die Frau näher gekommen war.
»Mutter, ich …«, versuchte Yuna aufzubegehren.
»Du hältst auf der Stelle deinen Mund und gehst ins Haus …«, herrschte Poebe ihre Tochter an, die Ninas Hand losließ, den Kopf senkte und sich wie ein gemaßregelter Hund ins Haus trollte.
Poebe wartete, bis ihre Tochter gegangen war, drehte sich zu Nina um und lächelte sie milde an. »Ich muss mich für meine Tochter entschuldigen, sie ist manchmal sehr impulsiv. Sie wird von einer starken Energie durchströmt, die es ihr schwer macht, sich zu beherrschen.« Sie kicherte leise. »Eben ganz der Vater.«
Nina rieb sich das schmerzende Handgelenk. »Na ja … etwas zu impulsiv für meinen Geschmack.«
»Sie ist ein Kind der Natur und würde alles tun, um Mutter Erde zu beschützen. Genauso wie wir anderen auch. Da gibt es bei meiner Familie keine Kompromisse.«