Eine uralte Legende, die durch die Zeiten wandert
Eric war am Ende seiner Kräfte. Zusammen mit Yunas Bruder hatte er den ganzen verdammten Tag mit der Säge den Baumstamm bearbeitet und es mit Mühe geschafft, die Hälfte des Weges freizuräumen.
Zu schmal, um mit dem Dodge vorbei zu kommen
, dachte Eric. Wie um ihn zu verhöhnen, hatte Jaro sein Shirt ausgezogen und über einen der Äste geworfen. Er stellte seinen maskulinen Körper zur Schau, eine Situation, die es Eric beinahe unerträglich machte, weiterzuarbeiten und nicht aus Scham vor sich selbst davonzulaufen.
Jaro saß auf dem Stamm, kaute auf einem Stück Trockenfleisch und sah in die Sonne, die bereits die Baumwipfel berührte. »Dieses Land …«, versuchte er, ein Gespräch mit Eric anzufangen, aber es hörte sich an, als würde er mit sich selbst sprechen. »Es ist für uns Fluch und Segen … und wenn wir nicht aufpassen, wird es uns eines Tages verschlingen.«
Eric stellte sein Werkzeug zur Seite, lehnte sich an den Stamm und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Vor allem am Abend war es unerträglich heiß und stickig. Am Horizont türmten sich schwarze Wolken, wahrscheinlich würde es heute noch regnen. »Meinst du nicht, dass du da etwas übertreibst? … Das Land hier ist genauso gut wie jedes andere.«
Jaro kaute wie ein Hund auf einem besonders zähen Streifen Trockenfleisch herum. »Du kannst nicht wissen, wovon ich rede … bist nur ein Fremder. Das hier ist der Boden, auf dem alles begann, getränkt mit unserem Blut … und heute Nacht sind sie zurückgekehrt, die Jäger. Sie sind gekommen, um erneut nach unserem Leben zu trachten.«
Eric stieß sich vom Stamm ab, verschränkte die Arme. Ihm war nicht wohl bei den Worten Jaros. »Du meinst, diese … Jäger … kommen ernsthaft hierher? Ich dachte, das wäre ein Witz.«
»Ich scherze nicht«, zischte ihn Jaro an. »Sie werden kommen, wenn nicht heute Nacht, dann in der nächsten!«
»Was ist mit deinem Bruder? Haben ihn die Jäger? Ist es so?«
»Das geht dich nichts an!« Jaro sprang von dem Stamm und baute sich vor Eric auf. »Das ist unsere Sache, nicht deine!«
»Ich bin bei weitem nicht so stark wie du, aber ich bin bei Gott nicht blöd! … Also, was läuft hier?«
»Die wilde Jagd hat begonnen, das läuft hier. Sie wird vor nichts haltmachen und alles zermalmen, was sich ihr in den Weg stellt. Wie ein riesiges, hungriges Monster. Und am Ende … da werden wir stehen oder die anderen.« Jaro fletschte die Zähne und kam Eric dabei ziemlich nahe.
Eric schluckte hart. Er hatte nicht vor, zermalmt zu werden. »Der Zaun wird die Jäger fernhalten …«, versuchte er, sich selbst Hoffnung zu machen. Wenn doch nur die Zufahrt frei wäre. Er würde Nina holen und mir ihr von hier abhauen. Ferner Donner grollte aus den schwarzen Wolken, die inzwischen über dem Fluss hingen.
»Nichts wird sie in ihrem Vorhaben aufhalten«, murmelte Jaro. »Dieser Kampf währt bereits viele Jahre, Jahrhunderte sogar. Es ist Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen.«
»Jahrhunderte?« Eric schüttelte den Kopf. »Das ist doch Blödsinn, willst mich nur hochnehmen, hm?«
Ehe sich Eric versah, hatte ihn Jaro am Kragen gepackt. Sein Gesicht war jetzt so nah, dass Eric das Trockenfleisch in seinem Atem riechen konnte. »Über meine Familie mache ich keine Scherze! … Alles fing mit dem Marquis de Lafayette an, an dem Tag, als er dieses Land von George Washington geschenkt bekam.«
»Ihr habt dieses Land von Washington geschenkt bekommen?«, antwortete Eric leicht gepresst unter Jaros Griff.
Jaro ließ ihn los und nickte. »Der Marquis und Washington haben Seite an Seite gekämpft. Sie haben den Rotröcken in Valley Forge kräftig in den Arsch getreten und das Land befreit. Lafayette hätte überall Land bekommen können, aber er wollte genau dieses, weil es bereits von seinen Landsleuten, den Arcadians besiedelt wurde … es war wilder als heute, fremder und voller Geheimnisse. Geheimnisse, die besser niemals gelüftet worden wären.« Jaro zog weiteres Trockenfleisch aus der Tasche und reichte Eric ein Stück. »Hier leben Dinge, die du dir nicht einmal in deinen wildesten Träumen vorstellen kannst!«
»Ich will es gar nicht wissen …« Eric sah zu den dunklen Wolken. »Ich sollte mich um Nina kümmern … Wir müssen einen Weg finden, wie wir weiterkommen, möchten eure Gastfreundschaft nicht ausnutzen.« Eric steckte das Trockenfleisch in seine Hosentasche und wollte gehen, doch Yunas Bruder packte ihn am Kragen und drückte ihn an den Stamm. »Du wirst nirgendwo hingehen … du wirst dir meine verdammte Geschichte anhören, damit du begreifst, dass die Dinge hier nicht so laufen wie in der Stadt!«
»Ich hör dir ja zu. Aber lass mich verdammt nochmal los«, stammelte Eric und hob beschwichtigend die Hände. Jaro machte ihm mit seiner aufbrausenden Art Angst. Er hatte keine Lust, mit diesem unberechenbaren Mann aneinanderzugeraten.
»Dann hör mir auch endlich zu …« Jaro ließ von Eric ab. »Der Marquis erbaute das Haus, in dem wir leben. Er machte Teile des Sumpflandes urbar und kanalisierte sogar den Atchafalaya ein Stück flussabwärts. Er schuf etwas Besonderes, doch er konnte nie die Herzen der Menschen gewinnen, die hier lebten. Sie warfen ihm vor, kein Arcadian mehr zu sein, die alte Leier eben … Der Marquis zog sich hierher zurück, kapselte sich ab und baute den großen Zaun.«
»Du meinst, diesen Zaun hier? Aber was sollte er denn abhalten? … Etwa die Menschen, die zu jener Zeit kaum mehr als Fallensteller und Bauern waren? Das halte ich doch für etwas übertrieben«, brach es aus Eric heraus. Vermutlich war der Marquis nichts weiter als ein introvertierter Adliger, dem es nicht passte, dass die Leute nicht nach seiner Pfeife tanzten, was am Ende der Auslöser dafür war, dass sich die Arcadians gegen ihn wandten.
»Wegen der Menschen hat er den Zaun nicht gebaut … die setzten keinen Fuß auf Cow Island. Er errichtete den Zaun, um die Kreaturen fernzuhalten«, entgegnete Jaro mit ernster Stimme.
Eric wollte nicht glauben, was er eben gehört hatte. Er war ein rational denkender Mensch, dem mystische Gestalten fremd waren. »Nicht dein Ernst, oder?«
»Was ich dir erzähle, ist so wahr, wie das Wasser der Bayous schlammig ist. Die Kreaturen leben seit Urzeiten in den Sumpfwäldern der Bayous. Sie waren der Grund, weswegen selbst die Indianer das Mississippi Delta mieden, lange, bevor die ersten weißen Siedler kamen. Für sie waren die Kreaturen die Geister ihrer Ahnen, die den Tieren näher waren als den Menschen. Die Cajuns nannten sie Rougarou. Das bedeutet …«
»Es reicht!«, erklang eine dunkle Stimme zwischen den Bäumen. Es war Chander, der mit einem Schrotgewehr über dem Arm aus den Büschen trat. Er trug keine Schuhe und seine Füße waren voller Schlamm. »Du machst unserem Gast Angst mit deinen Schauergeschichten.«
»Aber Vater, ich wollte doch nur …«, begehrte Jaro auf, doch sein Vater brachte ihn mit einer ärgerlichen Handbewegung zum Schweigen.
»Die Geschichte fing gerade an, spannend zu werden …«, sagte Eric. Er fragte sich insgeheim, wie lang Chander wohl schon hier gestanden hatte.
Chander lächelte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er zog Eric von Jaro weg und ging mit ihm den Weg hinab, dorthin, wo das Herrenhaus lag. »Die Rougarou sind eine uralte Legende, die durch die Zeiten wandert. Ich will dich nicht enttäuschen, mein Freund, aber hier, bei Tageslicht, findet sich nicht der richtige Rahmen, um solche Geschichten zu erzählen … Das Mysterium hätte keine Möglichkeit, seine Wirkung zu entfalten …«
»Gut möglich«, murmelte Eric. Ihm war die Berührung Chanders unangenehm, er traute sich aber nicht, etwas dagegen zu unternehmen.
»Heute Nacht, nachdem wir gegessen haben, ist es angemessen. Dann erzähle ich dir die ganze Geschichte … Du hast als unser Gast ein Anrecht darauf, die volle Wahrheit über den Marquis de Lafayette und die sagenumwobenen Rougarou zu erfahren!« Chander klopfte ihm auf die Schulter und zwinkerte ihm auf verschwörerische Art zu. »Und jetzt solltest du dich um deine Freundin kümmern, ich glaube, sie ist im Moment ziemlich anlehnungsbedürftig.«