Als wäre sie herausgekrochen
Nina saß im Gästezimmer und starrte die Wand an. ‚Es hat einen tieferen Sinn, weswegen du hier bist‘, erinnerte sich Nina an Poebes Worte, du wirst es heute Nacht erfahren, wenn der Blutmond hoch am Himmel steht.
»Nichts ergibt einen Sinn«, sagte sie zu sich selbst und vergrub den Kopf in ihren Händen. Poebe machte ihr Angst, mehr, als das Wasser, in dem ihre Schwester ertrunken war.
Sie hatte Poebe nicht alles erzählt. Dass ihre Schwester nie gefunden worden war, hatte sie für sich behalten. Der Seitenarm des Tennessee River war nicht besonders tief, aber unter der Oberfläche gab es starke Strömungen, die direkt in den Hauptwasserlauf führten. Die waren der Grund, weswegen ihre Schwester ertrunken war, hatte man ihr damals gesagt. Geglaubt hatte sie es nie. Für sie war Tamy immer noch dort unten, im dunklen Wasser. Tamy wartete darauf, dass sie zu ihr kam, hinabsank, in die kalte, tödliche Tiefe. Allein der Gedanke, dass das Wasser der Flüsse, Seen und Meere auf der ganzen Welt miteinander verbunden war, ängstigte sie. Über Wasserläufe, teils sogar unterirdisch, aber auf jeden Fall verbunden. In ihrer Vorstellungskraft konnte ihre Schwester praktisch überall sein, weil sie selbst zu Wasser geworden war.
Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Nina hob den Kopf und sah Eric im Türrahmen stehen. »Hey …«
»Hey …«, antwortete sie schwach.
»Darf ich reinkommen?«
»Klar … Ein wenig Gesellschaft würde mir jetzt gut tun …« Nina machte ihm Platz und klopfte mit der Hand neben sich auf die Bettdecke. »Komm, setz dich!«
Kurz darauf hockte sich Eric neben sie und sah auf seine Fußspitzen. Nina empfand es als die gleiche Situation wie im Auto. Sie saßen auf Abstand und gaben sich Mühe, sich weder anzusehen noch zu berühren. Der gravierende Unterschied bestand darin, dass sie sich in ihrem Schlafzimmer befanden.
In Eric’s Kopf spielten sich ähnliche Gedanken ab ...
Im Schlafzimmer, verdammt, dem heiligsten aller Räume, ging es Eric durch den Kopf. Allein dieser Umstand machte es ihm unmöglich, sich mit Nina vernünftig zu unterhalten. Dennoch gab es Redebedarf. »Wir werden eine weitere Nacht hierbleiben müssen«, begann er zögerlich.
Nina seufzte schwer. »Shit … und warum?«
» … da liegt dieser verdammte Baum auf dem Weg …«, flüsterte Eric.
»Dachte, den wolltet ihr wegschaffen? … Du hattest es mir versprochen, Eric Du hast gesagt, dass wir heute aufbrechen!« Nina bekam eine Gänsehaut, wenn sie nur daran dachte, eine weitere Nacht bei dieser seltsamen Familie zu verbringen.
»Nicht mal die Hälfte des Baumes haben wir geschafft … aber … da ist noch etwas, was ich dir erzählen wollte!« Eric war nervös, weil er nicht wusste, wie er anfangen sollte. »Es ist diese Familie. Mit der stimmt was nicht …«
Nina lachte kurz und gepresst. »Ach, wirklich? … Wow! Entschuldige, dass ich nicht überrascht bin. Während du weg warst, machte ich meine eigenen Erfahrungen mit der Dame des Hauses.«
»Poebe?«, wollte Eric wissen.
»Ja, Poebe! Sie hat mich auf diesen Steg hinausgeschleppt, über das Wasser.« Nina räusperte sich leise.
»Und?«, hakte Eric nach. Er wusste nicht, was daran so schlimm sein sollte.
»Ach, egal … hab da eben meine Probleme mit«, antwortete Nina knapp. »Ich finde, wir sollten von hier verschwinden. Das Haus macht mir Angst, der Steg macht mir Angst und dieses verdammte Familie ebenfalls … wir hätten nie herkommen sollen.« Sie warf Eric einen flehenden Blick zu.
Der nickte. »Es war ein Fehler, ja … aber das konnten wir nicht wissen.«
Und wir konnten nicht wissen, dass diese verrückten Jäger im Wald herumrennen und versuchen werden, uns alle umzubringen
. Eric hatte nicht vor, Nina mit diesem womöglich wichtigen Detail noch mehr zu ängstigen. Er hatte einen Plan. Einen vagen, unsicheren zwar, aber immerhin einen Plan. »Es ist noch ne Weile hell … Was denkst du, sollen wir diesen verdammten Zaun abgehen und uns hier ein bisschen umsehen?« Er wollte Nina mit der Erkundungstour nach draußen bringen und ihr so etwas von ihrer Angst nehmen.
Nina lachte auf. »Nicht dein Ernst, oder?«
Eric lächelte sie verlegen an. »Ich meine, wir sitzen hier auf dem Bett und machen uns vor Angst in die Hosen, da wäre es doch zumindest nicht schlecht, wenn wir wüssten, wie groß dieses Areal überhaupt ist und ob der Zaun tatsächlich das gesamte Gelände umschließt.« Um seine Worte zu unterstreichen, stand er auf und sah Nina mit aufforderndem Blick an. »Ist zwar nicht das Wochenende, das wir uns gewünscht haben, aber he, wir werden nächste Woche ne Menge zu erzählen haben!«
Nina blies ihre Wangen auf. Ihr war anzusehen, dass sie es verabscheute, in dieser schwülen Südstaatenhitze durch ein unbekanntes Sumpfland zu stolpern, in dem weiß Gott was auf sie lauern konnte. Tatenlos herumzusitzen war allerdings auch keine bessere Option. »Meinetwegen …«
Fünfzehn Minuten später …
Wie ein rostiges Messer zerschnitt der Zaun den Wald, womöglich sogar die ganze Welt. Manchmal war er unter Efeu verborgen oder hinter dichtem Buschwerk versteckt. Er teilte einen Wasserlauf in zwei Hälften, doch immer war er intakt und mit seinen eisernen Spitzen unüberwindlich. Es gab keinen Weg, dem man folgen konnte, nur einen schmalen Pfad entlang des Zauns. Der Wald lichtete sich, beschrieb einen Bogen und folgte einem breiteren Wasserlauf, der mit seinem braunen Wasser durch das Sumpfland schlängelte.
»So viel Eisen muss doch ein Vermögen gekostet haben«, stellte Eric nüchtern fest.
Nina nickte. »Der Aufwand muss enorm gewesen sein. Überleg mal, ein solcher Zaun wäre selbst heute eine immense Herausforderung, von den Kosten ganz zu schweigen. Dafür muss es einen triftigen Grund gegeben haben … Ich sags dir, die wollten was besonders Gefährliches davon abhalten, hier einzudringen!« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, stoben ein paar Vögel aus den Baumwipfeln und flogen schimpfend davon.
»Oder um was drin zu halten«, erwiderte Eric. Mit einer leichten Unruhe erinnerte er sich an Jaros Geschichte.
»Huh … gefährlich und absolut tödlich.« Nina formte ihre Hände zu Pranken und fletschte die Zähne.
Eric blieb stehen und runzelte die Stirn. »Womöglich will man es daran hindern, Cow Island zu verlassen … Wie wäre es denn damit?«
Nina strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Die Version mit dem Aussperren gefällt mir wesentlich besser.« Ihr Haar leuchtete orangerot in der Sonne, die durch das lichte Blätterdach fiel.
Eric blinzelte. »Jaro hat da was erzählt.« Er packte zwei der Eisenstangen mit den Händen und rüttelte daran. »Bevor die ersten Siedler kamen, gab es in den Sümpfen in der Tat so etwas wie … na ja, mir fällt kein anderes Wort dafür ein … Untiere.« Kaum hatte er es ausgesprochen, kam es ihm albern vor.
»Untiere?«, wiederholte Nina sichtlich überrascht. »Also schlimmer als Alligatoren?«
»Rougarou«, antwortete Eric und folgte weiter dem Zaun.
»Was für ein Ding?«
»Jaro nannte die Wesen Rougarou … Sie waren angeblich so bösartig, dass selbst die Indianer das Land mieden. Nur der Vorfahre der Lafayettes, dieser Marquis, der hatte den Mut, sich ihnen entgegenzustellen.«
Nina ging hinter Eric her. »Hört sich eher nach Fabelwesen an, hm?«
»Jaro wollte mir alles erzählen, doch dann tauchte Chander auf und … nun ja, ich hatte den Eindruck, dass er das verhindern wollte … Aber wahrscheinlich ist eh nichts an der Sache. Wie du sagst, nur ein Märchen.« Eric blieb in einem dornigen Busch hängen und fluchte, weil er in eine Pfütze getreten war.
»Mir macht diese Familie mehr Angst als ein fiktives Monster«, stellte Nina fest und befreite ihn aus dem widerspenstigen Gestrüpp, »Eine Familie, bei der nichts normal zu sein scheint … wo alle weltfremd und barfuß durch die Gegend laufen … das ist schon ein bisschen gruselig.«
Weitere fünfzehn Minuten später …
Der Zaun hatte eine Biegung nach rechts gemacht und verlief jetzt durch ein Feuchtgebiet. Mooriges Wasser stand zwischen den Bäumen, Zikaden zirpten in den Büschen und Frösche quakten in der stinkenden Brühe, die sich wie ein dunkler Spiegel vor ihnen ausbreitete. Das mussten die ersten Ausläufer des Cow Island Lake sein, einem versumpften Gewässer, das wie eine Kloake stank, sodass man sich fragen musste, ob es überhaupt mit dem Atchafalaya River verbunden war. Libellen summten in dem mit Schilf bewachsenen Ufer.
»Heilige Scheiße, was ist das denn?« Eric rümpfte die Nase. Wenn dieser bestialische Gestank nicht gewesen wäre, hätte es ein durchaus mystischer Ort sein können. Er tauchte seine Hand ins Wasser, roch daran und schüttelte den Kopf. »Das Wasser ist es jedenfalls nicht.«
Nina schnüffelte jetzt ebenfalls in der Luft herum, und zeigte dann auf eine Stelle, an welcher der Zaun zwischen dem Gestrüpp verschwand. »Ich glaube, es kommt von dort vorne!«
Sie wollte sich schon auf den Weg machen, doch Eric hielt sie am Arm fest. »Bist du sicher, dass du dorthin willst? … Ich meine, bei dem Gestank liegt dort vermutlich ein totes Tier. Was Größeres, ein Reh womöglich.«
»Was immer es ist, ich will es sehen!« Nina klang entschlossen. So redete sie, wenn es auf der Arbeit etwas zu entscheiden gab und sie keinen Widerspruch duldete.
Wenn Eric nicht wie ein feiger Looser dastehen wollte, musste er also die Initiative ergreifen. Vor allem, weil er die nächsten Wochen, wenn nicht sogar Monate mit ihr zusammenarbeiten musste und sich mehr zwischen ihnen erhoffte. »Meinetwegen, sehen wir nach.« Eric stapfte mit einem unguten Gefühl in der Magengegend los. Was dort in den Büschen lag, es musste schon länger dem feuchtwarmen Klima ausgesetzt sein. Er spürte Nina genau hinter sich. Neben all dem Gestank roch er ihren frischen Schweiß, als hätte sie vor kurzem geduscht und danach Sport getrieben. Eric schüttelte den Kopf, um diese für ihn mehr als ungewöhnlichen Gedanken zu vertreiben.
Die Büsche standen dicht, waren ineinander verwachsen und wurden von alten, knorrigen Bäumen überschattet, die das Sonnenlicht nahezu ausschlossen. Eric bog die Zweige auseinander und arbeitete sich durch das dichte Gestrüpp, sank dabei mit den Schuhen bis über die Knöchel im nassen Boden ein. Sobald er seine Füße schmatzend vom Untergrund hob, füllten sich die eben entstandenen Löcher mit dunklem Wasser. Unter dem Blätterdach war es angenehm kühl und dunkel.
Endlich schob er die letzten Zweige auseinander und erblickte eine kleine Lichtung. Genau in der Mitte gab es einen nahezu runden, mit welken Blättern bedeckten Tümpel, aus dem dieser unerträgliche Gestank aufstieg. Es war der Blick in eine andere, tote Welt. Die Büsche am Rand waren abgestorben, ihre Äste dürr. Das Laub raschelte trocken unter seinen Füßen. »Wow … ziemlich seltsam hier, oder?« Er drehte sich um und half Nina aus dem Gebüsch heraus.
Selbst vor dem Eisenzaun hatte der morbide Zerfall nicht haltgemacht. Viele Stäbe waren verbogen, einige sogar aus der Umfassung gebrochen. Wo sie am Boden lagen, umgab sie eine rostbraunen Brühe, die an Blut erinnerte.
Nina rieb sich die Arme. »Ganz schön unheimlich hier, findest du nicht?«
Eric spielte den harten Mann und zuckte mit den Schultern. »Geht so …« In Wahrheit empfand er diese Lichtung als äußerst unangenehm und abweisend. Selbst Vögel schienen die alten Bäume zu meiden, es war still wie in einem Grab.
»Sieh mal«, sagte Nina. »Dort hinten, auf der anderen Seite des Zauns, ich glaube dort ist ein Weg …«
Eric ging zu der Stelle, auf die Nina zeigte. Er lief am Wasserloch vorbei, als sein Fuß abglitt und im grauen Schlick versank. »Scheiße, verdammt!« Eric strauchelte, ruderte Halt suchend mit den Armen. Plötzlich hatte er keinen Boden mehr unter den Füßen. Mit aufgerissenen Augen sah er, wie Nina auf ihn zusprang, doch es war zu spät. Für einen kurzen Moment blieb die Zeit stehen, dann klatschte er in die stinkende Brühe.
Eric tauchte unter, schluckte das bitter schmeckende Wasser. Es drang ihm in Mund, Nase, in die Ohren sogar. Klumpig, faul und zäh. Er strampelte in etwas herum, das nach ihm zu greifen schien, das versuchte, ihn nach unten in die Dunkelheit zu zerren, weich, faserig und voller Haare. Mit aller Kraft stieß er sich ab, um endlich mit dem Kopf voran die Finsternis zu durchbrechen und aufzutauchen. Er riss den Mund auf, schnappte nach Luft, würgte, schluckte noch mehr Wasser. Verschwommen erkannte er Nina, die am Rand des Wasserloches kopflos umher rannte.
»Nina … verdammt … hilf … mir«, stieß Eric mühsam hervor. Er tauchte erneut unter, weil seine Füße einfach keinen Halt fanden. Als er auftauchte, kniete Nina am Rand und streckte ihm ihre Arme entgegen. Eric streckte seine Arme aus der ekligen Brühe, bis sich endlich ihre Hände trafen und einander umschlungen.
Nina zerrte mit aller Kraft an Erics Armen, ihr Blick war starr, die Augen weit aufgerissen. Sie wimmerte jedes Mal, wenn sie das aufgewühlte Wasser berührte, selbst bei einem Spritzer. Da schwammen Dinge im Wasser, kamen mit Eric hoch und durchbrachen die Oberfläche, als hätten sie eine Ewigkeit auf diesen einen Augenblick gewartet. Direkt neben ihrem strampelnden Freund kam ein zweiter Kopf nach oben, teilte mit seinem schwarzen Haarschopf das Wasser, die Augen in tödlichem Weiß, die Haut aufgequollen und grau.
Tamy kommt, um mich zu holen. Sie wartet in der Finsternis auf mich, durchfuhr es Nina wie ein Stromschlag. Fast hätte sie Eric losgelassen, stattdessen riss sie ihn mit einer ungeahnten Kraft nach vorne, hinaus aus dem Wasser. Er sank neben ihr bäuchlings auf den schmatzenden Boden, hustete und röchelte.
Das Scheusal kroch ebenfalls an Land, und kam Nina, den Mund wie höhnisch lächelnd aufgerissen, hinterher, um sie in die Tiefe zu zerren. Nina sprang auf, taumelte schreiend auf die Büsche zu, und brach dort in die Knie, weil ihr die Kraft versagte. Schließlich schlug sie die Hände vors Gesicht, wimmerte und wartete auf das Unvermeidliche.
Als Eric wieder zu sinnen kam …
Der Schock saß ihm tief in den Knochen. Eric wischte sich den Schlamm aus dem Gesicht, spuckte aus, und sah den aufgedunsenen Körper. Er lag direkt neben ihm. »Scheiße, was …« Er robbte rückwärts, doch das hässliche Ding mit dem madenbleichen Gesicht und wirrem schwarzen Haar kroch ihm hinterher. Solange, bis er begriff, dass es sich mit den Haaren in seinen Schuhen verfangen hatte. Durch die ruckartigen Bewegungen hatte sich der aufgeweichte Haarschopf bereits halb vom Schädel gelöst.
Was er da aus dem Wasser mitgebracht hatte, war die Leiche einer dunkelhaarigen Frau. Eric strampelte sich frei und kroch rückwärts von dem stinkenden Bündel toter Mensch weg.
Abgesehen von der Aufbahrung eines entfernten Onkels in der Leichenhalle war es die einzige Leiche, die er bisher gesehen hatte. Sie sah anders aus als der Onkel, den man für die Beisetzung ordentlich zurechtgemacht hatte. Die hier war weich und weiß und aufgeblasen. Die Augen seines Onkels waren geschlossen gewesen, um einen friedlich schlafenden Eindruck zu vermitteln. Die der Frau starrten ihn dagegen milchig und blass an. Ihr Blick ging ihm durch Mark und Bein.
Schon allein ihr Gestank verwehrte es ihm, einen klaren Gedanken zu fassen. Es dauerte eine Weile, bis er der Anwesenheit von Nina gewahr wurde, die hinter ihm auf dem Boden hockte und schluchzte. Eric zwang sich nach oben, stand auf und ging zu ihr. Er kniete sich vor sie und berührte vorsichtig ihre roten Haare. »Nina …«
Erics Stimme klang seltsam entfernt und dumpf, wie aus großer Entfernung, doch er saß plötzlich direkt vor ihr. Nina blinzelte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Tamy … sie … sie hat auf mich gewartet, ich habe es die ganze Zeit über gewusst!«
Eric sah mit einem schnellen Seitenblick zu der Toten, um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Die Präsenz der Leiche war ihm unangenehm, sie machte ihm Angst.
»Tamy?« Er berührte Ninas Schulter, denn es tat ihm weh, sie so zu sehen, ein Häufchen Elend, weinend.
Nina sah ihn aus ihren geröteten Augen traurig an. Ihr schien bewusst zu werden, dass sich mit dem Betreten dieser Lichtung alles geändert hatte. Nicht nur ihr Leben, sondern auch ihre Beziehung zu Eric, der nass, schmutzig und mit besorgter Miene vor ihr kniete. Zwischen ihnen bestand jetzt ein Band, das sich nicht mehr so leicht lösen würde.
»Tamy war meine Schwester«, erklärte sie mit zitternder Stimme. »Sie ist vor Jahren bei einem Badeausflug ertrunken, da war ich noch klein. Ihr habe ich zu verdanken, dass ich überhaupt noch hier bin!« Der Schmerz um den Verlust der geliebten Schwester kehrte zurück, drang in sie ein und durchschnitt sie förmlich. »Sie hat mir das Leben gerettet und dafür mit dem eigenen bezahlt …«
Eric schluckte. »Okay, das … es tut mir leid, Nina.« Andererseits tat es ihm überhaupt nicht leid, denn er kannte ihre Schwester nicht und zudem, wenn es anders gewesen wäre, würde Nina jetzt nicht vor ihm sitzen. »Wir sollten von hier verschwinden«, versuchte er, das unangenehme Schweigen zu durchbrechen, das sich zwischen ihnen ausbreitete. »Und wir sollten die Cops verständigen. Die müssen sich um diese Schweinerei hier kümmern!«
Eric räusperte sich mehrmals, stand auf, presste sich den nassen Ärmel seines Shirts auf Mund und Nase, um den Gestank zu mildern, was natürlich überhaupt nichts brachte, da das Wasser selbst nach Leiche stank. Er lief mit zögerlichen Schritten zu der Frauenleiche zurück, um sie sich genauer anzusehen. Es fiel ihm bei Gott nicht leicht, aber von dem toten Körper ging eine morbide Anziehungskraft aus.
Sie trug ein geblümtes Sommerkleidchen, das sich wie eine zweite Haut um ihren aufgequollenen Körper schmiegte. Während ihr Kopf nahezu unversehrt schien, war der Rest von ihr zerstört. Arme und Beine waren von großflächigen Wunden bedeckt, die hungrige Tiere in ihr hinterlassen hatten. Auf Höhe des Herzens klaffte ein großes, schmieriges Loch, angefüllt mit dunkler Flüssigkeit. Die Faszination des Todes nahm Eric gefangen. Vorsichtig, als könne sie durch eine unbedachte Bewegung von ihm erwachen, ging er in die Knie, um sich die Wunden genauer anzusehen. Eric versuchte, ihrem starren Blick auszuweichen, dennoch bannte ihn ihr bleiches Antlitz auf eigentümliche Weise. Womöglich war es die Angst, dass sich plötzlich ihre Augen bewegten.
Vor allem die Wunden an ihren Gliedmaßen sahen so aus, als hätte sich ein großer Hund, vielleicht sogar ein Wolf darin verbissen. Deutlich waren die Zahnspuren an den zerfaserten Wundrändern zu erkennen, je zwei große, tiefe, zwischen denen sich mehrere kleinere Abdrücke befanden. Wer konnte schon sagen, welche Tiere es hier gab.
Nur das Loch, das einst das Herz des Mädchens verbarg, hatte klar abgegrenzte Wundränder.
Jemand hat sie überwältigt und ihren Körper aufgebrochen
.
Anschließend hat er das arme Ding den Tieren überlassen und in der Grube entsorgt. Ein schauerlicher Gedanke.
Bestialisch ermordet und den Tieren zum Fraß vorgeworfen zu werden, war schlimm, aber Eric fand das respektlose Wegwerfen des toten Körpers noch viel übler. Der Mörder hatte ihre Existenz ausgelöscht und die Leiche wie Dreck liegengelassen. Niemand würde je an ein Grab gehen können, um mit ihr zu reden.
»Eric, das solltest du dir ansehen …«, sagte Nina leise. Er hatte nicht bemerkt, dass sie hinter ihn getreten war. Er sah zu ihr auf und folgte ihren angstgeweiteten Augen auf den Tümpel. Sein Herz krampfte bei dem Anblick, der sich ihm bot. »Ach du Scheiße«, rief er aus.
Anfangs war das Wasserloch mit Laub bedeckt gewesen, das er durch seinen Sturz ins Wasser und seinen unbeholfenen Befreiungsversuchen aufgewühlt hatte. Die Blätter bildeten jetzt Inseln, zwischen denen weitere Leichen aus dem Wasser ragten. Womöglich waren es nur Teile, so genau war das nicht zu erkennen. Eric stand auf und schwankte, doch Nina griff seine Hand. Einen kurzen Moment hielten sie einander fest, doch dann stieg ihm Galle die Speiseröhre hoch und er wandte sich würgend ab. Er erbrach sich neben dem toten Mädchen, bis außer bitterer Galle nichts mehr kam.
Minuten später …
Zitternd standen sie eng beieinander und starrten auf das grauenvolle Wasserloch, das zum Grab geworden war. Sie waren nicht in der Lage, sich abzuwenden. Nina klammerte sich an Erics Unterarm. »Das Loch ist angefüllt mit toten Menschen. Es müssen Duzende sein, wenn nicht mehr.« Er bereitete ihr Mühe, die Worte auszusprechen. »Meinst du, diese Psychofamilie hat was damit zu tun?«
Eric fuhr sich mit der freien Hand übers Gesicht. Er fühlte sich elend, ausgebrannt. »Ich weiß es nicht … das Loch liegt jedenfalls auf ihrem Land«, antwortete er leise. »Einige scheinen noch nicht lang im Wasser zu liegen, höchstens ne Woche.« Resignierend zuckte er mit den Schultern, denn er war in solchen Angelegenheiten gewiss kein Experte und hatte seine Vermutung nur ausgesprochen, um nicht blöd dazustehen. Er wollte hier so schnell wie möglich weg, doch er wusste nicht, wohin.
»Der Zaun …«, sagte Nina.
»Was ist damit?«
»Es sieht aus, als hätte ihn was von außen umgedrückt. Ein schwerer Geländewagen vielleicht.« Nina nickte mit dem Kinn dorthin, wo die eisernen Stäbe des Zauns wie Streichhölzer aus der Verankerung gebrochen waren, um am Boden liegend vor sich hin zu rosten. Dahinter, höchstens drei, vier Meter entfernt, sah er jetzt auch den Weg. »Hast recht, so wie die Büsche aussehen.«
Tatsächlich war das Buschwerk an dieser Stelle niedergedrückt. Abgebrochene Äste lagen welk in tiefen Reifenspuren. Eric ging zu dem Durchgang und rieb sich mit beiden Händen mehrmals übers Gesicht, um einen klaren Gedanken fassen zu können. »Da hat einer den Zaun zerstört, um die Leichen zu entsorgen.« In seinem Kopf formten sich wilde Gedanken. »Ich meine, der Verdacht würde auf die Lafayettes fallen, wenn die Cops sie finden. So, wie Yuna gesagt hat. Jemand will ihnen schaden.«
Nina trat neben ihn. »Kann sein oder auch nicht«, antwortete sie lakonisch und kletterte über die Gitterstäbe nach draußen.
»Was wird das jetzt?«, wollte Eric wissen.
»Na wir hauen von hier ab, gehen nach Butte la Rose und erzählen den Cops von dem hier«, antwortete Nina und lief zielstrebig zum Weg.
»Aber du weißt doch gar nicht, in welcher Richtung das Kaff liegt … und überhaupt, sollten wir nicht besser zurückgehen … Unsere Sachen holen und das Auto? Das ist ein Leihwagen, den kann ich nicht einfach stehen lassen. Das gibt nen riesen Ärger!«
Nina ging bis zum Wegesrand und sah sich dort um. »Schön, dass dir dein Auto so wichtig ist, aber da liegen Tote, schon vergessen? Ich werde den Teufel tun und hierbleiben. Am Ende liegen wir selbst in der Brühe … Ist aber deine Entscheidung, was du machst!« Damit ging sie los, folgte dem Weg nach rechts, weil ihr diese Richtung richtig erschien.
»Nina! … so warte doch. Ich … ach scheiß drauf!« Eric lief ihr hinterher, denn die Vorstellung, allein an diesem Leichentümpel zurückzubleiben, weckte tiefe Ängste in ihm.
Nina kam zurück, rannte wie vom Teufel gejagt zurück auf die Lichtung. »Wir müssen abhauen, schnell!«, stieß sie völlig außer Atem hervor.
Eric packte sie bei den Schultern, »Was zur Hölle ist denn los …«
Dann hörte er die Motorengeräusche. Dem Klang nach musste es ein großes Fahrzeug sein, eines das durchaus in der Lage wäre, den Zaun umzudrücken. »Die Büsche!« Er nahm Nina bei der Hand und zog sie hinter sich her, zu einer Stelle, an der der Bewuchs besonders dicht war. Kaum, dass sie sich zwischen den Blättern verkrochen hatten, bog der Wagen vom Weg in die Schneise ein, die direkt zum Zaun führte. Eric traute seinen Augen nicht. Es war der Wagen, der ihm zusammen mit dem Ford Bronco an der Kreuzung in Butte la Rose die Vorfahrt genommen hatte. Er erkannte den verdreckten Truck sofort an der zerbeulten Fahrertür und den großen Lampen, die auf dem Dach der Fahrerkabine montiert waren. Vier überdimensionale kreisrunde Augen. Der Wagen stoppte direkt vor dem Zaun, das tiefe Blubbern des Motors erstarb und die Türen öffneten sich. Der Fahrer, ein großer, kräftig gebauter Kerl mit wildem, rotem Bart und langen, geflochtenen Haaren, kletterte durch den Zaun und sah sich um.
Eric fiel sofort die große Pistole auf, die der Mann an der Seite trug. Er spürte, wie sich Ninas Fingernägel in seinen Unterarm gruben.
Der Mann blieb vor der Frauenleiche stehen und spuckte einen dicken Klumpen Kautabak auf ihren Bauch. »Was zur Hölle hat die Schlampe außerhalb des Wasserlochs verloren. Scheiße, verdammte!«
Sein Begleiter, ein gedrunger Mann mit dem unsteten, nervösen Blick einer in die Enge getriebenen Ratte, hantierte an der Ladeklappe des Trucks herum. »Was denn, Anderson … die ist nicht unsere Sache jetzt.«
»Ist mir klar, Mann. Allerdings lag sie letztes Mal im Wasser, da bin ich mir sicher. Könnte meinen, sie ist herausgekrochen.« Mürrisch stieß er den leblosen Körper mit dem Stiefel an. »… doch die is so tot, wie man nur tot sein kann …«
Die Ladeklappe schwang mit einem schrillen Geräusch nach unten. »Scheiße Mann, denk nich’ drüber nach, hat wohl n' verdammter Köter aus dem Wasser gezogen … womöglich hatten die Franzosen ja Hunger. Weißt ja, wie die drauf sind!«
Die Männer verfielen in ein raues, krächzendes Lachen. Nina presste sich die Hand auf den Mund. Ihre Sommersprossen leuchteten auf ihrer kreidebleichen Haut, die Augen glichen zwei vor Angst geweiteten Kreisen. Eric, dem selbst der Arsch auf Grundeis ging, kaute nervös auf seiner Unterlippe herum und wagte es nicht, die beiden Kerle aus den Augen zu lassen.
Die hantierten eine Weile auf der Ladefläche herum und zogen einen langen, in eine Plastikplane eingewickelten Gegenstand darunter hervor und schleppten ihn fluchend zum Wasserloch. Nachdem sie ihr Paket abgelegt hatten, öffneten sie die Plane.
Erics Magen revoltierte, als er sah, was die zwei Männer auspackten: Es war eine weitere Leiche, ein Mann, nur mit einer dunklen, schmutzigen Hose bekleidet, barfuß. Unwillkürlich musste er an die Lafayettes denken. Der Leichnam hatte keinen Kopf, was ihn unecht erscheinen ließ.
Er hörte, wie Nina würgte und sich die Hand auf den Mund presste. Würde sie sich jetzt übergeben, wären sie geliefert.
»Schau dir mal den Boden an, die hat einer aus dem Wasser gezogen … da sind überall Abdrücke. Müssen zwei gewesen sein, der Größe nach zu urteilen ein Mann und ne Frau«, knurrte der Rothaarige. »Und dort hinten hat einer hingekotzt …«
Der gedrungene Typ ging neben der Frauenleiche in die Hocke. »Was soll’n wir jetzt mit ihr machen?« Mit einer zärtlichen Geste, die so gar nicht zu ihm passte, strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »War mal n' verdammt hübsches Ding … geriet leider an die falschen Leute.«
»Die lassen wir liegen, geht uns nichts an … geben wir den Lafayettes ihre Brut zurück und hauen ab!«
Die beiden Männer packten die kopflose Leiche an Armen und Beine und warfen sie in das Wasserloch.
»Ist schon ne verdammte Ironie«, sagte Anderson nachdenklich, »dass im Leichenloch der Franzosen jetzt einer von ihnen schwimmt.«
Die Männer hörten das Brummen eines Motors und drehten sich um. Die Hand des Rothaarigen legte sich auf den Griff seiner Waffe. »Scheiße …«
Hinter dem Truck tauchte ein Geländewagen auf und stoppte. Auf den Türen ein großer Stern, darunter stand Butte la Rose, Sheriff.
»Was will denn Carter hier?«, fragte der Gedrungene sichtlich überrascht.
»Wir werden es wohl gleich erfahren.«
Der Sheriff, ein großer Mann mit kantigem Kinn und genervtem Gesichtsausdruck, ging zu den beiden Männern, die bei der Frauenleiche standen, und nickte ihnen zu. »Es gibt Probleme …«
»Was?«, wollte Anderson wissen.
»Hab nen Schmierfink geschnappt … der hat euch am alten Fort beobachtet und ne Menge Bilder gemacht … weißt schon, von was«, sagte der Sheriff.
Der steckt mit diesen Typen unter einer Decke, dachte Eric erschrocken. Doch was war das für ein Schmierfink und wovon hatte der Bilder gemacht?
Etwa von dem Mord an dem Kopflosen, bei dem es sich vermutlich um Yunas vermissten Bruder handelte?
Wenn die Cops mit diesen Typen gemeinsame Sache machten, war die Lage gefährlicher als vermutet. Sie konnten weder in der Stadt noch bei den Lafayettes auf Hilfe hoffen. Und das alles nur, weil er gedacht hatte, es wäre eine gute Idee, einen Abstecher in die Bayous zu machen.
Der Sheriff sprach weiter. »Peggy und Timothy haben ihn zu Butch gebracht, der wird sich um ihn kümmern … aber wir müssen in Zukunft vorsichtiger sein, die verdammten Interstatemorde locken diese Schmierfinken an wie Scheiße die Fliegen.« Der Sheriff sah die Männer mit ernstem Blick an und schob seinen Hut in den Nacken.
»Die Interstatemorde gehen nicht auf unser Konto, Sheriff«, antwortete der Rothaarige mürrisch. Sein Kumpel nickte bestätigend. »So isses, Mann!«
»Klar … das wisst ihr und das weiß ich, aber ’n Fremder wird das anders sehen. Er wird verdammte Jäger mit verdammten Gewehren sehen, die in nem verdammten heruntergekommen Motel hausen, obwohl jetzt keine Saison ist«, gab Carter zu bedenken.
Eric hatte von diesem Killer gehört, der Fahrzeuge auf der Interstate 10 stoppte und die Insassen verschleppte. Die Typen hier hatten offensichtlich den Kopflosen umgebracht, distanzierten sich aber deutlich von diesem Killer. Er dachte an Jaro und sein aggressives Verhalten, an Chander, der im Busch herumschlich und an Yuna, die ihnen mitten in der Nacht vors Auto gelaufen war. Das mit der Familie etwas nicht stimmte, lag klar auf der Hand. Jetzt behaupteten diese Männer, dass der Tümpel die Leichengrube der Lafayettes war. Wie die Manson Family zeigten auch die Lafayettes in ihrem ganzen Verhalten sektenartige Züge. Sie liefen barfuß umher, lebten in ihrer Welt nach eigenen Regeln und schotteten sich ab. Es fiel im schwer, all die Gedanken zu ordnen, aber die Einsicht, von Mördern umgeben zu sein, erhärtete sich mit jeder Sekunde. Eric konnte hinter Ninas ängstlichem Blick ähnliche Gedanken erahnen.
»Hauen wir ab«, sagte der Rothaarige und schlug dem Sheriff im Vorbeilaufen auf die Schulter. »Morgen Nacht ist Vollmond … danach ist die Sache erledigt und Ruhe kehrt ein!«
Der Sheriff sah dem Mann skeptisch hinterher. »Ich werde dich an deine Worte erinnern.«