Die Tagebücher des Marquis
Eric wischte sich mit der Serviette den Mund ab, faltete sie zusammen und legte sie neben seinen leeren Teller. Poebes Essen hatte hervorragend geschmeckt, das Fleisch war zart, leicht rosa gewesen, das Brot frisch duftend und knusprig. Dennoch hatte es ihn Überwindung gekostet, etwas davon zu essen. Nina saß ihm gegenüber und hatte ihrerseits das Essen kaum angerührt. Ihre Augen suchten ständig den Kontakt zu den seinen. Er las Angst in ihrem Blick, was nach den Erlebnissen dieses Tages nur allzu verständlich war.
Nachdem die Männer in ihre Fahrzeuge gestiegen und verschwunden waren, hatten sie bis zum frühen Abend an der Grube im Gebüsch gesessen und versucht zu begreifen, was geschehen war. Doch das konnten sie nicht. Es gab so viele Fragen, auf die sie keine Antworten hatten. Erst, als die Schatten länger wurden, trauten sie sich aus ihrem Versteck und machten sich auf den Rückweg zu den Lafayettes. Zum einen, weil dort ihre Sachen und der Wagen waren, zum anderen, weil sie davon ausgingen, dass nicht nur der Sheriff, sondern dieser ganze verfluchte Ort namens Butte la Rose in die Sache verwickelt waren. Wie es aussah, war die Psychofamilie das kleinere Übel. Über ihren Ausflug hatten sie während des Essens nicht ein Wort verloren. Es galt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Inzwischen war es Nacht geworden. Sie saßen zusammen mit den Lafayettes an dem großen Tisch unter dem Dach der Veranda und hörten den Fröschen zu, wie sie um die Wette quakten. Chander thronte am Kopfende und trug wieder diesen altmodischen Gehrock. Er lehnte sich entspannt im Stuhl zurück und bohrte mit einem Holzstäbchen zwischen seinen Zähnen herum, während Jaro den letzten Rest des Fleisches in den Mund stopfte.
Poebe, die am anderen Ende des Tisches saß, lächelte Nina zu. »Du hast ja gar nichts gegessen, Kind«, sagte sie mit besorgter Stimme. »Das ist gar nicht gut, so dünn wie du bist … ich hoffe, es ist alles in Ordnung mit dir?«
Nina sah auf ihren vollen Teller. »Es schmeckt bestimmt vorzüglich, aber ich bekomme im Moment keinen Bissen runter … die Sache auf dem Steg, das alles drum herum, hat mich aufgewühlt … Tut mir leid, Poebe, aber das schlägt mir auf den Magen.«
»Das macht doch nichts … Ich mache dir einen Tee, der wird dir helfen«, antwortete die Frau, schenkte Nina jedoch nur einen kurzen Blick und lächelte Chander geheimnisvoll an. »Liebster, gestattest du, dass sich die Frauen zurückziehen?«
»Sicher, mein Herz.« Chander erwiderte ihr Lächeln. Er nickte Eric auffordernd zu. »Gehen wir ein Stück zusammen. Ich erzähle dir die Geschichte, die Jaro derart tölpelhaft begonnen hat … und wer weiß, womöglich wird sie dir deine Fragen beantworten.«
Eric passte es nicht, von Nina getrennt zu werden. Aber wenn er mehr herausfinden wollte, musste er Chander folgen. Er hatte Angst, dass der Spaziergang an dem Wasserloch enden würde. »Wir können auch hierbleiben.«
Chander grinste breit. »Das ist vollkommen ausgeschlossen. Diese Geschichte muss draußen erzählt werden, inmitten der Natur, zwischen den Bäumen.«
Etwas später, im Sumpf …
Das dunkle Wasser des Atchafalaya River war ein stetiger Begleiter auf ihrem Weg. Manchmal sprang ein Fisch aus dem Wasser und tauchte mit einem Platschen wieder in die Tiefe. Schließlich erreichten sie einen abgeschiedenen Platz im Schilf, an dem ein alter Kahn auf dem Ufersand lag. Chander setzte sich auf den Rand des Ruderbootes. Für einen Moment schloss er die Augen und nahm die Geräusche der Natur in sich auf. »Die Geschichte des Rougarou ist so alt wie dieses Land hier. Sie basiert auf einer alten Sage der Chitimacha-Indianer.«
Eric nickte, obwohl er nicht wusste, wer diese Chitimacha waren. Ihm waren der dunkle Wald, der Fluss mit seinem trüben Wasser und vor allem Chander nicht geheuer. Von Jaro war nichts zu sehen. Kurz nachdem sie losgelaufen waren, hatte er sich von ihnen getrennt, um nach den Zäunen zu schauen, wie er behauptete. Eric war sich jedoch sicher, dass er sie beobachtete. Er suchte sich einen Platz, an dem er den Wald nicht im Rücken und zumindest einen Teil des Schilfs im Blick hatte.
»Dann mal los«, forderte Eric Chander auf, denn er hatte das Gefühl, dass die Geschichte mit dem seltsamen Verhalten der Leute hier zu tun haben könnte und auch mit diesem schrecklichen Loch im Wald.
Chander nickte. »Keine Angst, ich beginne nicht mit der Erschaffung der Welt.« Er lachte. »Die Geschichte beginnt mit der Besiedelung Louisianas.« Er sah Eric einen kurzen Moment nachdenklich an und nickte zufrieden. »Wo sich heute die Ruinen von Fort Burton befinden, gab es zur Zeit der ersten Besiedlung durch die Arcadians einen befestigten Handelsposten. Es war kaum mehr als eine Anhäufung von Blockhäusern, umgeben von einem Schutzzaun aus dicken Stämmen. An diesem Ort kam der Marquis de Lafayette das erste Mal mit der Sage um den Rougarou in Berührung. Die Chitimacha trieben Handel mit den Fallenstellern und erzählten von uralten Geistern, die in den Sumpfwäldern des Mississippi-Deltas lebten und den Menschen die Seelen raubten. Sie behaupteten, dass alles auf einem Fluch basierte, der schon zu grauer Vorzeit ausgesprochen und nun von Generation zu Generation über das Blut weitergegeben wurde.«
»Ein Fluch?« Eric lachte. »Das sind doch nur Schauermärchen, mit denen man kleine Kinder einschüchtert. Ich glaube an das Greifbare, Realistische. Die Logik!«
»Nun, der Marquis merkte auf schmerzhafte Weise, wie greifbar dieser Fluch war … es begann damit, dass eine holländische Familie, die am Cow Lake einen kleinen Hof aufgebaut hatte, spurlos verschwand. Das Blockhaus, in dem sie lebten, fand man verwüstet vor. Es hatte den Anschein, dass wilde Tiere die Holländer geholt hatten.«
»Sorry, dass ich dich unterbreche, aber woher weißt du das alles?«, wollte Eric wissen. »Du erzählst das so plastisch, man könnte meinen, du wärst dabei gewesen.«
»Man hat auch damals schon Buch geführt. Es gab Verzeichnisse über die Menschen, die hier gelebt haben, Lohn- und Handelsbücher … und es gibt die Tagebücher des Marquis«, erklärte Chander. »Aber jetzt unterbrich mich nicht mehr, denn die Geschichte fängt gerade erst an … Der Marqius scharte eine Gruppe mutiger Männer um sich, alles erfahrene Trapper und Fallensteller. Die Fährtensucher rekrutierte er vom Stamm der Chitimacha. Kaum, dass die Sonne am Himmel stand, brachen sie auf und machten sich auf die Suche nach den Holländern. Ihre Gewehre waren geladen und an ihren Seiten hingen Säbel und lange Messer. Sie marschierten in dem Glauben, auf alles vorbereitet zu sein, doch das war ein fataler Irrtum … Sie begannen ihre Suche am Blockhaus der verschwundenen Familie. Nur ein paar Meter von dort entfernt, fanden sie die Mutter – oder besser gesagt das, was von ihr übrig war …Ein Haufen angenagter Kochen und ein paar Brocken Fleisch zwischen den Fetzen ihrer Kleidung …
Die Männer begruben die sterblichen Überreste der armen Frau und verbrachten den ganzen Tag damit, nach Vater und Tochter zu suchen, doch so sehr sie sich mühten, es war vergeblich. Sie blieben spurlos verschwunden. Als der Tag zur Neige ging, drängten die Chitimacha darauf, zum Fort zurückzukehren, doch der Marquis setzte sich durch. Er bestand darauf, dass sie die Nacht im Blockhaus verbrachten und so viele Feuer wie möglich entzündeten. Das würde die wilden Tiere fernhalten und den Vermissten als Zeichen dienen, sollten sie sich noch in der Nähe aufhalten.«
»Klingt logisch«, sagte Eric. Zweige knackten ihm im Wald. Sein Gefühl, beobachtetet zu werden, verstärkte sich.
»Der Marquis war ebenfalls ein logisch denkender Mensch. Deswegen lehnte er die Zauberbeutel ab, die ihm die Indianer anboten … Du musst wissen, für die Arcadians waren die damals nichts weiter als nützliche Wilde …«
Eric stutzte. »Zauberbeutel? …«
»Die Chitimacha kannten die Geister der Sümpfe, und wussten sich zu schützen. Das Angebot eines solchen Beutels war eine große Ehre … Die Magie, und darum handelte es sich ohne Zweifel, war stark genug, um die alten Wesen fernzuhalten«, erklärte Chander.
»Kurz, bevor die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwand, waren die Chitimacha verschwunden. Die Nacht brach an und verbarg alles unter ihrem Schleier der Finsternis … Ab jetzt wird es unheimlich. Der Marquis schreibt in seinem Tagebuch, dass es eine außergewöhnliche Nacht gewesen sein muss. Die Tiere schwiegen, all die harten Männer überkam ein beklemmendes Gefühl. Sie bemerkten, dass etwas um die Blockhütte schlich.«
»Der Rougarou?«, wollte Eric wissen. Es war ein seltsames Gefühl, bei dieser Story hier im Freien zu stehen, nicht weit von der Stelle entfernt, an der sich die Jäger vor zweihundert Jahren ängstlich zusammengedrängt hatten.
Chander nickte. »Oh ja … Der Marquis schreibt an dieser Stelle zwar ein mit Klauen und Zähnen bewehrtes, riesenhaftes Untier, aber ich bin mir sicher, dass er den Rougarou gemeint hat. An dieser Stelle werden seine Aufzeichnungen wirr. In hastig dahin gekitzelten Stichworten beschrieb er, wie dieses … Untier aus der Dunkelheit ins Licht schnellte und sich einen Mann nach dem anderen holte. Zuerst war die Wache dran. Sie wehrten sich mannhaft, doch weder die Kugeln aus ihren Flinten, noch die Hiebe mit ihren Säbeln konnten dem Wesen etwas anhaben. Es arbeitete sich durch die Palisaden, zerfetzte einen nach dem anderen wie dünnes Papier.«
»Das hat er geschrieben?« Eric runzelte die Stirn. Als ein trockener Zweig hinter ihm knackte, gefolgt von dem Schrei eines kleinen Tieres, drehte er sich nervös um und starrte in den finsteren Wald.
»So ähnlich, ja. Der letzte Satz, den er in seinem Tagebuch niederschrieb, war, dass der Fluch auf ihn übergegangen sei, dass das Tier sein Blut zum Kochen brachte und er jetzt selbst das Tier sei …« Chander hob einen Stein auf und warf ihn ins Wasser.
»Es könnte doch gut sein, dass er aufgrund des Blutbades den Verstand verloren hat?« Eric wollte die Sache hinter sich bringen und zurück in das schützende Haus, zu Nina, um die er sich sorgte.
»Er kehrte als anderer Mensch von dieser Expedition zurück, an seiner Hand ein kleines Mädchen, das die Tochter des Holländers war. Auf die Männer wartete man vergeblich. Sie wurden nie wieder gesehen …« Chander stand auf und nickte Eric zu. »Damit fing alles an.«
»Dieses Haus der Holländer … wo war das genau?«, wollte Eric wissen. Er hatte da einen Verdacht, von dem er inständig hoffte, dass er nicht zutraf.
»Du hast darin übernachtet, Eric«, antwortete Chander und lächelte ihn seltsam an.
»Was? … Das ist doch Blödsinn. Ihr habt selbst gesagt, dass dieses Land dem Marquis von Washington persönlich geschenkt wurde!«, brauste Eric auf. Sein Verdacht hatte sich auf übelste Weise bestätigt. Er wusste nicht, ob er davonlaufen oder weiter zuhören sollte.
»Richtig. Er hatte den Holländern gestattet, hier zu bauen, denn seine Vision war eine gänzlich andere. Er wollte das Fort ausbauen und es zu einem bedeutenden Handelsposten machen, am Ende womöglich eine Stadt gründen … Doch als er mit dem kleinen Mädchen zurückkehrte, brachte er das Verderben unter die Menschen!«