Der Marquis und das Mädchen
»Den nächsten Tag verbrachten die Männer damit, ihre Wunden zu lecken. Verängstigt scharten sie sich zusammen. Nur einer verließ das Fort und sah die tiefen Furchen im Holz der Palisaden, geschlagen von rasiermesserscharfen Krallen. Niemand ging in den Wald, um die vermissten Fallensteller zu suchen«, schilderte Chander die bedrohliche Lage der Männer. »An manchen Stellen waren die Furchen so tief, dass die dicken Stämme der Palisaden bald brechen würden. So wollte ihnen der Rougarou mitteilen, dass es falsch war, hierher zu kommen … und dass keiner von ihnen die Bayous lebend verlassen würde. Es war sein Land, sein angestammter Lebensraum und den würde er mit niemandem teilen.« Chander nickte bestätigend und maß Eric mit ernstem Blick. »Schwer für dich zu verstehen, nicht wahr?«
Eric sah zu Boden, schob mit dem Fuß ein paar Blätter zu einem kleinen Haufen zusammen. »Könnten es nicht die Indianer gewesen sein? Ich habe Filme gesehen, da trugen die Masken, wie Büffelköpfe oder Wölfe sogar.«
Chander nickte und bedachte ihn mit einem wissenden Blick. »Wölfe. In indianischen Sagen wird der Rougarou oft als wolfsähnliches Wesen dargestellt. Aber er ist nicht einfach nur ein Wolf. Er ist ein magisches Wesen. Das musste der Marquis auch feststellen.«
Erneut brachen Zweige im Unterholz. Die Frösche im Uferbewuchs verstummten. Nur der seichte Wind rauschte durch die Bäume. »Ich würde mir den Rest der Geschichte gerne auf dem Rückweg anhören … wenn das möglich ist«, sagte Eric. Er dachte an den dunklen Wald und spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten.
»Gut, gehen wir …« Chander ließ das Stöckchen fallen, mit dem er die ganze Zeit herumgespielt hatte, und legte die Hand auf Erics Schulter. »Dort im Wald, das ist er, der Rougarou. Aber er wird dir nichts tun … noch nicht!«
Eric räusperte sich, sah zu den Bäumen. »Das ist nicht witzig … kein bisschen!« Am liebsten wäre er zum Haus gerannt, um sich darin zu verkriechen, bis es hell wurde. So war er eben, ein Feigling, der lieber floh, als sich der Gefahr zu stellen. »Bitte!«
»Ich wollte dir keine Angst machen«, sagte Chander und zwinkerte Eric zu. Es war offensichtlich, dass er ihn für schwach hielt. »Der Marquis hatte schon bei seinem ersten Besuch die Bekanntschaft mit dem Rougarou gemacht. Er war der letzte Mann, der noch stand. Er zog sein Messer und stellte sich ihm entgegen, zu allem entschlossen … Du musst wissen, der Rougarou ist ein archaisches Wesen, für das solche Dinge wie Stärke, Aufrichtigkeit und Mut einen besonders hohen Stellenwert haben. Die Indianer sagen, dass es mit seinem Blut zusammenhängt, das ihm von den Göttern der Erde gegeben wurde. Sie leben im Zyklus des Mondes, um Geburt, Heranreifen und Niedergang auszudrücken … Der Marquis de Lafayette wurde Teil dieses Zyklus, als sich sein Blut mit dem des Rougarou vermischte!«
»Der Holländer war dieser Rougarou?«
»Natürlich! … doch es war Marie, das kleine Mädchen, welches ihn in den Kreis der erlauchten Wesen aufnahm!«, erklärte Chander nicht ohne Stolz. Sie ließen den Wald hinter sich und überquerten die große Wiese, die zum Herrenhaus führte. Die Bedrohung blieb jedoch nicht im Wald zurück. Sie ging jetzt von Chander aus, da war sich Eric sicher.
Eric versuchte, gelassen zu klingen. »Was wurde aus dem Marquis und dem Mädchen? … Haben sie all das hier aufgebaut?«
Chander nickte und machte eine allumfassende Geste. »Nachdem sie mit den Männern im Fort fertig waren, begann der Neuaufbau. Zuerst entstanden das neue Herrenhaus und der Zaun, der die neue Welt von der alten trennte. Es hätte ein Idyll werden können … in dem es ihnen möglich gewesen wäre, ihr naturverbundenes Leben in Frieden zu führen …«
»Was ging schief?«, wollte Eric wissen.
Chander blieb abrupt stehen, packte Eric an den Schultern und sah ihm tief in die Augen. »Es gab einen Jäger im Fort, den hatten sie vergessen …«