Dann bin selbst ich euer Feind!
Die Fenster des Herrenhauses waren alle hell erleuchtet, die Eingangstür stand sperrangelweit offen.
»Da stimmt was nicht«, sagte Chander und packte Eric am Oberarm. »Los, komm!« Die beiden ungleichen Männer rannten los. Blitze zuckten und erhellten für Augenblicke die dunklen, aufgetürmten Wolken im nächtlichen Himmel, gefolgt von einem unheilvollen Grollen.
Yuna rannte aus der Tür, winkte aufgeregt. »Papa, komm schnell, Nina braucht deine Hilfe!«
Erics Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Ich hätte sie niemals allein lassen dürfen!
»Was ist denn los?«, schrie Chander, als er an seiner Tochter vorbeilief.
»Hinten, auf der Veranda … beeilt euch!«
Alle waren sie hinter dem Haus versammelt, die ganze Familie. Der große Tisch stand jetzt an der Wand, die meisten der Stühle lagen umgestürzt unten im feuchten Gras. Ein Blitz zuckte mit lautem Krachen zur Erde und der Himmel öffnete seine Schleusen.
Eric fuhr es durch Mark und Bein, als er Nina in Poebes Schoß liegen sah. Yunas Mutter presste ihr ein helles Tuch auf die Schulter, auf dem sich rote, feucht glänzende Flecken ausbreiteten. »Was zur Hölle!«, schrie Eric und stürzte neben der dünnen Frau auf die Knie. Ihre Augen standen weit offen, Speichel und Blut rann ihr von den Lippen. Eric sah hilfesuchend zu Poebe auf. »Was ist mit ihr? … Bitte, ich muss es wissen!«
Chander ging ebenfalls in die Knie. Yuna stand zu Ninas Füßen neben Jaro. Sie presste sich die Hände auf den Mund, beugte sich zum Ohr ihres Bruders und flüsterte ihm etwas zu. All das registrierte Eric nur am Rande. Nur Nina war wichtig.
Poebes feuchter Blick traf den von Eric, fing ihn ein, band ihn an sich. »Es ging alles so furchtbar schnell … Ich … Wir konnten es nicht unterbinden!«
Poebes Worte machten Eric Angst. Während der Regen auf das Dach der Veranda trommelte, lag Nina blutend in den Armen einer nahezu fremden Frau. Eric fühlte sich schuldig, weil er sie allein gelassen hatte. »Sag mir endlich, was passiert ist!«, zischte er Poebe so scharf an, das Chander ihn am Arm packte und warnend ansah.
»Rede nicht so mit meiner Frau, hörst du?«
»Ich hab’s kapiert«, sagte er kleinlaut und wandte sich Poebe zu. Die sah Eric mitleidig an. »Plötzlich war er da, der Rougarou … Er brach an die Oberfläche und stürzte sich auf deine Freundin … Wie das Monster aus der Tiefe …«
»Was?« Eric wollte nicht glauben, was ihm Poebe soeben gesagt hatte. »Du behauptest, ein Monster hat sie angegriffen? Mir reicht es langsam mit euren Schauergeschichten!« Er leckte sich über die Lippen und versuchte herauszufinden, wie schwer Nina verletzt war. »Und holt endlich einen Arzt!«
»Es ist alles gut«, beruhigte ihn Poebe. »Ich habe mir die Wunde angesehen, da ist nichts, worüber man sich sorgen müsste.« Sie sah Eric in die Augen. »Um was wir uns allerdings wohl Gedanken machen müssen, das sind die Jäger, denn die sind Schuld an dem, was heute Nacht geschehen ist.«
»Was noch geschehen wird …«, ergänzte Yuna und umfasste Erics Arm. »Komm, gehen wir ein Stück … Mum wird deine Freundin gut versorgen.« Sie sprach mit sanfter, aber zugleich fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Eric schob ihre Hand beiseite. »Ich werde Nina nicht allein lassen, ich …«
»Bitte!«, zischte Yuna nachdrücklich. Sie packte Eric am Kragen und zog ihn mit immenser Kraft hinterher. Sie lief schnell und sah sich nicht um, bis sie das Ufer des Atchafalaya River erreicht hatten.
Eric hatte das Gefühl, das Yuna vor ihrer eigenen Familie davonlief. »Yuna, was soll das?«
»Willst du leben?« Ihre Stimme klang verdammt ernst. Regenwasser lief ihr übers Gesicht, tropfte von ihrer Nasenspitze.
»Wie?« Eric sah hektisch zu der Gruppe auf der Veranda und Yuna hin und her. Alles in ihm drängte ihn dazu, zu Nina zurückzulaufen, um sie von hier wegzubringen, doch wie weit würde er kommen?
Der Baum lag immer noch vor der Ausfahrt, das Monster, das Nina angefallen hatte, befand sich in den Wäldern. Dann waren da der Sheriff und die seltsamen Jäger. Langsam begriff Eric, dass die Sache komplizierter war, als er bisher angenommen hatte. Das Problem ließ sich nicht damit lösen, zum Wagen zu gehen und wegzufahren.
»Ich will wissen, ob du leben willst!«, wiederholte Yuna ihre Frage. Sie sah sich zur Veranda um, prüfte, ob ihnen jemand gefolgt war, packte Eric am Arm und zog ihn hinter einem der Bäume in die Hocke.
»Das ist ne verdammt blöde Frage, natürlich will ich das!«, antwortete Eric aufgebracht. Trotz des Regens schwitzte er stark.
Ein greller Blitz zuckte über den Himmel und tauchte Yunas Gesicht für einen Augenblick in gleißendes Licht. Ihre Augen funkelten in überirdischem Glanz. »Eric, ich meine es ernst … Du und Nina, ihr seid hier in großer Gefahr!« Wieder sah sie zu dem Haus, ihr Griff wurde fester. »Heute Nacht kann ich für eure Sicherheit sorgen, aber morgen, wenn der Vollmond am Himmel steht, seid ihr auf euch selbst gestellt.«
»Damit wir nicht in der Grube enden?«, fuhr Eric das Mädchen an. Mit einer schnellen Bewegung wischte er sich das Regenwasser aus den Augen.
»Die Grube …« Yuna sah beschämt zu Boden. »Sprich niemals in der Gegenwart meiner Familie von der Grube!«
Eric drehte den Kopf und sah, wie Jaro in ihre Richtung schaute. »Ich will hier weg, Yuna … ich möchte hier nicht mehr sein!« Eric schluckte hart. »Ich … ich hab ne scheiß Angst!«
»Ich weiß«, sagte Yuna, »Ich rieche deinen sauren Schweiß … aber das ist jetzt nicht wichtig, sondern dass du tust, was ich sage!« Ihr Gesicht kam ihm ganz nah. »Nur wenn du dich an meine Anweisungen hältst, könnt ihr überleben!«
»Scheiße Yuna, erklär’s mir. Was zur Hölle geht hier vor?« Eric fröstelte, obwohl der Regen, der seine Kleidung durchnässte, lauwarm war.
Yuna nickte, suchte nach den passenden Worten, die Eric verstehen konnte. »Es ist nicht einfach …« Sie strich sich ihr nasses Haar aus dem Gesicht. »Du musst wissen, viele der Leute hier leben seit Generationen in den Bayous. Sie sind zu einem festen Bestandteil des Landes geworden, sind in ihm aufgegangen.« Yuna machte eine Pause, atmete durch. »Und in manche von ihnen ging der Geist des Rougarou über, vermischte sich mit ihrem Blut …«
»Jeder hier erzählt mir diesen Unsinn … willst du damit etwa all die Leichen rechtfertigen, die wir in der Grube gefunden haben? Ist es das?« Eric versuchte vergeblich, sich aus ihrem Griff zu befreien. »Lass mich los, verdammt!«
»Ich meine es ernst, Eric! … Einige von uns hat der Rougarou auserwählt, sein Blut in die Zukunft zu tragen.«
»Ich will das nicht hören …«, stammelte Eric.
»Die Auserwählten streiten nun schon eine halbe Ewigkeit. Das war der Grund, weswegen wir nach Europa gegangen sind. Wir wollten dem Krieg aus dem Weg gehen, doch er ist uns in die Alte Welt gefolgt.« Yuna lockerte ihren Griff, sah Eric mit flehendem Blick an. »Die Jäger jenseits des Zauns wollen die Entscheidung und wir sind endlich bereit, uns ihnen zu stellen!«
Eric leckte sich das Regenwasser von den Lippen, wich ihrem Blick aus. »Wir haben mit eurem Krieg nichts zu tun … wir wollen einfach nur nach New Orleans, wollen leben …«
»Das werdet ihr! … Du musst nur dafür sorgen, dass ihr nicht zwischen die Fronten geratet, wenn es soweit ist!«
»Sag mir, wie!«
»Du holst deine Freundin, gehst mit ihr ins Gästehaus … Verschließt alle Türen, verrammelt die Fenster und beachtet nicht, was draußen vor sich geht … Die einzige Person, der ihr trauen dürft, bin ich!« Yunas Stimme nahm einen hektischen Klang an. »Aber sobald morgen Nacht der Mond am Himmel steht, bin auch ich euer Feind!«
»Ich hab ne scheiß Angst, Yuna … und weiß nicht, ob ich das packe …« Eric wurde abwechselnd heiß und kalt. Er schloss die Augen und wünschte sich weit weg, raus aus diesem Albtraum.
»Bleib mit Nina in der Hütte. Haltet den Kopf unten und wartet ab, bis es vorbei ist … dann wird alles gut.« Yuna stand auf, lehnte sich an den narbigen Stamm der Weide und sah zum Himmel. »Und jetzt lauf los … schnell!«
Eric kam taumelnd auf die Beine, merkte kaum, wie er sich in Bewegung setzte. Er sah Jaro, der wie ein surreal bedrohlicher Schatten im Regen stand und ihn anstarrte. Er lief an ihm vorbei und betrat das nasse Holz der Veranda, wo Nina in Poebes Schoß lag. Chander war nicht mehr da, verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Poebes Mund öffnete sich, schloss sich wieder, doch Eric hörte nicht, was sie zu ihm sagte.
Es war zu viel. Eric wusste nicht, was er glauben sollte und was nicht. Hatte ihm Yuna eben gesagt, dass sich die Lafayettes in Monster verwandelten, wenn der Mond am Himmel stand?
Was war Wahrheit und was nur die übertriebene Fiktion dieser seltsamen alten Familie?
Eric versuchte, alles in logische Bahnen zu lenken. Selbst Inzucht schloss er als Begründung nicht aus, warum die Leute hier den Verstand verloren hatten. Doch was ihm Chander am Boot erzählt hatte, dann Yunas Worte und Jaros Andeutungen mittags am umgestürzten Baum, ergaben einen beängstigenden Sinn, der die Existenz der bestialischen Monster geradezu heraufbeschwor.
Plötzlich befand sich Nina in seinen Armen und klammerte sich an ihm fest. Um schneller wegzukommen, hob er sie hoch und stellte fest, wie unglaublich leicht sie war.
Poebe stand ebenfalls auf, unternahm aber nichts, um ihn aufzuhalten. Ihre Augen waren seltsam groß, wie Brunnen, deren Boden er nicht erkennen konnte.
Eine Zeitspanne zwischen wenigen Sekunden und mehreren Stunden später schloss sich die grobe Holztür des Blockhauses hinter Eric. Er schwankte halb benommen mit seiner Last in Ninas Zimmer und legte sie auf dem Bett ab. Sie hatte die Augen geschlossen, ihre Haut fühlte sich kalt und schwitzig an. In ihrem Körper tobte offensichtlich ein böses Fieber.