Das ist dein gutes Recht
Wer je einen Sonnenaufgang in den Wäldern Louisianas erlebt hat, wird ihn nie wieder vergessen. Vor allem nicht, wenn er in der Nacht zuvor dem Tod von der Schippe gesprungen ist.
Mason lag in seltsam verdrehter Haltung auf dem moosbedeckten Boden, umgeben von alten Mauern, und starrte durch das lichte Blätterdach in den strahlend blauen Himmel. Aufgeweckt von einem derben Tritt, wälzte er sich zur Seite und hustete trocken. »Verdammt …«
»Zeit, aufzustehen, Schätzchen!« Peggy reichte Mason die Hand und half ihm auf die Beine. »Timothy hat in der Stadt ne Kanne Kaffee geholt.«
Mason streckte die schmerzenden Glieder. Er roch an seinem Hemd und verzog angewidert das Gesicht, weil er stank wie ein Puma. Sein Hemd war blutbefleckt, aber wenigstens hatten sie ihm ein Pflaster auf die Nase geklebt, um den Bruch zu stützen. Das machte die Sache halbwegs erträglich. »Ich brauche dringend eine Dusche … nach dem Kaffee.«
Draußen auf der Lichtung standen Butch und der Deputy mit Blechtassen voll dampfendem Kaffee in den Händen und unterhielten sich leise. Die Männer stockten und musterten Mason kritisch.
Ich lebe noch
, dachte Mason.
Und ich werde alles daransetzen, dass es auch so bleibt.
Er nickte den Männern zu und versuchte sich in einem schrägen Grinsen. »Peggy meinte, hier gibt es frischen Kaffee, hm?«
Timothy nickt in Richtung eines Baumstumpfes, auf dem eine Thermoskanne stand, neben der eine Papiertüte mit Donuts im Gras lag.
»Greif nur ordentlich zu, Junge«, brummte Butch, »ist vielleicht das letzte Mal …«
Mason ließ den Donut, den er sich aus der Tüte gezogen hatte, sinken. »Was? … Ich …«
»Wir haben nen Deal, Söhnchen«, stellte Butch mit breitem Grinsen fest. »Und wenn du nicht damit aufhörst, meiner Tochter auf den Hintern zu starren, bin ich gezwungen, unsere Übereinkunft zu überdenken!« Bei den letzten Worten hatte sich sein Tonfall geändert, war ernst geworden. Todernst …
Mason bemerkte erst jetzt, dass er Peggy tatsächlich auf den Hintern starrte. Betreten sah er auf den Donut in seiner Hand. »Sorry, ich …«
»Ich denke, das wäre geklärt«, sagte Butch. »Widmen wir uns wichtigeren Dingen … Wir haben einen Tag, um dich auf Vordermann zu bringen!«
Mason ließ erneut seine Hand mit dem Donut sinken. Sein leerer Bauch protestierte lautstark. »Ne Dusche und frische Klamotten wären ein guter Anfang.«
»Das meine ich nicht«, antwortete Butch und griff nach einer altmodisch aussehenden Flinte, die an einem Baumstumpf lehnte. »Eher etwas in der Art.« Er entriegelte den Lauf und klappte ihn nach unten. »Du bist nicht von hier, brauchst für das, was wir heute Nacht zu erledigen haben, eine geeignete Waffe.« Mit diesen Worten schob er zwei überlange Patronen in die Kammern und klappte den Lauf hoch, bis das Schloss mit einem metallischen Geräusch einrastete. »Dieses Gewehr hier …« Butch strich behutsam über den langen Lauf aus schwarzem Metall. »… habe ich selbst gebaut. Die Patronen ebenfalls. Es ist weder registriert, noch kann man die Projektile zurückverfolgen. Die ideale Waffe für unsere Arbeit.«
»Ich weiß nicht recht, was es mit dieser Arbeit auf sich hat … und ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich dazu eine Waffe brauche.« Mason warf den Donut zurück in die Tüte. Ihm war der Hunger vergangen und er schwitzte wie ein Schwein. Langsam hasste er den Süden.
»Ich glaube nicht, dass du eine Wahl hast«, stellte Butch mit bestimmendem Tonfall fest und drückte Mason die Waffe in die Hand.
Der stürzte augenblicklich in sein eigenes Dilemma, fernab des Wahnsinns, der ihn hier wie ein eiserner Käfig umfing. Mason hasste Waffen. Das war die offizielle Version, die er, so oft es ging, lautstark betonte. Journalisten mussten einfach Waffengegner sein, wenn sie ernstgenommen werden wollten. Allerdings stammte Mason aus Georgia und dort durfte man sogar Waffen offen am Gürtel tragen. Wenn er im Sommer nach Hause kam, um den alljährlichen Gemeinschaftsgeburtstag seiner Familie zu feiern, war es verpflichtende Tradition, mit Gewehren und Pistolen bewaffnet in den Wald zu fahren und auf Bäume zu schießen. Ohne Grund und nur, weil es Spaß machte. Mason war bei Gott kein begnadeter Schütze, aber er wusste, wo sich der Abzug befand und an welchem Ende die Kugeln aus der Waffe kamen. Er stand auf den Lärm, der beim Feuern entstand, und auf den Geruch des Schießpulvers. Hier, mitten im Sumpf, brauchte er sich nicht mehr zu verstellen. Halbwegs fachmännisch entriegelte er die Waffe und zog eine der langen Patronen aus ihrer Kammer. »Ich hatte eigentlich nicht vor, auf Elefantenjagd zu gehen …« Er ließ die Patrone in seiner Handfläche hin und her rollen. Das glatte Metall glänzte silbrig und war schwerer als erwartet. »Aus was sind die Dinger eigentlich?«
Butch grinste breit. »Die Hülse ist mit Pulver gefüllt, aber sie ist länger als bei normalen Patronen, damit sie mehr Trieb entwickelt … das Projektil jedoch …« Er nahm Mason die Patrone aus der Hand und hielt sie ihm direkt vor die Augen. » … die ist aus purem Silber!« Er gab sie dem verblüfft dreinschauenden Mason zurück.
»Silber? … Willst du mich verarschen? … Was willst du damit jagen, Vampire?«
»Vampire legst du damit nicht um … die lachen dich aus, wenn du denen mit so etwas kommst … Aber den Rougarou, den kannst du mit Silber schwächen, damit er dir nicht gefährlich werden kann, wenn du ihm den Kopf abschneidest!«, erklärte Peggy.
»Ja klar …«, feixte Mason und schüttelte den Kopf. Er wollte Butch die Waffe zurückgeben, doch der machte keine Anstalten, sie entgegenzunehmen. Mason sah ihn auffordernd an. »Nimm die verdammte Flinte, ich werde doch keiner Fiktion hinterherjagen … Einem Geschöpf, das es gar nicht geben kann!«
»Du willst es nicht verstehen, hm?«, knurrte ihn Butch an. »Es gibt sie wohl … dort draußen im Wald … in Butte la Rose … überall … und wenn wir heute Nacht auf die Jagd gehen, wirst du diese Flinte führen, um dein Leben zu schützen oder draufgehen, weil sie die Schutzlosen zuerst holen. Du entscheidest!«
»Ich? … Tatsächlich? … Ist das so?« Mason packte die Flinte mit beiden Händen. »Dann gib mir mehr von diesen verdammten Patronen!«
Das war offenbar genau das, was die beiden Männer und das Mädchen hören wollten. Sichtlich zufrieden packten sie ihre Sachen zusammen und gingen zu den Fahrzeugen, die zu Masons Überraschung nur einen Steinwurf entfernt auf dem Waldweg zwischen den Büschen parkten. Der Truck war allerdings weg, stattdessen stand ein Streifenwagen hinter Butchs altem Ford Bronco.
»Wo sind denn die anderen hin?«, wollte Mason wissen.
»Was erledigen …«, antwortete Timothy mit teilnahmsloser Stimme. Der Deputy und Peggy stiegen in den Streifenwagen ein. Mason sah, wie Timothy kurz die Hand hob und den Motor startete. Er fuhr den Wagen rückwärts aus dem Waldweg und auf die Straße, wo er beschleunigte und verschwand.
Butch saß inzwischen auf dem Fahrersitz des Bronco. »Willst du hier Wurzeln schlagen, oder was? … Komm, steig ein, ich will dir die Männer vorstellen.«
Mason nickte nur und stieg ebenfalls in den Geländewagen. Er lehnte sich zurück, saß einfach nur da und starrte durch die Windschutzscheibe. Seine Nase brachte ihn schier um den Verstand, verhinderte mit ihrem Pochen jeden klaren Gedanken. Die Sonne funkelte zwischen den grünen Blättern der Bäume hervor. Ihre Strahlen spiegelten sich auf dem träge dahinfließenden Wasser des Atchafalaya Rivers, das braun und unergründlich tief wirkte. Die kleinen Steine auf der Straße knirschten unter den Reifen des schweren Wagens. Es gab verdammt nochmal schlechtere Tage, um ins Gras zu beißen, dachte Mason.
Als die Holzbohlen unter den Reifen ratterten, wusste er, dass sie nach Butte la Rose zurückfuhren. Es gab nur zwei mögliche Ziele: Das Hunters Inn oder das Sheriffsoffice. Letzteres bedeutete sicher nichts Gutes.
Der Wagen fuhr auf den Parkplatz des Hunters Inn. Die Neonreklame flackerte selbst jetzt, im hellen Licht des jungen Tages. Mason fand, dass dieses bescheuerte Licht dadurch nur noch abschreckender wirkte als in der Nacht. Der Truck stand wieder vor dem Zimmer der vermeintlichen Jäger, daneben ein mit Schlamm bespritzter Honda Civic. Sein Honda Civic!
»Was … wie kommt meine verdammte Karre hierher, hm?« Mason starrte Butch wütend an.
»Einer der Männer hat ihn hergebracht, während du geschlafen hast … ist kein Ding, brauchst dich nicht zu bedanken«, antwortete Butch und grinste.
»Scheiße, verdammte …« Mason war stinksauer, traute sich aber nicht, seiner Wut noch deutlicher Luft zu verschaffen.
Butch wendete den Bronco und parkte rückwärts neben dem Truck ein. »Gehen wir zu den Jungs.« Damit stieg er aus dem Wagen und ging über die Veranda zur Zimmertür. Mason zögerte und stieg erst aus, als sich der alte Mann umdrehte. Seine Augen brannten vor Müdigkeit, die juckende Haut sehnte sich nach einer heißen Dusche, der Befreiung von Schweiß und Dreck. »Ich geh nur kurz in mein Zimmer und …«
»Ich sagte, wir gehen rein zu den Jungs …«, knurrte Butch und klopfte an die ausgeblichene rote Holztür. Dreimal hintereinander.
Im Hotelzimmer war es stickig und dunkel, die Vorhänge waren zugezogen und Zigarettenqualm stand in der Luft. In dem Raum befanden sich fünf Männer, Butch und Mason ausgenommen. Zwei hockten auf dem Bett, einer lehnte in der Tür des Badezimmers und zwei saßen an einem kleinen runden Tisch in der Nähe des Fensters. Überall standen schwarze Nylontaschen, angefüllt mit Waffen, herum.
»Der Rothaarige ist Anderson«, erklärte Butch und zeigte auf den breitschultrigen Mann mit dem wilden Bart, den Mason schon aus seinem Versteck im Sumpf beobachtet hatte.
Der am Tisch sitzende Mann sah auf und runzelte die Stirn. »Den brauchen wir nicht, Butch!«
»Hier entscheide ich, wen wir brauchen und wen nicht«, entgegnete Butch mit gereizter Stimme. Die Anspannung vor dem finalen Kampf machte die Männer nervös. »Der hässliche Kerl in der Tür ist Hawk … die auf dem Bett sind Perkins und Miller, der bei Anderson am Tisch ist Hendershot, den solltest du besser in Ruhe lassen.«
Mason war das alles viel zu eng. Der Raum stank nach altem Atem und feuchten Klamotten, vermischt mit Whiskey und Tabakrauch. Die Männer trugen alle diese gefleckten Tarnsachen, deren Muster aus winzigen, ineinander verwobenen Enten bestanden. Er fand das absolut albern, doch im Moment war ihm nicht zum Lachen zumute. Allein die Blicke der Männer jagten ihm Angst ein. Sie waren in sich gekehrt, kalt. Sie bereiteten sich auf etwas vor, was sie das Leben kosten konnte. Es musste etwas sein, für das es sich zu sterben lohnte.
»Also …«, sagte Butch und nahm sich die Whiskeyflasche vom Tisch. »Wir haben beschlossen, dass uns der Schmierfink heute Nacht begleiten wird.« Er trank einen großen Schluck und schloss die Augen, genoss, wie sie ihm in der Kehle brannte.
»Wir?«, antwortete Anderson und lehnte sich im Stuhl zurück. »Hab nicht mitbekommen, dass wir abgestimmt hätten.«
»Haben wir auch nicht. Es liegt allein in meiner und Peggys Verantwortung. Wir werden die ersten sein, wir tragen das größte Risiko, also gestatte mir diese kleine Eigenmächtigkeit.« Butch reichte Anderson die Flasche, nickte.
Der Rothaarige zögerte, dachte nach und griff zur Flasche. »Scheiß drauf, es wird nichts daran ändern.« Er setzte die Flasche an und trank. »Wenn er mir im Weg steht, lege ich ihn um … diese Eigenmächtigkeit nehme ich mir raus!«
Butch nickte. »Das ist dein gutes Recht. Mason weiß, auf was er sich einlässt.«
Mason war sich da auf einmal gar nicht mehr sicher. Butch hatte ihm versprochen, dass er lebend aus der Sache rauskommen könne – doch was war, wenn ihn Butch nicht mehr beschützte?